so gewesen ist. -- Eintracht und Sitte bedingen und för- dern einander, können aber auch in Conflicte gerathen und ihre Grenzen mannigfach gegen einander verschieben. Sie haben als nothwendigen Inhalt gemein, dass sie durchaus Frieden bedeuten und gebieten, d. i. zunächst (negativ) den zahlreichen Ursachen des Streites entgegenzuwirken, be- stehenden zu schlichten, zu sühnen streben; aber schon von diesen beiden Aufgaben fällt der Eintracht als dem Familien-. Körperschaftsgeiste eher die erste, die andere der Sitte zu; denn in dem engeren, häuslichen Kreise sind freilich durch die fortwährenden und nahen Berührungen alle Arten des Zankes, der Reibung und Hemmung in dem Maasse wahr- scheinlich, als Gleichheit des Alters, der Kräfte, der An- sprüche sich begegnet; aber sie gehen auch, im Wechsel der Affecte und Stimmungen, rascher vorüber, werden leicht bereut und leicht verziehen; weichen auch eher der über- legenen Hand, der hier schlechthin natürlichen Autorität, welche verschiedene Würde auf eine sinnliche und von selbst verständliche Art in sich vereinigt. Je mehr aber solche Würde uneigentlich, blos herkömmlich und durch Denken vermittelt sich darstellt, und d. i. je weiter der Kreis sich ausdehnt und je mehr an die Stelle der ver- wandtschaftlichen Beziehungen die blos nachbarlichen ein- treten, desto seltener vielleicht, aber auch desto tiefer und grimmiger mag Unfrieden werden: aus Uebermuth, Herrsch- und Habsucht, wie aus Hass, Neid, Rachbegierde; und hier muss die Macht der überlieferten Normen, in welchen theils alte, bestätigte Wirklichkeit, theils die aufgehäufte Erfahrung ehemals gefällter Entscheidungen niedergelegt ist, wirksam sein, um die Zwiespalte zu heilen, die durch geschehene Ver- letzung oder durch Anfechtung bestehender Sphäre der Freiheit, des Eigenthums und der Ehre entspringen. Aber Eintracht und Sitte haben auch zusammen eine positive friedliche Richtung; sie bejahen die einzelnen, natürlichen oder durch Gewohnheit begründeten Verhältnisse und machen die freundliche Leistung und Hülfe zur Pflicht; und bringen ursprüngliche oder ideelle Einheit und Har- monie der Gemüther -- Familiengeist mehr auf einen unmittel- baren, Sitte eher auf bildlichen, symbolischen Ausdruck, und
so gewesen ist. — Eintracht und Sitte bedingen und för- dern einander, können aber auch in Conflicte gerathen und ihre Grenzen mannigfach gegen einander verschieben. Sie haben als nothwendigen Inhalt gemein, dass sie durchaus Frieden bedeuten und gebieten, d. i. zunächst (negativ) den zahlreichen Ursachen des Streites entgegenzuwirken, be- stehenden zu schlichten, zu sühnen streben; aber schon von diesen beiden Aufgaben fällt der Eintracht als dem Familien-. Körperschaftsgeiste eher die erste, die andere der Sitte zu; denn in dem engeren, häuslichen Kreise sind freilich durch die fortwährenden und nahen Berührungen alle Arten des Zankes, der Reibung und Hemmung in dem Maasse wahr- scheinlich, als Gleichheit des Alters, der Kräfte, der An- sprüche sich begegnet; aber sie gehen auch, im Wechsel der Affecte und Stimmungen, rascher vorüber, werden leicht bereut und leicht verziehen; weichen auch eher der über- legenen Hand, der hier schlechthin natürlichen Autorität, welche verschiedene Würde auf eine sinnliche und von selbst verständliche Art in sich vereinigt. Je mehr aber solche Würde uneigentlich, blos herkömmlich und durch Denken vermittelt sich darstellt, und d. i. je weiter der Kreis sich ausdehnt und je mehr an die Stelle der ver- wandtschaftlichen Beziehungen die blos nachbarlichen ein- treten, desto seltener vielleicht, aber auch desto tiefer und grimmiger mag Unfrieden werden: aus Uebermuth, Herrsch- und Habsucht, wie aus Hass, Neid, Rachbegierde; und hier muss die Macht der überlieferten Normen, in welchen theils alte, bestätigte Wirklichkeit, theils die aufgehäufte Erfahrung ehemals gefällter Entscheidungen niedergelegt ist, wirksam sein, um die Zwiespalte zu heilen, die durch geschehene Ver- letzung oder durch Anfechtung bestehender Sphäre der Freiheit, des Eigenthums und der Ehre entspringen. Aber Eintracht und Sitte haben auch zusammen eine positive friedliche Richtung; sie bejahen die einzelnen, natürlichen oder durch Gewohnheit begründeten Verhältnisse und machen die freundliche Leistung und Hülfe zur Pflicht; und bringen ursprüngliche oder ideelle Einheit und Har- monie der Gemüther — Familiengeist mehr auf einen unmittel- baren, Sitte eher auf bildlichen, symbolischen Ausdruck, und
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so gewesen ist. — Eintracht und Sitte bedingen und för-
dern einander, können aber auch in Conflicte gerathen und
ihre Grenzen mannigfach gegen einander verschieben. Sie
haben als nothwendigen Inhalt gemein, dass sie durchaus
Frieden bedeuten und gebieten, d. i. zunächst (negativ) den
zahlreichen Ursachen des Streites entgegenzuwirken, be-
stehenden zu schlichten, zu sühnen streben; aber schon von
diesen beiden Aufgaben fällt der Eintracht als dem Familien-.
Körperschaftsgeiste eher die erste, die andere der Sitte zu;
denn in dem engeren, häuslichen Kreise sind freilich durch
die fortwährenden und nahen Berührungen alle Arten des
Zankes, der Reibung und Hemmung in dem Maasse wahr-
scheinlich, als Gleichheit des Alters, der Kräfte, der An-
sprüche sich begegnet; aber sie gehen auch, im Wechsel
der Affecte und Stimmungen, rascher vorüber, werden leicht
bereut und leicht verziehen; weichen auch eher der über-
legenen Hand, der hier schlechthin natürlichen Autorität,
welche verschiedene Würde auf eine sinnliche und von
selbst verständliche Art in sich vereinigt. Je mehr aber
solche Würde uneigentlich, blos herkömmlich und durch
Denken vermittelt sich darstellt, und d. i. je weiter der
Kreis sich ausdehnt und je mehr an die Stelle der ver-
wandtschaftlichen Beziehungen die blos nachbarlichen ein-
treten, desto seltener vielleicht, aber auch desto tiefer und
grimmiger mag Unfrieden werden: aus Uebermuth, Herrsch-
und Habsucht, wie aus Hass, Neid, Rachbegierde; und hier
muss die Macht der überlieferten Normen, in welchen theils
alte, bestätigte Wirklichkeit, theils die aufgehäufte Erfahrung
ehemals gefällter Entscheidungen niedergelegt ist, wirksam
sein, um die Zwiespalte zu heilen, die durch geschehene Ver-
letzung oder durch Anfechtung bestehender Sphäre der
Freiheit, des Eigenthums und der Ehre entspringen. Aber
Eintracht und Sitte haben auch zusammen eine positive
friedliche Richtung; sie bejahen die einzelnen, natürlichen
oder durch Gewohnheit begründeten Verhältnisse und
machen die freundliche Leistung und Hülfe zur Pflicht;
und bringen ursprüngliche oder ideelle Einheit und Har-
monie der Gemüther — Familiengeist mehr auf einen unmittel-
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Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887, S. 252. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/288>, abgerufen am 28.11.2024.
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