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Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887.

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Theiles (eines Individuums oder einer Gattung) die auf Me-
chanik zurückführbaren Gesetze, in welchen es sich verwirk-
licht. Je mehr Wissenschaft einerseits universell wird, an-
dererseits ihre Methoden ausdehnt auf die Organismen, desto
mehr muss sie in diesem Sinne philosophisch werden. Da-
gegen kann auch eine philosophische Naturansicht, deren
Hauptinhalt einfach und nothwendig ist, zu mannigfachen und
relativ-zufälligen Wahrheiten nur hinabführen in dem Maasse,
als sie die Principien der Wissenschaft in sich aufgenommen
hat. Sie muss das Leben und seine Arten an Typen demon-
striren, welche jedoch realen Allgemeinheiten (Ideen) wenigstens
nachgebildet werden, weil alles Leben die Entwicklung des
Allgemeinen zum Besonderen ist.

Alle Wissenschaft und mithin alle Philosophie als
Wissenschaft ist rationalistisch. Ihre Gegenstände sind
Gedankendinge, sind Constructionen. Aber alle Philo-
sophie, mithin Wissenschaft als Philosophie, ist empiris-
tisch
: in dem Verstande nach welchem alles Sein als Wir-
ken, Dasein als Bewegung und die Möglichkeit, Wahrschein-
lichkeit, Nothwendigkeit der Veränderungen als eigentliche
Wirklichkeit aufgefasst werden muss, das Nicht-Seiende (to
me on) als das wahrhaft Seiende, also durch und durch auf
dialektische Weise. Die empiristische und die dialektische
Methode fordern und ergänzen einander. Beide haben es mit
lauter Tendenzen zu thun, sich begegnenden, bekämpfenden,
verbindenden, welche doch zuletzt nur als psychologische Rea-
litäten begriffen werden können oder vielmehr bekannt sind.
Denn da wir den menschlichen Willen als unsern eignen
wissen und die Geschicke des menschlichen Lebens als ein
Ganzes aus solchen Willen, wenn auch in fortwährender und
strenger Bedingtheit durch die übrige Natur, so finden sie erst
in der menschlichen generellen und individuellen Psycho-
logie
ihre Bewährung. Die Thatsachen der generellen Psy-
chologie sind die historische und actuelle Cultur, d. i. mensch-
liches Zusammenleben und seine Werke.

Geschichte für sich allein als eine Sammlung von That-
sachen ist weder Wissenschaft noch Philosophie. Aber sie
ist beides zugleich, sofern in ihr die Lebensgesetze der Mensch-
heit entdeckt werden mögen. Sie ist ein Ganzes von Ereig-

Theiles (eines Individuums oder einer Gattung) die auf Me-
chanik zurückführbaren Gesetze, in welchen es sich verwirk-
licht. Je mehr Wissenschaft einerseits universell wird, an-
dererseits ihre Methoden ausdehnt auf die Organismen, desto
mehr muss sie in diesem Sinne philosophisch werden. Da-
gegen kann auch eine philosophische Naturansicht, deren
Hauptinhalt einfach und nothwendig ist, zu mannigfachen und
relativ-zufälligen Wahrheiten nur hinabführen in dem Maasse,
als sie die Principien der Wissenschaft in sich aufgenommen
hat. Sie muss das Leben und seine Arten an Typen demon-
striren, welche jedoch realen Allgemeinheiten (Ideen) wenigstens
nachgebildet werden, weil alles Leben die Entwicklung des
Allgemeinen zum Besonderen ist.

Alle Wissenschaft und mithin alle Philosophie als
Wissenschaft ist rationalistisch. Ihre Gegenstände sind
Gedankendinge, sind Constructionen. Aber alle Philo-
sophie, mithin Wissenschaft als Philosophie, ist empiris-
tisch
: in dem Verstande nach welchem alles Sein als Wir-
ken, Dasein als Bewegung und die Möglichkeit, Wahrschein-
lichkeit, Nothwendigkeit der Veränderungen als eigentliche
Wirklichkeit aufgefasst werden muss, das Nicht-Seiende (τὸ
μὴ ὄν) als das wahrhaft Seiende, also durch und durch auf
dialektische Weise. Die empiristische und die dialektische
Methode fordern und ergänzen einander. Beide haben es mit
lauter Tendenzen zu thun, sich begegnenden, bekämpfenden,
verbindenden, welche doch zuletzt nur als psychologische Rea-
litäten begriffen werden können oder vielmehr bekannt sind.
Denn da wir den menschlichen Willen als unsern eignen
wissen und die Geschicke des menschlichen Lebens als ein
Ganzes aus solchen Willen, wenn auch in fortwährender und
strenger Bedingtheit durch die übrige Natur, so finden sie erst
in der menschlichen generellen und individuellen Psycho-
logie
ihre Bewährung. Die Thatsachen der generellen Psy-
chologie sind die historische und actuelle Cultur, d. i. mensch-
liches Zusammenleben und seine Werke.

Geschichte für sich allein als eine Sammlung von That-
sachen ist weder Wissenschaft noch Philosophie. Aber sie
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[XXIV/0030] Theiles (eines Individuums oder einer Gattung) die auf Me- chanik zurückführbaren Gesetze, in welchen es sich verwirk- licht. Je mehr Wissenschaft einerseits universell wird, an- dererseits ihre Methoden ausdehnt auf die Organismen, desto mehr muss sie in diesem Sinne philosophisch werden. Da- gegen kann auch eine philosophische Naturansicht, deren Hauptinhalt einfach und nothwendig ist, zu mannigfachen und relativ-zufälligen Wahrheiten nur hinabführen in dem Maasse, als sie die Principien der Wissenschaft in sich aufgenommen hat. Sie muss das Leben und seine Arten an Typen demon- striren, welche jedoch realen Allgemeinheiten (Ideen) wenigstens nachgebildet werden, weil alles Leben die Entwicklung des Allgemeinen zum Besonderen ist. Alle Wissenschaft und mithin alle Philosophie als Wissenschaft ist rationalistisch. Ihre Gegenstände sind Gedankendinge, sind Constructionen. Aber alle Philo- sophie, mithin Wissenschaft als Philosophie, ist empiris- tisch: in dem Verstande nach welchem alles Sein als Wir- ken, Dasein als Bewegung und die Möglichkeit, Wahrschein- lichkeit, Nothwendigkeit der Veränderungen als eigentliche Wirklichkeit aufgefasst werden muss, das Nicht-Seiende (τὸ μὴ ὄν) als das wahrhaft Seiende, also durch und durch auf dialektische Weise. Die empiristische und die dialektische Methode fordern und ergänzen einander. Beide haben es mit lauter Tendenzen zu thun, sich begegnenden, bekämpfenden, verbindenden, welche doch zuletzt nur als psychologische Rea- litäten begriffen werden können oder vielmehr bekannt sind. Denn da wir den menschlichen Willen als unsern eignen wissen und die Geschicke des menschlichen Lebens als ein Ganzes aus solchen Willen, wenn auch in fortwährender und strenger Bedingtheit durch die übrige Natur, so finden sie erst in der menschlichen generellen und individuellen Psycho- logie ihre Bewährung. Die Thatsachen der generellen Psy- chologie sind die historische und actuelle Cultur, d. i. mensch- liches Zusammenleben und seine Werke. Geschichte für sich allein als eine Sammlung von That- sachen ist weder Wissenschaft noch Philosophie. Aber sie ist beides zugleich, sofern in ihr die Lebensgesetze der Mensch- heit entdeckt werden mögen. Sie ist ein Ganzes von Ereig-

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Zitationshilfe: Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887, S. XXIV. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/30>, abgerufen am 21.11.2024.