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Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887.

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zum Verhältnisse zwischen Mutter und Kinde. Was hier das
gegenseitige Gefallen für sich leistet, muss dort durch gegen-
seitige Gewöhnung unterstützt werden. Und wie das ge-
schwisterliche Verhältniss -- daher alle Vetterschaft und die
Verhältnisse relativ gleicher Stufen überhaupt -- zu den
übrigen organisch bedingten; so stellt sich Freundschaft zu
Nachbarschaft und Verwandtschaft. Gedächtniss wirkt als
Dankbarkeit und Treue; und im gegenseitigen Vertrauen
und Glauben an einander muss sich die besondere Wahrheit
solcher Beziehungen kund thun. Weil aber der Grund
derselben nicht mehr so naturwüchsig und von selbst ver-
ständlich ist und die Individuen ihr eigenes Wollen und
Können bestimmter gegen einander wissen und behaupten,
so sind diese Verhältnisse am schwersten zu erhalten und
können Störungen am wenigsten vertragen. Dergleichen
als Zank und Streit fast in jedem Zusammenleben vor-
kommen müssen; denn die dauernde Nähe und Häufigkeit
der Berührungen bedeutet ebensowohl als gegenseitige
Förderung und Bejahung, auch gegenseitige Hemmung und
Verneinung, als reale Möglichkeiten, als Wahrscheinlich-
keiten eines gewissen Grades; und nur so lange als jene
Erscheinungen überwiegen, kann ein Verhältniss als
wirklich gemeinschaftliches angesprochen werden. Hieraus
ist erklärlich, dass zumal solche rein geistige Brüder-
schaften
, vieler Erfahrung nach, nur bis zu einer ge-
wissen Grenze der Häufigkeit und Enge die leibliche Nähe
des eigentlichen Zusammenlebens vertragen können. Sie
müssen vielmehr in einem hohen Masse der individuellen
Freiheit ihr Gegengewicht haben. -- Wie aber innerhalb
der Verwandtschaft alle natürliche Würde sich in der väter-
lichen
zusammenfasst, so bleibt diese als Würde des
Fürsten, auch wo die Nachbarschaft den wesentlichen Grund
des Zusammenhaltens ausmacht, bedeutend. Hier ist sie
mehr durch Macht und Stärke als durch Alter und Er-
zeugung bedingt, und stellt sich am unmittelbarsten in dem
Einflusse eines Herrn auf seine Leute, des Grundbesitzers
auf seine Hintersassen, des Patrones auf seine Hörigen dar.
Endlich: innerhalb der Freundschaft, sofern dieselbe als
gemeinschaftliche Hingabe an denselben Beruf, dieselbe

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zum Verhältnisse zwischen Mutter und Kinde. Was hier das
gegenseitige Gefallen für sich leistet, muss dort durch gegen-
seitige Gewöhnung unterstützt werden. Und wie das ge-
schwisterliche Verhältniss — daher alle Vetterschaft und die
Verhältnisse relativ gleicher Stufen überhaupt — zu den
übrigen organisch bedingten; so stellt sich Freundschaft zu
Nachbarschaft und Verwandtschaft. Gedächtniss wirkt als
Dankbarkeit und Treue; und im gegenseitigen Vertrauen
und Glauben an einander muss sich die besondere Wahrheit
solcher Beziehungen kund thun. Weil aber der Grund
derselben nicht mehr so naturwüchsig und von selbst ver-
ständlich ist und die Individuen ihr eigenes Wollen und
Können bestimmter gegen einander wissen und behaupten,
so sind diese Verhältnisse am schwersten zu erhalten und
können Störungen am wenigsten vertragen. Dergleichen
als Zank und Streit fast in jedem Zusammenleben vor-
kommen müssen; denn die dauernde Nähe und Häufigkeit
der Berührungen bedeutet ebensowohl als gegenseitige
Förderung und Bejahung, auch gegenseitige Hemmung und
Verneinung, als reale Möglichkeiten, als Wahrscheinlich-
keiten eines gewissen Grades; und nur so lange als jene
Erscheinungen überwiegen, kann ein Verhältniss als
wirklich gemeinschaftliches angesprochen werden. Hieraus
ist erklärlich, dass zumal solche rein geistige Brüder-
schaften
, vieler Erfahrung nach, nur bis zu einer ge-
wissen Grenze der Häufigkeit und Enge die leibliche Nähe
des eigentlichen Zusammenlebens vertragen können. Sie
müssen vielmehr in einem hohen Masse der individuellen
Freiheit ihr Gegengewicht haben. — Wie aber innerhalb
der Verwandtschaft alle natürliche Würde sich in der väter-
lichen
zusammenfasst, so bleibt diese als Würde des
Fürsten, auch wo die Nachbarschaft den wesentlichen Grund
des Zusammenhaltens ausmacht, bedeutend. Hier ist sie
mehr durch Macht und Stärke als durch Alter und Er-
zeugung bedingt, und stellt sich am unmittelbarsten in dem
Einflusse eines Herrn auf seine Leute, des Grundbesitzers
auf seine Hintersassen, des Patrones auf seine Hörigen dar.
Endlich: innerhalb der Freundschaft, sofern dieselbe als
gemeinschaftliche Hingabe an denselben Beruf, dieselbe

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[19/0055] zum Verhältnisse zwischen Mutter und Kinde. Was hier das gegenseitige Gefallen für sich leistet, muss dort durch gegen- seitige Gewöhnung unterstützt werden. Und wie das ge- schwisterliche Verhältniss — daher alle Vetterschaft und die Verhältnisse relativ gleicher Stufen überhaupt — zu den übrigen organisch bedingten; so stellt sich Freundschaft zu Nachbarschaft und Verwandtschaft. Gedächtniss wirkt als Dankbarkeit und Treue; und im gegenseitigen Vertrauen und Glauben an einander muss sich die besondere Wahrheit solcher Beziehungen kund thun. Weil aber der Grund derselben nicht mehr so naturwüchsig und von selbst ver- ständlich ist und die Individuen ihr eigenes Wollen und Können bestimmter gegen einander wissen und behaupten, so sind diese Verhältnisse am schwersten zu erhalten und können Störungen am wenigsten vertragen. Dergleichen als Zank und Streit fast in jedem Zusammenleben vor- kommen müssen; denn die dauernde Nähe und Häufigkeit der Berührungen bedeutet ebensowohl als gegenseitige Förderung und Bejahung, auch gegenseitige Hemmung und Verneinung, als reale Möglichkeiten, als Wahrscheinlich- keiten eines gewissen Grades; und nur so lange als jene Erscheinungen überwiegen, kann ein Verhältniss als wirklich gemeinschaftliches angesprochen werden. Hieraus ist erklärlich, dass zumal solche rein geistige Brüder- schaften, vieler Erfahrung nach, nur bis zu einer ge- wissen Grenze der Häufigkeit und Enge die leibliche Nähe des eigentlichen Zusammenlebens vertragen können. Sie müssen vielmehr in einem hohen Masse der individuellen Freiheit ihr Gegengewicht haben. — Wie aber innerhalb der Verwandtschaft alle natürliche Würde sich in der väter- lichen zusammenfasst, so bleibt diese als Würde des Fürsten, auch wo die Nachbarschaft den wesentlichen Grund des Zusammenhaltens ausmacht, bedeutend. Hier ist sie mehr durch Macht und Stärke als durch Alter und Er- zeugung bedingt, und stellt sich am unmittelbarsten in dem Einflusse eines Herrn auf seine Leute, des Grundbesitzers auf seine Hintersassen, des Patrones auf seine Hörigen dar. Endlich: innerhalb der Freundschaft, sofern dieselbe als gemeinschaftliche Hingabe an denselben Beruf, dieselbe 2*

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Zitationshilfe: Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887, S. 19. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/55>, abgerufen am 24.11.2024.