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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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Die neue Literatur.
Kinder Gottes und flüchten aus der jämmerlichen Wirklichkeit in die reine
Welt der Ideale. Große Talente geben den Ton an, hundert begeisterte
Stimmen fallen ein in vollem Chore. Ein Jeder redet wie es ihm um's
Herz ist, und befolgt getrosten Muthes die frohe Botschaft des jungen
Goethe: "denn es ist Drang, und so ist's Pflicht!" und setzt seine volle
Kraft ein, als ob das Schaffen des Denkers und des Dichters allein auf
der weiten Welt des freien Mannes würdig wäre, und lebt sich fröhlich
aus, wenig bekümmert um den Lohn der Arbeit, ganz verloren im Dichten,
Schauen und Forschen, beglückt durch den überströmenden Beifall warm-
herziger Freude, glücklicher noch durch das Bewußtsein das Göttliche
geschaut zu haben.

So haben seit dem Jahre 1750 etwa drei Generationen deutscher
Männer, neben und nach einander wirkend und oft in leidenschaft-
lichem Kampfe mit einander ringend, die jüngste der großen Litera-
turen Europas geschaffen, die, selber vom Auslande lange kaum be-
merkt, unendlich empfänglich den dauernden Gehalt der classischen
Dichtung Englands und Frankreichs, Spaniens und Italiens in sich zu-
sammenfaßte und schöpferisch neu gestaltete um schließlich in dem viel-
seitigsten aller Dichter, in Goethe, ihre Vollendung zu finden. Es war
eine Bewegung so völlig frei, so ganz aus dem innersten Drange des
übervollen Herzens heraus, daß sie zuletzt bei dem verwegenen Idealis-
mus Fichtes anlangen mußte, der den sittlichen Willen als das einzig
Wirkliche, die gesammte Außenwelt nur als eine Schöpfung des denkenden
Ich ansah; und doch ein nothwendiges natürliches Werden. Die schöpfe-
rische Kraft des deutschen Geistes hatte lange gleich einer Puppe schlummernd
in zarter Schale gelegen, und ihr geschah, wie der Dichter sagte: "Es
kommt die Zeit, sie drängt sich selber los, und eilt auf Fittichen der Rose
in den Schooß." Ein lauterer Ehrgeiz, der das Wahre suchte um der
Wahrheit, das Schöne um der Schönheit willen, ward in den hellen
Köpfen der deutschen Jugend lebendig. Keine der modernen Nationen
hat jemals so in vollem Ernst, mit so ungetheilter Hingebung in die
Welt der Ideen sich versenkt, keine zählt unter den Talenten ihrer classischen
Literatur so viele reine, menschlich liebenswerthe Charaktere; darum wird
das Gedächtniß der Tage von Weimar unserem Volke in allen Zeiten,
da sein Gestirn sich zu verdunkeln scheint, ein unerschöpflicher Quell des
Trostes und der Hoffnung bleiben. Die Kunst und Wissenschaft ward
den Deutschen zur Herzenssache, sie ist hier niemals, wie einst bei den
Romanen, ein elegantes Spiel, ein Zeitvertreib für die müßigen Stunden
der vornehmen Welt geworden. Nicht die Höfe erzogen unsere Literatur,
sondern die aus dem freien Schaffen der Nation entstandene neue Bildung
unterwarf sich die Höfe, befreite sie von der Unnatur ausländischer Sitten,
gewann sie nach und nach für eine mildere, menschlichere Gesittung.

Und diese neue Bildung war deutsch von Grund aus. Während das

Die neue Literatur.
Kinder Gottes und flüchten aus der jämmerlichen Wirklichkeit in die reine
Welt der Ideale. Große Talente geben den Ton an, hundert begeiſterte
Stimmen fallen ein in vollem Chore. Ein Jeder redet wie es ihm um’s
Herz iſt, und befolgt getroſten Muthes die frohe Botſchaft des jungen
Goethe: „denn es iſt Drang, und ſo iſt’s Pflicht!“ und ſetzt ſeine volle
Kraft ein, als ob das Schaffen des Denkers und des Dichters allein auf
der weiten Welt des freien Mannes würdig wäre, und lebt ſich fröhlich
aus, wenig bekümmert um den Lohn der Arbeit, ganz verloren im Dichten,
Schauen und Forſchen, beglückt durch den überſtrömenden Beifall warm-
herziger Freude, glücklicher noch durch das Bewußtſein das Göttliche
geſchaut zu haben.

So haben ſeit dem Jahre 1750 etwa drei Generationen deutſcher
Männer, neben und nach einander wirkend und oft in leidenſchaft-
lichem Kampfe mit einander ringend, die jüngſte der großen Litera-
turen Europas geſchaffen, die, ſelber vom Auslande lange kaum be-
merkt, unendlich empfänglich den dauernden Gehalt der claſſiſchen
Dichtung Englands und Frankreichs, Spaniens und Italiens in ſich zu-
ſammenfaßte und ſchöpferiſch neu geſtaltete um ſchließlich in dem viel-
ſeitigſten aller Dichter, in Goethe, ihre Vollendung zu finden. Es war
eine Bewegung ſo völlig frei, ſo ganz aus dem innerſten Drange des
übervollen Herzens heraus, daß ſie zuletzt bei dem verwegenen Idealis-
mus Fichtes anlangen mußte, der den ſittlichen Willen als das einzig
Wirkliche, die geſammte Außenwelt nur als eine Schöpfung des denkenden
Ich anſah; und doch ein nothwendiges natürliches Werden. Die ſchöpfe-
riſche Kraft des deutſchen Geiſtes hatte lange gleich einer Puppe ſchlummernd
in zarter Schale gelegen, und ihr geſchah, wie der Dichter ſagte: „Es
kommt die Zeit, ſie drängt ſich ſelber los, und eilt auf Fittichen der Roſe
in den Schooß.“ Ein lauterer Ehrgeiz, der das Wahre ſuchte um der
Wahrheit, das Schöne um der Schönheit willen, ward in den hellen
Köpfen der deutſchen Jugend lebendig. Keine der modernen Nationen
hat jemals ſo in vollem Ernſt, mit ſo ungetheilter Hingebung in die
Welt der Ideen ſich verſenkt, keine zählt unter den Talenten ihrer claſſiſchen
Literatur ſo viele reine, menſchlich liebenswerthe Charaktere; darum wird
das Gedächtniß der Tage von Weimar unſerem Volke in allen Zeiten,
da ſein Geſtirn ſich zu verdunkeln ſcheint, ein unerſchöpflicher Quell des
Troſtes und der Hoffnung bleiben. Die Kunſt und Wiſſenſchaft ward
den Deutſchen zur Herzensſache, ſie iſt hier niemals, wie einſt bei den
Romanen, ein elegantes Spiel, ein Zeitvertreib für die müßigen Stunden
der vornehmen Welt geworden. Nicht die Höfe erzogen unſere Literatur,
ſondern die aus dem freien Schaffen der Nation entſtandene neue Bildung
unterwarf ſich die Höfe, befreite ſie von der Unnatur ausländiſcher Sitten,
gewann ſie nach und nach für eine mildere, menſchlichere Geſittung.

Und dieſe neue Bildung war deutſch von Grund aus. Während das

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[87/0103] Die neue Literatur. Kinder Gottes und flüchten aus der jämmerlichen Wirklichkeit in die reine Welt der Ideale. Große Talente geben den Ton an, hundert begeiſterte Stimmen fallen ein in vollem Chore. Ein Jeder redet wie es ihm um’s Herz iſt, und befolgt getroſten Muthes die frohe Botſchaft des jungen Goethe: „denn es iſt Drang, und ſo iſt’s Pflicht!“ und ſetzt ſeine volle Kraft ein, als ob das Schaffen des Denkers und des Dichters allein auf der weiten Welt des freien Mannes würdig wäre, und lebt ſich fröhlich aus, wenig bekümmert um den Lohn der Arbeit, ganz verloren im Dichten, Schauen und Forſchen, beglückt durch den überſtrömenden Beifall warm- herziger Freude, glücklicher noch durch das Bewußtſein das Göttliche geſchaut zu haben. So haben ſeit dem Jahre 1750 etwa drei Generationen deutſcher Männer, neben und nach einander wirkend und oft in leidenſchaft- lichem Kampfe mit einander ringend, die jüngſte der großen Litera- turen Europas geſchaffen, die, ſelber vom Auslande lange kaum be- merkt, unendlich empfänglich den dauernden Gehalt der claſſiſchen Dichtung Englands und Frankreichs, Spaniens und Italiens in ſich zu- ſammenfaßte und ſchöpferiſch neu geſtaltete um ſchließlich in dem viel- ſeitigſten aller Dichter, in Goethe, ihre Vollendung zu finden. Es war eine Bewegung ſo völlig frei, ſo ganz aus dem innerſten Drange des übervollen Herzens heraus, daß ſie zuletzt bei dem verwegenen Idealis- mus Fichtes anlangen mußte, der den ſittlichen Willen als das einzig Wirkliche, die geſammte Außenwelt nur als eine Schöpfung des denkenden Ich anſah; und doch ein nothwendiges natürliches Werden. Die ſchöpfe- riſche Kraft des deutſchen Geiſtes hatte lange gleich einer Puppe ſchlummernd in zarter Schale gelegen, und ihr geſchah, wie der Dichter ſagte: „Es kommt die Zeit, ſie drängt ſich ſelber los, und eilt auf Fittichen der Roſe in den Schooß.“ Ein lauterer Ehrgeiz, der das Wahre ſuchte um der Wahrheit, das Schöne um der Schönheit willen, ward in den hellen Köpfen der deutſchen Jugend lebendig. Keine der modernen Nationen hat jemals ſo in vollem Ernſt, mit ſo ungetheilter Hingebung in die Welt der Ideen ſich verſenkt, keine zählt unter den Talenten ihrer claſſiſchen Literatur ſo viele reine, menſchlich liebenswerthe Charaktere; darum wird das Gedächtniß der Tage von Weimar unſerem Volke in allen Zeiten, da ſein Geſtirn ſich zu verdunkeln ſcheint, ein unerſchöpflicher Quell des Troſtes und der Hoffnung bleiben. Die Kunſt und Wiſſenſchaft ward den Deutſchen zur Herzensſache, ſie iſt hier niemals, wie einſt bei den Romanen, ein elegantes Spiel, ein Zeitvertreib für die müßigen Stunden der vornehmen Welt geworden. Nicht die Höfe erzogen unſere Literatur, ſondern die aus dem freien Schaffen der Nation entſtandene neue Bildung unterwarf ſich die Höfe, befreite ſie von der Unnatur ausländiſcher Sitten, gewann ſie nach und nach für eine mildere, menſchlichere Geſittung. Und dieſe neue Bildung war deutſch von Grund aus. Während das

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 87. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/103>, abgerufen am 24.11.2024.