inmitten der Höchstgebildeten des deutschen Volkes die reine Waldluft eines ursprünglichen Menschenlebens zu trinken und athmete wieder auf von dem Dunst und dem Staube ihrer heimischen Weltstadt. Und wie es das Recht des Jünglings ist Unendliches zu versprechen, nach allen Kränzen des Ruhmes zugleich die Hände auszustrecken, so zeigte auch die deutsche Nation in jenem zweiten Jugendalter ihrer Dichtung ein wunder- bar vielseitiges Streben, sie war unermüdlich im Aufwerfen neuer Pro- bleme, im Erfinden neuer Kunstformen, versuchte ihre Kraft an allen Wissenschaften zugleich, mit einziger Ausnahme der Politik.
Freilich waren mit dieser eigenthümlichen Entstehung unserer neuen Literatur auch ihre Schwächen gegeben. Da der Dichter hier nicht unmittel- bar aus den großen Leidenschaften eines bewegten öffentlichen Lebens seine Stoffe schöpfen konnte, so gewann die Kritik ein Uebergewicht, das der unbefangenen künstlerischen Schöpferkraft oft gefährlich wurde; die meisten dramatischen Helden unserer classischen Kunst zeigen einen kränklichen Zug der Entsagung, der Thatenscheu. Die regellose Freiheit des Schaffens ver- führte die Poeten leicht zu willkürlichen Einfällen, zu gesuchter Künstelei, zu vielverheißenden Anläufen, die keinen Fortgang fanden, und es ist kein Zufall, daß der erste unserer Dichter unter allen großen Künstlern der Geschichte die meisten Fragmente hinterlassen hat. Die eigenartige Bega- bung durfte sich noch ungestört ausleben in ursprünglicher Kraft, ward noch nicht durch das politische Parteileben über einen Kamm geschoren; stürmisch war die Liebe, zärtlich die Freundschaft, überschwänglich der Ausdruck jeder Empfindung; eine beneidenswerth gedankenreiche Geselligkeit erzog einzelne Männer von allseitiger Bildung, wie sie seit den Tagen des Cinquecento der europäischen Welt nicht wieder erschienen waren. Doch mit der Eigenart entfaltete sich auch die Unart der freien Persönlichkeit in der Stille dieses rein privaten Lebens. "Lieben, hassen, fürchten, zittern, hoffen, zagen bis ins Mark" -- so hieß das Losungswort der neuen Stürmer und Dränger; ein unbändiges Selbstgefühl, ein himmelstürmender Trotz ward in dem jungen Geschlechte rege, wunderlich abstechend von der Unfreiheit der öffentlichen Zustände. Unberechenbare Launen, persönlicher Haß und per- sönliche Neigung traten anmaßend auf den Markt hinaus; viele Werke jener Epoche sind schon heute nur dem verständlich, der die Briefe und Tage- bücher ihrer Dichter kennt.
Eine Literatur von solchem Ursprung und Charakter konnte nicht im vollen Sinne volksthümlich werden, konnte nur langsam und mittelbar auf die Massen wirken. Während die Gebildeten an den reinen Formen der Antike sich begeisterten, blieb das Schönheitsgefühl der Volksmassen, obgleich sie bessere Schulbildung genossen als ihre romanischen Nachbarn, weit stum- pfer als in Frankreich und Italien. Eine leidliche Durchbildung des Formen- sinnes ist diesem nordischen Volke nur einmal beschieden gewesen: in den Tagen der Staufer, da die Pfalzen und Dome des spätromanischen Stils
Charakter der neuen Bildung.
inmitten der Höchſtgebildeten des deutſchen Volkes die reine Waldluft eines urſprünglichen Menſchenlebens zu trinken und athmete wieder auf von dem Dunſt und dem Staube ihrer heimiſchen Weltſtadt. Und wie es das Recht des Jünglings iſt Unendliches zu verſprechen, nach allen Kränzen des Ruhmes zugleich die Hände auszuſtrecken, ſo zeigte auch die deutſche Nation in jenem zweiten Jugendalter ihrer Dichtung ein wunder- bar vielſeitiges Streben, ſie war unermüdlich im Aufwerfen neuer Pro- bleme, im Erfinden neuer Kunſtformen, verſuchte ihre Kraft an allen Wiſſenſchaften zugleich, mit einziger Ausnahme der Politik.
Freilich waren mit dieſer eigenthümlichen Entſtehung unſerer neuen Literatur auch ihre Schwächen gegeben. Da der Dichter hier nicht unmittel- bar aus den großen Leidenſchaften eines bewegten öffentlichen Lebens ſeine Stoffe ſchöpfen konnte, ſo gewann die Kritik ein Uebergewicht, das der unbefangenen künſtleriſchen Schöpferkraft oft gefährlich wurde; die meiſten dramatiſchen Helden unſerer claſſiſchen Kunſt zeigen einen kränklichen Zug der Entſagung, der Thatenſcheu. Die regelloſe Freiheit des Schaffens ver- führte die Poeten leicht zu willkürlichen Einfällen, zu geſuchter Künſtelei, zu vielverheißenden Anläufen, die keinen Fortgang fanden, und es iſt kein Zufall, daß der erſte unſerer Dichter unter allen großen Künſtlern der Geſchichte die meiſten Fragmente hinterlaſſen hat. Die eigenartige Bega- bung durfte ſich noch ungeſtört ausleben in urſprünglicher Kraft, ward noch nicht durch das politiſche Parteileben über einen Kamm geſchoren; ſtürmiſch war die Liebe, zärtlich die Freundſchaft, überſchwänglich der Ausdruck jeder Empfindung; eine beneidenswerth gedankenreiche Geſelligkeit erzog einzelne Männer von allſeitiger Bildung, wie ſie ſeit den Tagen des Cinquecento der europäiſchen Welt nicht wieder erſchienen waren. Doch mit der Eigenart entfaltete ſich auch die Unart der freien Perſönlichkeit in der Stille dieſes rein privaten Lebens. „Lieben, haſſen, fürchten, zittern, hoffen, zagen bis ins Mark“ — ſo hieß das Loſungswort der neuen Stürmer und Dränger; ein unbändiges Selbſtgefühl, ein himmelſtürmender Trotz ward in dem jungen Geſchlechte rege, wunderlich abſtechend von der Unfreiheit der öffentlichen Zuſtände. Unberechenbare Launen, perſönlicher Haß und per- ſönliche Neigung traten anmaßend auf den Markt hinaus; viele Werke jener Epoche ſind ſchon heute nur dem verſtändlich, der die Briefe und Tage- bücher ihrer Dichter kennt.
Eine Literatur von ſolchem Urſprung und Charakter konnte nicht im vollen Sinne volksthümlich werden, konnte nur langſam und mittelbar auf die Maſſen wirken. Während die Gebildeten an den reinen Formen der Antike ſich begeiſterten, blieb das Schönheitsgefühl der Volksmaſſen, obgleich ſie beſſere Schulbildung genoſſen als ihre romaniſchen Nachbarn, weit ſtum- pfer als in Frankreich und Italien. Eine leidliche Durchbildung des Formen- ſinnes iſt dieſem nordiſchen Volke nur einmal beſchieden geweſen: in den Tagen der Staufer, da die Pfalzen und Dome des ſpätromaniſchen Stils
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Charakter der neuen Bildung.
inmitten der Höchſtgebildeten des deutſchen Volkes die reine Waldluft
eines urſprünglichen Menſchenlebens zu trinken und athmete wieder auf
von dem Dunſt und dem Staube ihrer heimiſchen Weltſtadt. Und wie
es das Recht des Jünglings iſt Unendliches zu verſprechen, nach allen
Kränzen des Ruhmes zugleich die Hände auszuſtrecken, ſo zeigte auch die
deutſche Nation in jenem zweiten Jugendalter ihrer Dichtung ein wunder-
bar vielſeitiges Streben, ſie war unermüdlich im Aufwerfen neuer Pro-
bleme, im Erfinden neuer Kunſtformen, verſuchte ihre Kraft an allen
Wiſſenſchaften zugleich, mit einziger Ausnahme der Politik.
Freilich waren mit dieſer eigenthümlichen Entſtehung unſerer neuen
Literatur auch ihre Schwächen gegeben. Da der Dichter hier nicht unmittel-
bar aus den großen Leidenſchaften eines bewegten öffentlichen Lebens ſeine
Stoffe ſchöpfen konnte, ſo gewann die Kritik ein Uebergewicht, das der
unbefangenen künſtleriſchen Schöpferkraft oft gefährlich wurde; die meiſten
dramatiſchen Helden unſerer claſſiſchen Kunſt zeigen einen kränklichen Zug
der Entſagung, der Thatenſcheu. Die regelloſe Freiheit des Schaffens ver-
führte die Poeten leicht zu willkürlichen Einfällen, zu geſuchter Künſtelei,
zu vielverheißenden Anläufen, die keinen Fortgang fanden, und es iſt
kein Zufall, daß der erſte unſerer Dichter unter allen großen Künſtlern der
Geſchichte die meiſten Fragmente hinterlaſſen hat. Die eigenartige Bega-
bung durfte ſich noch ungeſtört ausleben in urſprünglicher Kraft, ward noch
nicht durch das politiſche Parteileben über einen Kamm geſchoren; ſtürmiſch
war die Liebe, zärtlich die Freundſchaft, überſchwänglich der Ausdruck jeder
Empfindung; eine beneidenswerth gedankenreiche Geſelligkeit erzog einzelne
Männer von allſeitiger Bildung, wie ſie ſeit den Tagen des Cinquecento
der europäiſchen Welt nicht wieder erſchienen waren. Doch mit der Eigenart
entfaltete ſich auch die Unart der freien Perſönlichkeit in der Stille dieſes
rein privaten Lebens. „Lieben, haſſen, fürchten, zittern, hoffen, zagen bis
ins Mark“ — ſo hieß das Loſungswort der neuen Stürmer und Dränger;
ein unbändiges Selbſtgefühl, ein himmelſtürmender Trotz ward in dem
jungen Geſchlechte rege, wunderlich abſtechend von der Unfreiheit der
öffentlichen Zuſtände. Unberechenbare Launen, perſönlicher Haß und per-
ſönliche Neigung traten anmaßend auf den Markt hinaus; viele Werke
jener Epoche ſind ſchon heute nur dem verſtändlich, der die Briefe und Tage-
bücher ihrer Dichter kennt.
Eine Literatur von ſolchem Urſprung und Charakter konnte nicht im
vollen Sinne volksthümlich werden, konnte nur langſam und mittelbar auf
die Maſſen wirken. Während die Gebildeten an den reinen Formen der
Antike ſich begeiſterten, blieb das Schönheitsgefühl der Volksmaſſen, obgleich
ſie beſſere Schulbildung genoſſen als ihre romaniſchen Nachbarn, weit ſtum-
pfer als in Frankreich und Italien. Eine leidliche Durchbildung des Formen-
ſinnes iſt dieſem nordiſchen Volke nur einmal beſchieden geweſen: in den
Tagen der Staufer, da die Pfalzen und Dome des ſpätromaniſchen Stils
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 89. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/105>, abgerufen am 24.11.2024.
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