Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.I. 1. Deutschland nach dem Westphälischen Frieden. Reichthums wieder; sie zeigte auch eine ungeahnte bildsame Weichheit undSchmiegsamkeit. Sie allein unter den neuen Cultursprachen erwies sich fähig, alle Versmaße der Hellenen treu und lebendig nachzubilden; sie wurde allmählich, seit der Vossische Homer den Weg gewiesen, die erste Uebersetzersprache der Welt, bot den Gestalten der Dichtung aller Völker und Zeiten gastfreundlich eine zweite Heimath. Und diese reizbare Empfänglichkeit war doch nicht unselbständige Schwäche: die deutschen Jünger des Alterthums standen dem classischen Ideale innerlich frei gegenüber, sie ließen sich nicht, wie einst die Humanisten am Ausgang des fünfzehnten Jahrhunderts, durch die sittlichen Anschauungen der an- tiken Welt in der festen Führung des eigenen Lebens beirren. Winkel- mann selber freilich erinnert in manchem Zuge an die unbefangenen Heiden des Cinquecento; aber die Mehrzahl der Dichter und Denker, die seinen Spuren folgten, blieb deutsch, nahm von hellenischer Bildung nur an was deutschem Wesen zusagte, und das Gedicht, das unter allen Werken der modernen Kunst dem Geiste des Alterthums am nächsten kam, Goethes Iphigenie, ward doch durchweht von einem Sinne liebevoller Milde, den die Herzenshärtigkeit der Heiden nie verstanden hätte. Unabhängig von diesen beiden Richtungen, aber einig mit ihnen I. 1. Deutſchland nach dem Weſtphäliſchen Frieden. Reichthums wieder; ſie zeigte auch eine ungeahnte bildſame Weichheit undSchmiegſamkeit. Sie allein unter den neuen Culturſprachen erwies ſich fähig, alle Versmaße der Hellenen treu und lebendig nachzubilden; ſie wurde allmählich, ſeit der Voſſiſche Homer den Weg gewieſen, die erſte Ueberſetzerſprache der Welt, bot den Geſtalten der Dichtung aller Völker und Zeiten gaſtfreundlich eine zweite Heimath. Und dieſe reizbare Empfänglichkeit war doch nicht unſelbſtändige Schwäche: die deutſchen Jünger des Alterthums ſtanden dem claſſiſchen Ideale innerlich frei gegenüber, ſie ließen ſich nicht, wie einſt die Humaniſten am Ausgang des fünfzehnten Jahrhunderts, durch die ſittlichen Anſchauungen der an- tiken Welt in der feſten Führung des eigenen Lebens beirren. Winkel- mann ſelber freilich erinnert in manchem Zuge an die unbefangenen Heiden des Cinquecento; aber die Mehrzahl der Dichter und Denker, die ſeinen Spuren folgten, blieb deutſch, nahm von helleniſcher Bildung nur an was deutſchem Weſen zuſagte, und das Gedicht, das unter allen Werken der modernen Kunſt dem Geiſte des Alterthums am nächſten kam, Goethes Iphigenie, ward doch durchweht von einem Sinne liebevoller Milde, den die Herzenshärtigkeit der Heiden nie verſtanden hätte. Unabhängig von dieſen beiden Richtungen, aber einig mit ihnen <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0112" n="96"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">I.</hi> 1. Deutſchland nach dem Weſtphäliſchen Frieden.</fw><lb/> Reichthums wieder; ſie zeigte auch eine ungeahnte bildſame Weichheit und<lb/> Schmiegſamkeit. Sie allein unter den neuen Culturſprachen erwies ſich<lb/> fähig, alle Versmaße der Hellenen treu und lebendig nachzubilden; ſie<lb/> wurde allmählich, ſeit der Voſſiſche Homer den Weg gewieſen, die erſte<lb/> Ueberſetzerſprache der Welt, bot den Geſtalten der Dichtung aller Völker<lb/> und Zeiten gaſtfreundlich eine zweite Heimath. 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Leſſings Kritik wies die deutſchen<lb/> Poeten von der höfiſchen Dichtung der Bourbonen hinweg zu dem recht<lb/> verſtandenen Ariſtoteles, zu den einfachen Vorbildern der antiken Kunſt<lb/> und lehrte ſie die naturgetreue Wahrheit über alle erklügelten Regeln<lb/> zu ſtellen. Sie zeigte ihnen in Shakeſpeares Dramatik einen Quell<lb/> urſprünglichen germaniſchen Lebens, der ein Jungbrunnen wurde für<lb/> die deutſche Kunſt; der Dichter des fröhlichen alten Englands fand bei<lb/> dem weltlich freien Sinne der Deutſchen bald ein tieferes Verſtändniß,<lb/> als in ſeinem eigenen, durch das Puritanerthum ernüchterten Vaterlande.<lb/> Leſſing vor Allen hat das neue Publicum erzogen; er wurde der erſte<lb/> deutſche Literat, der Erſte, der durch ſeine perſönliche Würde den Beruf des<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [96/0112]
I. 1. Deutſchland nach dem Weſtphäliſchen Frieden.
Reichthums wieder; ſie zeigte auch eine ungeahnte bildſame Weichheit und
Schmiegſamkeit. Sie allein unter den neuen Culturſprachen erwies ſich
fähig, alle Versmaße der Hellenen treu und lebendig nachzubilden; ſie
wurde allmählich, ſeit der Voſſiſche Homer den Weg gewieſen, die erſte
Ueberſetzerſprache der Welt, bot den Geſtalten der Dichtung aller Völker
und Zeiten gaſtfreundlich eine zweite Heimath. Und dieſe reizbare
Empfänglichkeit war doch nicht unſelbſtändige Schwäche: die deutſchen
Jünger des Alterthums ſtanden dem claſſiſchen Ideale innerlich frei
gegenüber, ſie ließen ſich nicht, wie einſt die Humaniſten am Ausgang
des fünfzehnten Jahrhunderts, durch die ſittlichen Anſchauungen der an-
tiken Welt in der feſten Führung des eigenen Lebens beirren. Winkel-
mann ſelber freilich erinnert in manchem Zuge an die unbefangenen
Heiden des Cinquecento; aber die Mehrzahl der Dichter und Denker, die
ſeinen Spuren folgten, blieb deutſch, nahm von helleniſcher Bildung nur
an was deutſchem Weſen zuſagte, und das Gedicht, das unter allen
Werken der modernen Kunſt dem Geiſte des Alterthums am nächſten
kam, Goethes Iphigenie, ward doch durchweht von einem Sinne liebevoller
Milde, den die Herzenshärtigkeit der Heiden nie verſtanden hätte.
Unabhängig von dieſen beiden Richtungen, aber einig mit ihnen
in dem Kampfe für das Recht des freien Künſtlergeiſtes, ging Leſſing
ſeinen Weg; der productivſte Kritiker aller Zeiten, ſtand er zu Klopſtocks
pathetiſcher Ueberſchwänglichkeit, wie einſt Pufendorf und Thomaſius zu
dem Pietismus geſtanden hatten, ablehnend zugleich und ergänzend.
Seiner ſchöpferiſchen Kritik gelang, was der Enthuſiasmus der neuen
Lyrik allein nie vermocht hätte, die geſpreizte Unnatur der Gottſchediſchen
Verskunſt für immer zu vernichten, die Zwittergattung der Lehrgedichte
vom deutſchen Parnaß zu vertreiben, die Nation zu befreien von dem
Joche der Kunſtregeln Boileaus; und ſo wenig wir dem Manne, der
den Patriotismus für eine heroiſche Schwachheit erklärte, das bewußte
vaterländiſche Gefühl unſerer Tage andichten dürfen, durch jene mächtigen
Streitſchriften, welche die Dramen Voltaires dem Gelächter der Deutſchen
preisgaben, geht doch derſelbe große Zug erſtarkenden nationalen Lebens
wie durch Friedrichs Heldenlaufbahn. Leſſings Kritik wies die deutſchen
Poeten von der höfiſchen Dichtung der Bourbonen hinweg zu dem recht
verſtandenen Ariſtoteles, zu den einfachen Vorbildern der antiken Kunſt
und lehrte ſie die naturgetreue Wahrheit über alle erklügelten Regeln
zu ſtellen. Sie zeigte ihnen in Shakeſpeares Dramatik einen Quell
urſprünglichen germaniſchen Lebens, der ein Jungbrunnen wurde für
die deutſche Kunſt; der Dichter des fröhlichen alten Englands fand bei
dem weltlich freien Sinne der Deutſchen bald ein tieferes Verſtändniß,
als in ſeinem eigenen, durch das Puritanerthum ernüchterten Vaterlande.
Leſſing vor Allen hat das neue Publicum erzogen; er wurde der erſte
deutſche Literat, der Erſte, der durch ſeine perſönliche Würde den Beruf des
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