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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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Friedrich Wilhelm II.
die erdrückende Größe des alten Helden von hinnen ging; aufrichtiger Jubel
begrüßte den Vielgeliebten, der so traulich und warmherzig mit seinem Volke
verkehrte. Wieder wie in den Tagen Friedrichs I. rühmte man die inepui-
sablen Hände des Königs, und noch lange ging im Lande die Rede von
den Geschenken und Adelsbriefen des großen Gnadenjahres 1786. Manche
Härten des fridericianischen Regiments wurden beseitigt: die verhaßte
Regie fiel, die Werbeoffiziere empfingen "zum Besten der Menschheit"
die Weisung, ihr hartes Handwerk mit Mäßigung zu betreiben. Doch im
Wesentlichen blieb die alte Verwaltung unverändert, nur daß jetzt der
Herrschergeist fehlte, der sie zu beseelen verstanden. Das Heerwesen sank
unter greisenhaften Führern; den Veteranen, die noch die Kränze der
sieben Jahre um die Stirn trugen, wagte der König nicht den Abschied zu
geben. Die philanthropischen Ideen des Zeitalters und eine wohlmeinend
schwächliche Nachgiebigkeit gegen die bürgerlichen Interessen entfremdeten
den Staat der spartanischen Strenge Friedrich Wilhelms I.: durch das
Cantonreglement von 1792 wurde zwar der altpreußische Grundsatz der
allgemeinen Wehrpflicht nochmals als Regel verkündigt, aber zugleich die
Ueberzahl der früherhin zugestandenen Ausnahmen gesetzlich anerkannt und
erweitert, also daß der Waffendienst fast ausschließlich die Bauernsöhne
belastete.

Der lebenslustige Hof blieb von wüster Verschwendung weit ent-
fernt: die Hofstaats-Kasse, die jetzt auch an Künstler und Gelehrte er-
hebliche Unterstützungen gab, brauchte im jährlichen Durchschnitt blos
580,000 Thaler -- nicht mehr als unter Friedrich Wilhelms sparsamem
Nachfolger. Der unwirthschaftliche Sinn des Königs zeigte sich nur in
dem leichtsinnigen Verschenken der Staatsgüter; und noch verderblicher
wurde, daß seine Gutmüthigkeit sich nicht entschließen konnte, anstatt der
aufgehobenen drückenden Abgaben rechtzeitig neue, gerechter vertheilte
Steuern aufzulegen. Die Ueberschüsse, deren dieser Staatshaushalt nicht
entbehren konnte, geriethen bald ins Stocken. Es fehlte der Muth, die
schweren Hindernisse zu überwinden, welche die ständische Verfassung jeder
Erhöhung der Steuerlast entgegenstellte; der König rühmte sich gern
der Erleichterungen, die er seinem geliebten Volke gebracht habe. Als
eine Mobilmachung und zwei Feldzüge den fridericianischen Kriegsschatz
fast geleert hatten, sah sich die Monarchie bald in der demüthigenden
Lage ihre Machtstellung durch ausländische Hilfsgelder behaupten zu
müssen. Die Sittenlosigkeit in der Hauptstadt nahm furchtbar überhand,
seit sie an dem Vorbilde des Hofes eine willkommene Entschuldigung
fand; sie schoß noch üppiger ins Kraut, seit der nothwendige Rückschlag
gegen die flache Freigeisterei der fridericianischen Tage eintrat und eine
krankhaft mystische Frömmigkeit in den Hofkreisen modisch wurde. Es
bezeichnet die ungeheure Macht des neuen literarischen Idealismus, daß
die öffentliche Meinung fortan jedes preußische Regierungssystem nach

Friedrich Wilhelm II.
die erdrückende Größe des alten Helden von hinnen ging; aufrichtiger Jubel
begrüßte den Vielgeliebten, der ſo traulich und warmherzig mit ſeinem Volke
verkehrte. Wieder wie in den Tagen Friedrichs I. rühmte man die inepui-
ſablen Hände des Königs, und noch lange ging im Lande die Rede von
den Geſchenken und Adelsbriefen des großen Gnadenjahres 1786. Manche
Härten des fridericianiſchen Regiments wurden beſeitigt: die verhaßte
Regie fiel, die Werbeoffiziere empfingen „zum Beſten der Menſchheit“
die Weiſung, ihr hartes Handwerk mit Mäßigung zu betreiben. Doch im
Weſentlichen blieb die alte Verwaltung unverändert, nur daß jetzt der
Herrſchergeiſt fehlte, der ſie zu beſeelen verſtanden. Das Heerweſen ſank
unter greiſenhaften Führern; den Veteranen, die noch die Kränze der
ſieben Jahre um die Stirn trugen, wagte der König nicht den Abſchied zu
geben. Die philanthropiſchen Ideen des Zeitalters und eine wohlmeinend
ſchwächliche Nachgiebigkeit gegen die bürgerlichen Intereſſen entfremdeten
den Staat der ſpartaniſchen Strenge Friedrich Wilhelms I.: durch das
Cantonreglement von 1792 wurde zwar der altpreußiſche Grundſatz der
allgemeinen Wehrpflicht nochmals als Regel verkündigt, aber zugleich die
Ueberzahl der früherhin zugeſtandenen Ausnahmen geſetzlich anerkannt und
erweitert, alſo daß der Waffendienſt faſt ausſchließlich die Bauernſöhne
belaſtete.

Der lebensluſtige Hof blieb von wüſter Verſchwendung weit ent-
fernt: die Hofſtaats-Kaſſe, die jetzt auch an Künſtler und Gelehrte er-
hebliche Unterſtützungen gab, brauchte im jährlichen Durchſchnitt blos
580,000 Thaler — nicht mehr als unter Friedrich Wilhelms ſparſamem
Nachfolger. Der unwirthſchaftliche Sinn des Königs zeigte ſich nur in
dem leichtſinnigen Verſchenken der Staatsgüter; und noch verderblicher
wurde, daß ſeine Gutmüthigkeit ſich nicht entſchließen konnte, anſtatt der
aufgehobenen drückenden Abgaben rechtzeitig neue, gerechter vertheilte
Steuern aufzulegen. Die Ueberſchüſſe, deren dieſer Staatshaushalt nicht
entbehren konnte, geriethen bald ins Stocken. Es fehlte der Muth, die
ſchweren Hinderniſſe zu überwinden, welche die ſtändiſche Verfaſſung jeder
Erhöhung der Steuerlaſt entgegenſtellte; der König rühmte ſich gern
der Erleichterungen, die er ſeinem geliebten Volke gebracht habe. Als
eine Mobilmachung und zwei Feldzüge den fridericianiſchen Kriegsſchatz
faſt geleert hatten, ſah ſich die Monarchie bald in der demüthigenden
Lage ihre Machtſtellung durch ausländiſche Hilfsgelder behaupten zu
müſſen. Die Sittenloſigkeit in der Hauptſtadt nahm furchtbar überhand,
ſeit ſie an dem Vorbilde des Hofes eine willkommene Entſchuldigung
fand; ſie ſchoß noch üppiger ins Kraut, ſeit der nothwendige Rückſchlag
gegen die flache Freigeiſterei der fridericianiſchen Tage eintrat und eine
krankhaft myſtiſche Frömmigkeit in den Hofkreiſen modiſch wurde. Es
bezeichnet die ungeheure Macht des neuen literariſchen Idealismus, daß
die öffentliche Meinung fortan jedes preußiſche Regierungsſyſtem nach

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[105/0121] Friedrich Wilhelm II. die erdrückende Größe des alten Helden von hinnen ging; aufrichtiger Jubel begrüßte den Vielgeliebten, der ſo traulich und warmherzig mit ſeinem Volke verkehrte. Wieder wie in den Tagen Friedrichs I. rühmte man die inepui- ſablen Hände des Königs, und noch lange ging im Lande die Rede von den Geſchenken und Adelsbriefen des großen Gnadenjahres 1786. Manche Härten des fridericianiſchen Regiments wurden beſeitigt: die verhaßte Regie fiel, die Werbeoffiziere empfingen „zum Beſten der Menſchheit“ die Weiſung, ihr hartes Handwerk mit Mäßigung zu betreiben. Doch im Weſentlichen blieb die alte Verwaltung unverändert, nur daß jetzt der Herrſchergeiſt fehlte, der ſie zu beſeelen verſtanden. Das Heerweſen ſank unter greiſenhaften Führern; den Veteranen, die noch die Kränze der ſieben Jahre um die Stirn trugen, wagte der König nicht den Abſchied zu geben. Die philanthropiſchen Ideen des Zeitalters und eine wohlmeinend ſchwächliche Nachgiebigkeit gegen die bürgerlichen Intereſſen entfremdeten den Staat der ſpartaniſchen Strenge Friedrich Wilhelms I.: durch das Cantonreglement von 1792 wurde zwar der altpreußiſche Grundſatz der allgemeinen Wehrpflicht nochmals als Regel verkündigt, aber zugleich die Ueberzahl der früherhin zugeſtandenen Ausnahmen geſetzlich anerkannt und erweitert, alſo daß der Waffendienſt faſt ausſchließlich die Bauernſöhne belaſtete. Der lebensluſtige Hof blieb von wüſter Verſchwendung weit ent- fernt: die Hofſtaats-Kaſſe, die jetzt auch an Künſtler und Gelehrte er- hebliche Unterſtützungen gab, brauchte im jährlichen Durchſchnitt blos 580,000 Thaler — nicht mehr als unter Friedrich Wilhelms ſparſamem Nachfolger. Der unwirthſchaftliche Sinn des Königs zeigte ſich nur in dem leichtſinnigen Verſchenken der Staatsgüter; und noch verderblicher wurde, daß ſeine Gutmüthigkeit ſich nicht entſchließen konnte, anſtatt der aufgehobenen drückenden Abgaben rechtzeitig neue, gerechter vertheilte Steuern aufzulegen. Die Ueberſchüſſe, deren dieſer Staatshaushalt nicht entbehren konnte, geriethen bald ins Stocken. Es fehlte der Muth, die ſchweren Hinderniſſe zu überwinden, welche die ſtändiſche Verfaſſung jeder Erhöhung der Steuerlaſt entgegenſtellte; der König rühmte ſich gern der Erleichterungen, die er ſeinem geliebten Volke gebracht habe. Als eine Mobilmachung und zwei Feldzüge den fridericianiſchen Kriegsſchatz faſt geleert hatten, ſah ſich die Monarchie bald in der demüthigenden Lage ihre Machtſtellung durch ausländiſche Hilfsgelder behaupten zu müſſen. Die Sittenloſigkeit in der Hauptſtadt nahm furchtbar überhand, ſeit ſie an dem Vorbilde des Hofes eine willkommene Entſchuldigung fand; ſie ſchoß noch üppiger ins Kraut, ſeit der nothwendige Rückſchlag gegen die flache Freigeiſterei der fridericianiſchen Tage eintrat und eine krankhaft myſtiſche Frömmigkeit in den Hofkreiſen modiſch wurde. Es bezeichnet die ungeheure Macht des neuen literariſchen Idealismus, daß die öffentliche Meinung fortan jedes preußiſche Regierungsſyſtem nach

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 105. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/121>, abgerufen am 26.11.2024.