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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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Zerfall des Fürstenbundes.
den hohen Adel Deutschlands unter Preußens Fahnen bannte, mußte
ein starker Wille die glänzende Stellung an der Spitze des deutschen
Fürstenstandes als ein Mittel zu bleibender Machterweiterung zu ver-
werthen wissen. Die Erledigung des Kaiserthrones stand nahe bevor, da
Kaiser Joseph kränkelte; ein geheimer Artikel des Bundesvertrages ver-
pflichtete die Genossen des Fürstenbundes, das Ob und Wie (an und
quomodo) der neuen Kaiserwahl nur nach gemeinsamem Einverständniß
zu entscheiden. Preußen gebot über die Mehrheit im Kurfürstenrathe;
soeben wurde die Coadjutorwahl in dem wichtigsten der geistlichen Staaten,
in Kurmainz, zu Preußens Gunsten entschieden. Mindestens der Versuch
mußte gewagt werden, die Politik des zweiten schlesischen Krieges unter
ungleich glücklicheren Umständen zu erneuern, die todte Masse der deutschen
Mittelstaaten unter Preußens Führung zu einer lebendigen Macht zu er-
heben. Noch einmal schien es möglich, die deutsche Krone auf ein deutsches
Haus zu übertragen oder auch das Kaiserthum ganz zu beseitigen und
die erlauchte Republik deutscher Fürsten in bündischen Formen neu zu
gestalten; einem siegreichen Preußen mußten die kleinen Genossen, wie
ungern immer, gehorchen. Der leichtblütigen vertrauensvollen Natur des
neuen Königs lagen die skeptischen Ansichten seines welterfahrenen Vor-
gängers fern. Schon als Prinz hatte er auf den Gedanken des Fürsten-
bundes glänzende Hoffnungen gebaut; jetzt überließ er die Leitung seiner
deutschen Politik eine Zeit lang den Händen Karl Augusts von Weimar.

Kühne, großartige Reformpläne gährten in dem Kopfe dieses hoch-
herzigen Patrioten; unermüdlich bereiste er die Höfe als der Curier des
Fürstenbundes. Er sah in diesem Vertheidigungsbündniß eine dauernde
Institution, den festen Kern einer neuen Reichsverfassung, dachte dem
Bunde ein stehendes Heer und in Mainz einen großen Waffenplatz zu
schaffen: ein Bundestag, nach Mainz berufen, sollte das Werk der Reichs-
reform in Angriff nehmen, den Unwahrheiten des bestehenden Rechtes
herzhaft zu Leibe gehen. Die Aussichten schienen günstig. Alle Klein-
staaten Europas fühlten sich bedroht durch die abenteuerlichen Eroberungs-
pläne der Hofburg und hofften auf Preußen als den Schirmer des Gleich-
gewichts. In Piemont und der Schweiz wurde schon die Frage erwogen,
ob man nicht dem Fürstenbunde beitreten und sich also gegen Oesterreich
decken solle; als Belgien wider die Neuerungen Kaiser Josephs die Waffen
erhob, tauchte der Vorschlag auf, auch dies kaiserliche Kronland als einen
selbständigen Staat in die Reichsassociation aufzunehmen.

Underdessen war Preußen noch einmal selbstbewußt als die Vormacht
Mitteleuropas aufgetreten; der König hatte den glücklichen Gedanken ge-
faßt, die von inneren Kämpfen erschütterte Republik der Niederlande der
Herrschaft der Patriotenpartei -- das will sagen: dem Einfluß Frank-
reichs -- zu entreißen. Seine Truppen rückten in Holland ein, trieben
in leichtem Siegeszuge die Schaaren der Patrioten auseinander, stellten

Zerfall des Fürſtenbundes.
den hohen Adel Deutſchlands unter Preußens Fahnen bannte, mußte
ein ſtarker Wille die glänzende Stellung an der Spitze des deutſchen
Fürſtenſtandes als ein Mittel zu bleibender Machterweiterung zu ver-
werthen wiſſen. Die Erledigung des Kaiſerthrones ſtand nahe bevor, da
Kaiſer Joſeph kränkelte; ein geheimer Artikel des Bundesvertrages ver-
pflichtete die Genoſſen des Fürſtenbundes, das Ob und Wie (an und
quomodo) der neuen Kaiſerwahl nur nach gemeinſamem Einverſtändniß
zu entſcheiden. Preußen gebot über die Mehrheit im Kurfürſtenrathe;
ſoeben wurde die Coadjutorwahl in dem wichtigſten der geiſtlichen Staaten,
in Kurmainz, zu Preußens Gunſten entſchieden. Mindeſtens der Verſuch
mußte gewagt werden, die Politik des zweiten ſchleſiſchen Krieges unter
ungleich glücklicheren Umſtänden zu erneuern, die todte Maſſe der deutſchen
Mittelſtaaten unter Preußens Führung zu einer lebendigen Macht zu er-
heben. Noch einmal ſchien es möglich, die deutſche Krone auf ein deutſches
Haus zu übertragen oder auch das Kaiſerthum ganz zu beſeitigen und
die erlauchte Republik deutſcher Fürſten in bündiſchen Formen neu zu
geſtalten; einem ſiegreichen Preußen mußten die kleinen Genoſſen, wie
ungern immer, gehorchen. Der leichtblütigen vertrauensvollen Natur des
neuen Königs lagen die ſkeptiſchen Anſichten ſeines welterfahrenen Vor-
gängers fern. Schon als Prinz hatte er auf den Gedanken des Fürſten-
bundes glänzende Hoffnungen gebaut; jetzt überließ er die Leitung ſeiner
deutſchen Politik eine Zeit lang den Händen Karl Auguſts von Weimar.

Kühne, großartige Reformpläne gährten in dem Kopfe dieſes hoch-
herzigen Patrioten; unermüdlich bereiſte er die Höfe als der Curier des
Fürſtenbundes. Er ſah in dieſem Vertheidigungsbündniß eine dauernde
Inſtitution, den feſten Kern einer neuen Reichsverfaſſung, dachte dem
Bunde ein ſtehendes Heer und in Mainz einen großen Waffenplatz zu
ſchaffen: ein Bundestag, nach Mainz berufen, ſollte das Werk der Reichs-
reform in Angriff nehmen, den Unwahrheiten des beſtehenden Rechtes
herzhaft zu Leibe gehen. Die Ausſichten ſchienen günſtig. Alle Klein-
ſtaaten Europas fühlten ſich bedroht durch die abenteuerlichen Eroberungs-
pläne der Hofburg und hofften auf Preußen als den Schirmer des Gleich-
gewichts. In Piemont und der Schweiz wurde ſchon die Frage erwogen,
ob man nicht dem Fürſtenbunde beitreten und ſich alſo gegen Oeſterreich
decken ſolle; als Belgien wider die Neuerungen Kaiſer Joſephs die Waffen
erhob, tauchte der Vorſchlag auf, auch dies kaiſerliche Kronland als einen
ſelbſtändigen Staat in die Reichsaſſociation aufzunehmen.

Underdeſſen war Preußen noch einmal ſelbſtbewußt als die Vormacht
Mitteleuropas aufgetreten; der König hatte den glücklichen Gedanken ge-
faßt, die von inneren Kämpfen erſchütterte Republik der Niederlande der
Herrſchaft der Patriotenpartei — das will ſagen: dem Einfluß Frank-
reichs — zu entreißen. Seine Truppen rückten in Holland ein, trieben
in leichtem Siegeszuge die Schaaren der Patrioten auseinander, ſtellten

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[107/0123] Zerfall des Fürſtenbundes. den hohen Adel Deutſchlands unter Preußens Fahnen bannte, mußte ein ſtarker Wille die glänzende Stellung an der Spitze des deutſchen Fürſtenſtandes als ein Mittel zu bleibender Machterweiterung zu ver- werthen wiſſen. Die Erledigung des Kaiſerthrones ſtand nahe bevor, da Kaiſer Joſeph kränkelte; ein geheimer Artikel des Bundesvertrages ver- pflichtete die Genoſſen des Fürſtenbundes, das Ob und Wie (an und quomodo) der neuen Kaiſerwahl nur nach gemeinſamem Einverſtändniß zu entſcheiden. Preußen gebot über die Mehrheit im Kurfürſtenrathe; ſoeben wurde die Coadjutorwahl in dem wichtigſten der geiſtlichen Staaten, in Kurmainz, zu Preußens Gunſten entſchieden. Mindeſtens der Verſuch mußte gewagt werden, die Politik des zweiten ſchleſiſchen Krieges unter ungleich glücklicheren Umſtänden zu erneuern, die todte Maſſe der deutſchen Mittelſtaaten unter Preußens Führung zu einer lebendigen Macht zu er- heben. Noch einmal ſchien es möglich, die deutſche Krone auf ein deutſches Haus zu übertragen oder auch das Kaiſerthum ganz zu beſeitigen und die erlauchte Republik deutſcher Fürſten in bündiſchen Formen neu zu geſtalten; einem ſiegreichen Preußen mußten die kleinen Genoſſen, wie ungern immer, gehorchen. Der leichtblütigen vertrauensvollen Natur des neuen Königs lagen die ſkeptiſchen Anſichten ſeines welterfahrenen Vor- gängers fern. Schon als Prinz hatte er auf den Gedanken des Fürſten- bundes glänzende Hoffnungen gebaut; jetzt überließ er die Leitung ſeiner deutſchen Politik eine Zeit lang den Händen Karl Auguſts von Weimar. Kühne, großartige Reformpläne gährten in dem Kopfe dieſes hoch- herzigen Patrioten; unermüdlich bereiſte er die Höfe als der Curier des Fürſtenbundes. Er ſah in dieſem Vertheidigungsbündniß eine dauernde Inſtitution, den feſten Kern einer neuen Reichsverfaſſung, dachte dem Bunde ein ſtehendes Heer und in Mainz einen großen Waffenplatz zu ſchaffen: ein Bundestag, nach Mainz berufen, ſollte das Werk der Reichs- reform in Angriff nehmen, den Unwahrheiten des beſtehenden Rechtes herzhaft zu Leibe gehen. Die Ausſichten ſchienen günſtig. Alle Klein- ſtaaten Europas fühlten ſich bedroht durch die abenteuerlichen Eroberungs- pläne der Hofburg und hofften auf Preußen als den Schirmer des Gleich- gewichts. In Piemont und der Schweiz wurde ſchon die Frage erwogen, ob man nicht dem Fürſtenbunde beitreten und ſich alſo gegen Oeſterreich decken ſolle; als Belgien wider die Neuerungen Kaiſer Joſephs die Waffen erhob, tauchte der Vorſchlag auf, auch dies kaiſerliche Kronland als einen ſelbſtändigen Staat in die Reichsaſſociation aufzunehmen. Underdeſſen war Preußen noch einmal ſelbſtbewußt als die Vormacht Mitteleuropas aufgetreten; der König hatte den glücklichen Gedanken ge- faßt, die von inneren Kämpfen erſchütterte Republik der Niederlande der Herrſchaft der Patriotenpartei — das will ſagen: dem Einfluß Frank- reichs — zu entreißen. Seine Truppen rückten in Holland ein, trieben in leichtem Siegeszuge die Schaaren der Patrioten auseinander, ſtellten

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 107. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/123>, abgerufen am 26.11.2024.