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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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Die Krisis von 1790.
nette geriethen in Aufruhr, da die ungeheuerlichen Vergrößerungspläne
der Kaiserhöfe an den Tag kamen. König Friedrich Wilhelm schloß
mit den Seemächten einen Dreibund zur Wahrung des Besitzstandes im
Oriente; Schweden hatte schon den Krieg gegen Rußland eröffnet; auch
die Polen dachten an eine Schilderhebung wider die Czarin, traten mit
Preußen in Bündniß. Frankreich, das noch von den Zeiten Choiseuls
her mit Oesterreich verbündet war, sah sich durch den Ausbruch der Re-
volution an jeder kühnen auswärtigen Politik verhindert; der Berliner
Hof begrüßte die Anfänge der großen Umwälzung mit Freuden, weil sie
den Bestand der österreichisch-französischen Allianz gefährdete; seine Diplo-
maten sorgten dafür, Petion und andere Wortführer der Nationalversamm-
lung bei friedlicher Stimmung zu halten. Noch nie war die Lage der
Welt so verlockend gewesen für einen Waffengang wider Oesterreich; wenn
das preußische Heer, das sich an der schlesischen Grenze versammelte, den
Stoß ins Herz der österreichischen Macht wagte, so stand ihm auf der
Straße nach Wien nirgends eine ebenbürtige Truppenmasse gegenüber,
fast die gesammte Streitkraft des Kaisers weilte ferne im Türkenkriege.
Jetzt oder niemals war der Augenblick, den deutschen Dualismus mit
dem Schwerte zu lösen und, wie einst Friedrich, in stolzer Freiheit, mitten
hindurch zwischen Feinden und halben Freunden, die Schicksalsfrage zu
stellen: Preußen oder Oesterreich?

Aber weder der König noch sein Minister Hertzberg erkannte ganz,
was der große Augenblick für Deutschlands Zukunft bedeutete. Dieser
geistreiche Mann, ein stolzer Preuße voll glühender Vaterlandsliebe, ganz
erfüllt von der Ueberzeugung, daß der unversöhnliche Gegensatz der beiden
deutschen Großmächte in einer geographischen Nothwendigkeit begründet sei,
war dem alten Könige ein unschätzbar treuer und geschickter Helfer ge-
wesen, gleich thätig als Publicist wie als Unterhändler bei allen diplo-
matischen Verhandlungen vom Beginne des siebenjährigen Krieges bis
herab zur Stiftung des Fürstenbundes; die fridericianische Politik in
ihrer einfachen Großheit selbständig weiter zu führen vermochte er nicht.
Er fühlte sich selbstgefällig als den rechten Erben des großen Königs und
"des alten kraftvollen brandenburgischen Systems", als den gewiegtesten
Kenner aller Machtverhältnisse des Welttheils; so lange er das Ruder
führte, sollte kein Fehler möglich sein und Preußen immerdar die erste
Rolle in Europa spielen. Statt der einfachen Pläne, welche der alte Held
mit rücksichtsloser Offenheit verfolgte, liebte sein Schüler gesuchte, künst-
liche Combinationen zur Wahrung des europäischen Gleichgewichts auszu-
klügeln; während Friedrich allezeit der nüchternen Meinung blieb, daß
Preußen auf der weiten Welt nur offene und versteckte Feinde habe, baute
Hertzberg mit unbeirrtem Dünkel auf die siegreiche Macht seiner Beweis-
gründe. Jetzt wähnte er den unfehlbaren Weg zur Beilegung der orien-
talischen Händel gefunden zu haben: die Abtretung der nördlichen Pro-

Die Kriſis von 1790.
nette geriethen in Aufruhr, da die ungeheuerlichen Vergrößerungspläne
der Kaiſerhöfe an den Tag kamen. König Friedrich Wilhelm ſchloß
mit den Seemächten einen Dreibund zur Wahrung des Beſitzſtandes im
Oriente; Schweden hatte ſchon den Krieg gegen Rußland eröffnet; auch
die Polen dachten an eine Schilderhebung wider die Czarin, traten mit
Preußen in Bündniß. Frankreich, das noch von den Zeiten Choiſeuls
her mit Oeſterreich verbündet war, ſah ſich durch den Ausbruch der Re-
volution an jeder kühnen auswärtigen Politik verhindert; der Berliner
Hof begrüßte die Anfänge der großen Umwälzung mit Freuden, weil ſie
den Beſtand der öſterreichiſch-franzöſiſchen Allianz gefährdete; ſeine Diplo-
maten ſorgten dafür, Pétion und andere Wortführer der Nationalverſamm-
lung bei friedlicher Stimmung zu halten. Noch nie war die Lage der
Welt ſo verlockend geweſen für einen Waffengang wider Oeſterreich; wenn
das preußiſche Heer, das ſich an der ſchleſiſchen Grenze verſammelte, den
Stoß ins Herz der öſterreichiſchen Macht wagte, ſo ſtand ihm auf der
Straße nach Wien nirgends eine ebenbürtige Truppenmaſſe gegenüber,
faſt die geſammte Streitkraft des Kaiſers weilte ferne im Türkenkriege.
Jetzt oder niemals war der Augenblick, den deutſchen Dualismus mit
dem Schwerte zu löſen und, wie einſt Friedrich, in ſtolzer Freiheit, mitten
hindurch zwiſchen Feinden und halben Freunden, die Schickſalsfrage zu
ſtellen: Preußen oder Oeſterreich?

Aber weder der König noch ſein Miniſter Hertzberg erkannte ganz,
was der große Augenblick für Deutſchlands Zukunft bedeutete. Dieſer
geiſtreiche Mann, ein ſtolzer Preuße voll glühender Vaterlandsliebe, ganz
erfüllt von der Ueberzeugung, daß der unverſöhnliche Gegenſatz der beiden
deutſchen Großmächte in einer geographiſchen Nothwendigkeit begründet ſei,
war dem alten Könige ein unſchätzbar treuer und geſchickter Helfer ge-
weſen, gleich thätig als Publiciſt wie als Unterhändler bei allen diplo-
matiſchen Verhandlungen vom Beginne des ſiebenjährigen Krieges bis
herab zur Stiftung des Fürſtenbundes; die fridericianiſche Politik in
ihrer einfachen Großheit ſelbſtändig weiter zu führen vermochte er nicht.
Er fühlte ſich ſelbſtgefällig als den rechten Erben des großen Königs und
„des alten kraftvollen brandenburgiſchen Syſtems“, als den gewiegteſten
Kenner aller Machtverhältniſſe des Welttheils; ſo lange er das Ruder
führte, ſollte kein Fehler möglich ſein und Preußen immerdar die erſte
Rolle in Europa ſpielen. Statt der einfachen Pläne, welche der alte Held
mit rückſichtsloſer Offenheit verfolgte, liebte ſein Schüler geſuchte, künſt-
liche Combinationen zur Wahrung des europäiſchen Gleichgewichts auszu-
klügeln; während Friedrich allezeit der nüchternen Meinung blieb, daß
Preußen auf der weiten Welt nur offene und verſteckte Feinde habe, baute
Hertzberg mit unbeirrtem Dünkel auf die ſiegreiche Macht ſeiner Beweis-
gründe. Jetzt wähnte er den unfehlbaren Weg zur Beilegung der orien-
taliſchen Händel gefunden zu haben: die Abtretung der nördlichen Pro-

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[109/0125] Die Kriſis von 1790. nette geriethen in Aufruhr, da die ungeheuerlichen Vergrößerungspläne der Kaiſerhöfe an den Tag kamen. König Friedrich Wilhelm ſchloß mit den Seemächten einen Dreibund zur Wahrung des Beſitzſtandes im Oriente; Schweden hatte ſchon den Krieg gegen Rußland eröffnet; auch die Polen dachten an eine Schilderhebung wider die Czarin, traten mit Preußen in Bündniß. Frankreich, das noch von den Zeiten Choiſeuls her mit Oeſterreich verbündet war, ſah ſich durch den Ausbruch der Re- volution an jeder kühnen auswärtigen Politik verhindert; der Berliner Hof begrüßte die Anfänge der großen Umwälzung mit Freuden, weil ſie den Beſtand der öſterreichiſch-franzöſiſchen Allianz gefährdete; ſeine Diplo- maten ſorgten dafür, Pétion und andere Wortführer der Nationalverſamm- lung bei friedlicher Stimmung zu halten. Noch nie war die Lage der Welt ſo verlockend geweſen für einen Waffengang wider Oeſterreich; wenn das preußiſche Heer, das ſich an der ſchleſiſchen Grenze verſammelte, den Stoß ins Herz der öſterreichiſchen Macht wagte, ſo ſtand ihm auf der Straße nach Wien nirgends eine ebenbürtige Truppenmaſſe gegenüber, faſt die geſammte Streitkraft des Kaiſers weilte ferne im Türkenkriege. Jetzt oder niemals war der Augenblick, den deutſchen Dualismus mit dem Schwerte zu löſen und, wie einſt Friedrich, in ſtolzer Freiheit, mitten hindurch zwiſchen Feinden und halben Freunden, die Schickſalsfrage zu ſtellen: Preußen oder Oeſterreich? Aber weder der König noch ſein Miniſter Hertzberg erkannte ganz, was der große Augenblick für Deutſchlands Zukunft bedeutete. Dieſer geiſtreiche Mann, ein ſtolzer Preuße voll glühender Vaterlandsliebe, ganz erfüllt von der Ueberzeugung, daß der unverſöhnliche Gegenſatz der beiden deutſchen Großmächte in einer geographiſchen Nothwendigkeit begründet ſei, war dem alten Könige ein unſchätzbar treuer und geſchickter Helfer ge- weſen, gleich thätig als Publiciſt wie als Unterhändler bei allen diplo- matiſchen Verhandlungen vom Beginne des ſiebenjährigen Krieges bis herab zur Stiftung des Fürſtenbundes; die fridericianiſche Politik in ihrer einfachen Großheit ſelbſtändig weiter zu führen vermochte er nicht. Er fühlte ſich ſelbſtgefällig als den rechten Erben des großen Königs und „des alten kraftvollen brandenburgiſchen Syſtems“, als den gewiegteſten Kenner aller Machtverhältniſſe des Welttheils; ſo lange er das Ruder führte, ſollte kein Fehler möglich ſein und Preußen immerdar die erſte Rolle in Europa ſpielen. Statt der einfachen Pläne, welche der alte Held mit rückſichtsloſer Offenheit verfolgte, liebte ſein Schüler geſuchte, künſt- liche Combinationen zur Wahrung des europäiſchen Gleichgewichts auszu- klügeln; während Friedrich allezeit der nüchternen Meinung blieb, daß Preußen auf der weiten Welt nur offene und verſteckte Feinde habe, baute Hertzberg mit unbeirrtem Dünkel auf die ſiegreiche Macht ſeiner Beweis- gründe. Jetzt wähnte er den unfehlbaren Weg zur Beilegung der orien- taliſchen Händel gefunden zu haben: die Abtretung der nördlichen Pro-

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 109. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/125>, abgerufen am 26.11.2024.