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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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I. 2. Revolution und Fremdherrschaft.
revolutionären Frankreichs! In Paris kam bald nach den Baseler Ver-
trägen die Kriegspartei wieder ans Ruder, die von Preußen Waffenhilfe
erwartete und, getäuscht in ihrer Hoffnung, den ruheseligen neutralen
Nachbarn mit unverhohlener Geringschätzung behandelte. Immer deutlicher
zeigte sich, daß ein Friede mit dem Staate der revolutionären Propa-
ganda erst möglich war wenn die alte Staatenwelt in Trümmern lag.
Die Haugwitz und Alvensleben wähnten durch den Friedensschluß freie
Hand zu erhalten für die polnischen Händel und mußten schließlich doch
den Theilungsplan der beiden Kaiserhöfe mit geringen Aenderungen an-
nehmen; denn nur als Frankreichs Bundesgenosse konnte Preußen dem
herrischen Willen Thuguts und Katharinas entgegentreten, und wider ein
offenes Bündniß mit der Revolution sträubte sich das Ehrgefühl des Königs
wie die Thatenscheu der Mehrzahl seiner Räthe. Gleichwohl war Preußen
bereits durch den Baseler Vertrag ein Mitschuldiger, ein geheimer Ver-
bündeter der französischen Eroberungspolitik geworden; man wußte in
Berlin, daß die Republik das linke Rheinufer behaupten wollte, man er-
wartete von ihrer Freundschaft Entschädigungen für die clevischen Lande
und war also, wie lebhaft man sich auch gegen den Verdacht verwahrte,
an Frankreichs Siegeswagen angekettet.

Der erste Schritt führte weiter. Am 5. August wurde ein Ergänzungs-
vertrag abgeschlossen, der schon bestimmte Erwerbungen in Aussicht stellte:
ging das linke Ufer dem Reiche verloren, so sollte der König das Bis-
thum Münster erhalten und sein oranischer Schwager ebenfalls mit geist-
lichen Gebieten im Reiche schadlos gehalten werden. So verlor der große
Gedanke der Secularisation seinen reinen Sinn; König Friedrich hatte
ihn verstanden als ein Mittel zur Reform des Reichs, jetzt diente er nur
noch zur Beraubung Deutschlands. Preußen gewann durch den Frieden
scheinbar eine großartige Erweiterung seiner Macht. Die norddeutschen
Kleinstaaten folgten rasch dem Beispiele ihres mächtigen Mitstandes. Eine
Demarcationslinie wurde den Rhein entlang und dann quer durch Mittel-
deutschland gezogen; hinter ihr lag der neutrale Norden, durch Preußens
Waffen vor den Schrecken des Krieges behütet. Die klugen Leute in
Berlin jubelten: so sei die Herrschaft des schwarzen Adlers über das ge-
sammte Norddeutschland durch die friedlichen Künste der Diplomatie be-
gründet. Und doch war diese glänzende Stellung nur ein nichtiger Schein.
Der Rhein bildete keine haltbare Grenze, die Republik vermochte das linke
Ufer nur zu behaupten wenn sie auch das rechte mittelbar oder unmittelbar
beherrschte; unaufhaltsam fluthete der Krieg tief nach Oberdeutschland
hinein, mehrere der süddeutschen Staaten schlossen bereits Unterwerfungs-
verträge mit Frankreich, es waren die Vorboten des Rheinbundes. Im
Süden wie im Westen durch Frankreich und seine Vasallen umklammert,
konnte Norddeutschland seine Unabhängigkeit nur so lange bewahren, als
Frankreich sich im eigenen Interesse genöthigt fand sie zu schonen. Die

I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.
revolutionären Frankreichs! In Paris kam bald nach den Baſeler Ver-
trägen die Kriegspartei wieder ans Ruder, die von Preußen Waffenhilfe
erwartete und, getäuſcht in ihrer Hoffnung, den ruheſeligen neutralen
Nachbarn mit unverhohlener Geringſchätzung behandelte. Immer deutlicher
zeigte ſich, daß ein Friede mit dem Staate der revolutionären Propa-
ganda erſt möglich war wenn die alte Staatenwelt in Trümmern lag.
Die Haugwitz und Alvensleben wähnten durch den Friedensſchluß freie
Hand zu erhalten für die polniſchen Händel und mußten ſchließlich doch
den Theilungsplan der beiden Kaiſerhöfe mit geringen Aenderungen an-
nehmen; denn nur als Frankreichs Bundesgenoſſe konnte Preußen dem
herriſchen Willen Thuguts und Katharinas entgegentreten, und wider ein
offenes Bündniß mit der Revolution ſträubte ſich das Ehrgefühl des Königs
wie die Thatenſcheu der Mehrzahl ſeiner Räthe. Gleichwohl war Preußen
bereits durch den Baſeler Vertrag ein Mitſchuldiger, ein geheimer Ver-
bündeter der franzöſiſchen Eroberungspolitik geworden; man wußte in
Berlin, daß die Republik das linke Rheinufer behaupten wollte, man er-
wartete von ihrer Freundſchaft Entſchädigungen für die cleviſchen Lande
und war alſo, wie lebhaft man ſich auch gegen den Verdacht verwahrte,
an Frankreichs Siegeswagen angekettet.

Der erſte Schritt führte weiter. Am 5. Auguſt wurde ein Ergänzungs-
vertrag abgeſchloſſen, der ſchon beſtimmte Erwerbungen in Ausſicht ſtellte:
ging das linke Ufer dem Reiche verloren, ſo ſollte der König das Bis-
thum Münſter erhalten und ſein oraniſcher Schwager ebenfalls mit geiſt-
lichen Gebieten im Reiche ſchadlos gehalten werden. So verlor der große
Gedanke der Seculariſation ſeinen reinen Sinn; König Friedrich hatte
ihn verſtanden als ein Mittel zur Reform des Reichs, jetzt diente er nur
noch zur Beraubung Deutſchlands. Preußen gewann durch den Frieden
ſcheinbar eine großartige Erweiterung ſeiner Macht. Die norddeutſchen
Kleinſtaaten folgten raſch dem Beiſpiele ihres mächtigen Mitſtandes. Eine
Demarcationslinie wurde den Rhein entlang und dann quer durch Mittel-
deutſchland gezogen; hinter ihr lag der neutrale Norden, durch Preußens
Waffen vor den Schrecken des Krieges behütet. Die klugen Leute in
Berlin jubelten: ſo ſei die Herrſchaft des ſchwarzen Adlers über das ge-
ſammte Norddeutſchland durch die friedlichen Künſte der Diplomatie be-
gründet. Und doch war dieſe glänzende Stellung nur ein nichtiger Schein.
Der Rhein bildete keine haltbare Grenze, die Republik vermochte das linke
Ufer nur zu behaupten wenn ſie auch das rechte mittelbar oder unmittelbar
beherrſchte; unaufhaltſam fluthete der Krieg tief nach Oberdeutſchland
hinein, mehrere der ſüddeutſchen Staaten ſchloſſen bereits Unterwerfungs-
verträge mit Frankreich, es waren die Vorboten des Rheinbundes. Im
Süden wie im Weſten durch Frankreich und ſeine Vaſallen umklammert,
konnte Norddeutſchland ſeine Unabhängigkeit nur ſo lange bewahren, als
Frankreich ſich im eigenen Intereſſe genöthigt fand ſie zu ſchonen. Die

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[140/0156] I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft. revolutionären Frankreichs! In Paris kam bald nach den Baſeler Ver- trägen die Kriegspartei wieder ans Ruder, die von Preußen Waffenhilfe erwartete und, getäuſcht in ihrer Hoffnung, den ruheſeligen neutralen Nachbarn mit unverhohlener Geringſchätzung behandelte. Immer deutlicher zeigte ſich, daß ein Friede mit dem Staate der revolutionären Propa- ganda erſt möglich war wenn die alte Staatenwelt in Trümmern lag. Die Haugwitz und Alvensleben wähnten durch den Friedensſchluß freie Hand zu erhalten für die polniſchen Händel und mußten ſchließlich doch den Theilungsplan der beiden Kaiſerhöfe mit geringen Aenderungen an- nehmen; denn nur als Frankreichs Bundesgenoſſe konnte Preußen dem herriſchen Willen Thuguts und Katharinas entgegentreten, und wider ein offenes Bündniß mit der Revolution ſträubte ſich das Ehrgefühl des Königs wie die Thatenſcheu der Mehrzahl ſeiner Räthe. Gleichwohl war Preußen bereits durch den Baſeler Vertrag ein Mitſchuldiger, ein geheimer Ver- bündeter der franzöſiſchen Eroberungspolitik geworden; man wußte in Berlin, daß die Republik das linke Rheinufer behaupten wollte, man er- wartete von ihrer Freundſchaft Entſchädigungen für die cleviſchen Lande und war alſo, wie lebhaft man ſich auch gegen den Verdacht verwahrte, an Frankreichs Siegeswagen angekettet. Der erſte Schritt führte weiter. Am 5. Auguſt wurde ein Ergänzungs- vertrag abgeſchloſſen, der ſchon beſtimmte Erwerbungen in Ausſicht ſtellte: ging das linke Ufer dem Reiche verloren, ſo ſollte der König das Bis- thum Münſter erhalten und ſein oraniſcher Schwager ebenfalls mit geiſt- lichen Gebieten im Reiche ſchadlos gehalten werden. So verlor der große Gedanke der Seculariſation ſeinen reinen Sinn; König Friedrich hatte ihn verſtanden als ein Mittel zur Reform des Reichs, jetzt diente er nur noch zur Beraubung Deutſchlands. Preußen gewann durch den Frieden ſcheinbar eine großartige Erweiterung ſeiner Macht. Die norddeutſchen Kleinſtaaten folgten raſch dem Beiſpiele ihres mächtigen Mitſtandes. Eine Demarcationslinie wurde den Rhein entlang und dann quer durch Mittel- deutſchland gezogen; hinter ihr lag der neutrale Norden, durch Preußens Waffen vor den Schrecken des Krieges behütet. Die klugen Leute in Berlin jubelten: ſo ſei die Herrſchaft des ſchwarzen Adlers über das ge- ſammte Norddeutſchland durch die friedlichen Künſte der Diplomatie be- gründet. Und doch war dieſe glänzende Stellung nur ein nichtiger Schein. Der Rhein bildete keine haltbare Grenze, die Republik vermochte das linke Ufer nur zu behaupten wenn ſie auch das rechte mittelbar oder unmittelbar beherrſchte; unaufhaltſam fluthete der Krieg tief nach Oberdeutſchland hinein, mehrere der ſüddeutſchen Staaten ſchloſſen bereits Unterwerfungs- verträge mit Frankreich, es waren die Vorboten des Rheinbundes. Im Süden wie im Weſten durch Frankreich und ſeine Vaſallen umklammert, konnte Norddeutſchland ſeine Unabhängigkeit nur ſo lange bewahren, als Frankreich ſich im eigenen Intereſſe genöthigt fand ſie zu ſchonen. Die

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 140. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/156>, abgerufen am 09.11.2024.