Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.I. 2. Revolution und Fremdherrschaft. dem Particularismus zu gute gekommen, sondern der nationalen Einheit.Er war nur ein mächtiger Schritt weiter auf dem Wege, welchen unsere Geschichte seit drei Jahrhunderten eingeschlagen. Immer wieder hatte seitdem eine unerbittliche Nothwendigkeit verlebte Kleinstaaten zerstört und zu größeren Massen zusammengeballt; jetzt brachen ihrer abermals mehr denn hundert zusammen. Aus solchen Erfahrungen mußte das deutsche Volk früher oder später die Erkenntniß schöpfen, daß auch die neue Länder- vertheilung nur eine vorläufige war, daß sein Geschick unaufhaltsam der Vernichtung der Kleinstaaterei, dem nationalen Staate zustrebte. Die Fürstenrevolution vernichtete für immer jenen Zauber historischer Ehr- würdigkeit, der das heilige Reich so unantastbar erscheinen ließ. Das alte Recht war gebrochen; die neuen Verhältnisse erweckten nirgends Ehrfurcht, machten die willkürliche Unnatur der deutschen Zersplitterung jedem ge- sunden Sinne fühlbar. Es war ein Widersinn, daß die Franken in Bam- berg, die Schwaben in Memmingen sich nunmehr als Baiern, die Pfälzer im Neckarthale sich als Badener fühlen sollten. Die tiefe Unwahrheit dieses neuen künstlichen Particularismus hat nachher, als die Nation endlich zu politischem Selbstgefühle erwachte, ihre freiesten und edelsten Männer mit leidenschaftlichem Hasse erfüllt und sie dem Einheitsgedanken zugeführt. Auch der gedankenlosen Masse ging manches gehässige particularistische Vorurtheil verloren, seit sie sich gewaltsam aus dem alten Stillleben auf- gestört sah. Wie Lombarden und Romagnolen in den neuen italienischen Zufallsstaaten sich zusammenfanden, so wurden in den deutschen Mittel- staaten Reichsstädter, Kurfürstliche und Bischöfliche gewaltsam durcheinander gerüttelt und lernten den gehaßten und verhöhnten Nachbarn als treuen Landsmann schätzen. In Italien wie in Deutschland hat die Willkür der Fremdherrschaft den alten naiven Glauben an die Ewigkeit des Bestehen- den mit den Wurzeln ausgerottet und also den Boden geebnet für neue Katastrophen, deren Ziele Bonaparte nicht ahnte. Mit der Revolution von 1803 begann für Deutschland das neue I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft. dem Particularismus zu gute gekommen, ſondern der nationalen Einheit.Er war nur ein mächtiger Schritt weiter auf dem Wege, welchen unſere Geſchichte ſeit drei Jahrhunderten eingeſchlagen. Immer wieder hatte ſeitdem eine unerbittliche Nothwendigkeit verlebte Kleinſtaaten zerſtört und zu größeren Maſſen zuſammengeballt; jetzt brachen ihrer abermals mehr denn hundert zuſammen. Aus ſolchen Erfahrungen mußte das deutſche Volk früher oder ſpäter die Erkenntniß ſchöpfen, daß auch die neue Länder- vertheilung nur eine vorläufige war, daß ſein Geſchick unaufhaltſam der Vernichtung der Kleinſtaaterei, dem nationalen Staate zuſtrebte. Die Fürſtenrevolution vernichtete für immer jenen Zauber hiſtoriſcher Ehr- würdigkeit, der das heilige Reich ſo unantaſtbar erſcheinen ließ. Das alte Recht war gebrochen; die neuen Verhältniſſe erweckten nirgends Ehrfurcht, machten die willkürliche Unnatur der deutſchen Zerſplitterung jedem ge- ſunden Sinne fühlbar. Es war ein Widerſinn, daß die Franken in Bam- berg, die Schwaben in Memmingen ſich nunmehr als Baiern, die Pfälzer im Neckarthale ſich als Badener fühlen ſollten. Die tiefe Unwahrheit dieſes neuen künſtlichen Particularismus hat nachher, als die Nation endlich zu politiſchem Selbſtgefühle erwachte, ihre freieſten und edelſten Männer mit leidenſchaftlichem Haſſe erfüllt und ſie dem Einheitsgedanken zugeführt. Auch der gedankenloſen Maſſe ging manches gehäſſige particulariſtiſche Vorurtheil verloren, ſeit ſie ſich gewaltſam aus dem alten Stillleben auf- geſtört ſah. Wie Lombarden und Romagnolen in den neuen italieniſchen Zufallsſtaaten ſich zuſammenfanden, ſo wurden in den deutſchen Mittel- ſtaaten Reichsſtädter, Kurfürſtliche und Biſchöfliche gewaltſam durcheinander gerüttelt und lernten den gehaßten und verhöhnten Nachbarn als treuen Landsmann ſchätzen. In Italien wie in Deutſchland hat die Willkür der Fremdherrſchaft den alten naiven Glauben an die Ewigkeit des Beſtehen- den mit den Wurzeln ausgerottet und alſo den Boden geebnet für neue Kataſtrophen, deren Ziele Bonaparte nicht ahnte. 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I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.
dem Particularismus zu gute gekommen, ſondern der nationalen Einheit.
Er war nur ein mächtiger Schritt weiter auf dem Wege, welchen unſere
Geſchichte ſeit drei Jahrhunderten eingeſchlagen. Immer wieder hatte
ſeitdem eine unerbittliche Nothwendigkeit verlebte Kleinſtaaten zerſtört und
zu größeren Maſſen zuſammengeballt; jetzt brachen ihrer abermals mehr
denn hundert zuſammen. Aus ſolchen Erfahrungen mußte das deutſche
Volk früher oder ſpäter die Erkenntniß ſchöpfen, daß auch die neue Länder-
vertheilung nur eine vorläufige war, daß ſein Geſchick unaufhaltſam der
Vernichtung der Kleinſtaaterei, dem nationalen Staate zuſtrebte. Die
Fürſtenrevolution vernichtete für immer jenen Zauber hiſtoriſcher Ehr-
würdigkeit, der das heilige Reich ſo unantaſtbar erſcheinen ließ. Das alte
Recht war gebrochen; die neuen Verhältniſſe erweckten nirgends Ehrfurcht,
machten die willkürliche Unnatur der deutſchen Zerſplitterung jedem ge-
ſunden Sinne fühlbar. Es war ein Widerſinn, daß die Franken in Bam-
berg, die Schwaben in Memmingen ſich nunmehr als Baiern, die Pfälzer
im Neckarthale ſich als Badener fühlen ſollten. Die tiefe Unwahrheit dieſes
neuen künſtlichen Particularismus hat nachher, als die Nation endlich
zu politiſchem Selbſtgefühle erwachte, ihre freieſten und edelſten Männer
mit leidenſchaftlichem Haſſe erfüllt und ſie dem Einheitsgedanken zugeführt.
Auch der gedankenloſen Maſſe ging manches gehäſſige particulariſtiſche
Vorurtheil verloren, ſeit ſie ſich gewaltſam aus dem alten Stillleben auf-
geſtört ſah. Wie Lombarden und Romagnolen in den neuen italieniſchen
Zufallsſtaaten ſich zuſammenfanden, ſo wurden in den deutſchen Mittel-
ſtaaten Reichsſtädter, Kurfürſtliche und Biſchöfliche gewaltſam durcheinander
gerüttelt und lernten den gehaßten und verhöhnten Nachbarn als treuen
Landsmann ſchätzen. In Italien wie in Deutſchland hat die Willkür der
Fremdherrſchaft den alten naiven Glauben an die Ewigkeit des Beſtehen-
den mit den Wurzeln ausgerottet und alſo den Boden geebnet für neue
Kataſtrophen, deren Ziele Bonaparte nicht ahnte.
Mit der Revolution von 1803 begann für Deutſchland das neue
Jahrhundert, das in Frankreich ſchon vierzehn Jahre früher angebrochen
war. Das große neunzehnte Jahrhundert ſtieg herauf, das reichſte der
neuen Geſchichte; ihm war beſchieden, die Ernte einzuheimſen von den
Saaten des Zeitalters der Reformation, die kühnen Ideen und Ahnungen
jener gedankenſchweren Epoche zu geſtalten und im Völkerleben zu ver-
wirklichen. Erſt in dieſem neuen Jahrhundert ſollten die letzten Spuren
mittelalterlicher Geſittung verſchwinden und der Charakter der modernen
Cultur ſich ausbilden; es ſollte die Freiheit des Glaubens, des Denkens
und der wirthſchaftlichen Arbeit, wovon Luthers Tage nur redeten, ein
geſichertes Beſitzthum Weſteuropas werden; es ſollte das Werk des Colum-
bus ſich vollenden und die transatlantiſche Welt mit den alten Cultur-
völkern zu der lebendigen Gemeinſchaft welthiſtoriſcher Arbeit ſich ver-
binden; und auch das Traumbild der Hutten und Machiavelli, die Einheit
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