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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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I. 2. Revolution und Fremdherrschaft.
wetteifernd um die Hofburg. Napoleon bot ihr Schlesien zum Austausche
gegen Galizien; der Czar sendete den Todfeind des Hauses Bonaparte,
Pozzo di Borgo, mit dringenden Mahnungen nach Wien; der König von
Preußen erklärte sich in seiner Bedrängniß sogar bereit, einem öster-
reichischen Hilfsheere die vorläufige Besetzung der schlesischen Festungen
zu gestatten. Doch Erzherzog Karl blieb obenauf mit seiner friedfertigen
Politik; um die Unthätigkeit zu bemänteln erbot sich Oesterreich endlich zu
einer Friedensvermittlung, die in solcher Lage nichts fruchten konnte. Die
Freundschaft des Czaren bot der wankenden preußischen Monarchie die
letzte Stütze, und an schönen Worten ließ es der schwärmerische junge
Herr nicht fehlen, als er im Frühjahr selber auf dem Kriegsschauplatze
erschien. Wie strahlte er in zärtlicher Liebenswürdigkeit inmitten der könig-
lichen Familie: verzückte blaue Augen, und doch verschwommen, ohne
Tiefe; edle und doch unreife, halb durchgearbeitete Züge. "Nicht wahr?
Keiner von uns Beiden fällt allein!" sagte er inbrünstig zu seinem un-
glücklichen Freunde. Mancher ehrliche Preuße meinte nun erst Alexanders
großes Herz ganz zu verstehen.

Es bezeichnet Hardenbergs ganzes Wesen, seinen unerschrockenen
Muth wie seine leichtlebige Beweglichkeit, daß er in solcher Zeit, während
Preußens Dasein noch in Frage stand, bereits einen großgedachten, weit-
umfassenden Plan für die Neuordnung Deutschlands und des gesammten
Staatensystems zu entwerfen wagte. Mehr als zehn Jahre lang hatte
er der Hoffnung gelebt, mit Frankreichs Beistand eine norddeutsche Groß-
macht, die dem Hause Oesterreich die Stange hielte, zu bilden; sobald er
die Hohlheit dieser Träume erkannte, ergriff er sofort ein neues System
deutscher Politik, dem er dann bis zum Tode treu blieb: die Politik des
geregelten Dualismus. Gar zu vernehmlich hatte doch das Schicksal ge-
sprochen: vereinzelt waren Oesterreich und Preußen unterlegen, nur ihre
treue Eintracht konnte Deutschland befreien. In diesem Gedanken be-
gegnen sich während der folgenden Jahre alle preußischen Patrioten
ohne Unterschied der Partei; wie ein Naturlaut bricht er gleichzeitig aus
hunderten besorgter Herzen hervor. In den Schriften von Gentz kehrt
er als ein ceterum censeo wieder; auf den kunstvollen Zeichnungen,
worin Oberst Knesebeck die Zukunft des Welttheils darzustellen liebte, wird
die Wage Europas immer durch den Bund Oesterreichs und Preußens
aufrecht erhalten. Arndt und Kleist beschwören die beiden mächtigsten
Söhne Germaniens sich zu vertragen; die Königin Luise ersehnt den Tag,
da die versöhnten deutschen Brüder gemeinsam in den heiligen Krieg ziehen
werden. Nur der König hielt in aller Stille seine alte Meinung fest und
dachte, wenn er auf ein europäisches Bündniß gegen Frankreich rechnete,
stets in erster Linie an Rußland. Hardenberg dagegen betrachtete jetzt die
Nebenbuhlerschaft der beiden deutschen Mächte als ein überwundenes un-
glückseliges Vorurtheil, ihre Interessen als schlechthin gleich. Arglos, groß-

I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.
wetteifernd um die Hofburg. Napoleon bot ihr Schleſien zum Austauſche
gegen Galizien; der Czar ſendete den Todfeind des Hauſes Bonaparte,
Pozzo di Borgo, mit dringenden Mahnungen nach Wien; der König von
Preußen erklärte ſich in ſeiner Bedrängniß ſogar bereit, einem öſter-
reichiſchen Hilfsheere die vorläufige Beſetzung der ſchleſiſchen Feſtungen
zu geſtatten. Doch Erzherzog Karl blieb obenauf mit ſeiner friedfertigen
Politik; um die Unthätigkeit zu bemänteln erbot ſich Oeſterreich endlich zu
einer Friedensvermittlung, die in ſolcher Lage nichts fruchten konnte. Die
Freundſchaft des Czaren bot der wankenden preußiſchen Monarchie die
letzte Stütze, und an ſchönen Worten ließ es der ſchwärmeriſche junge
Herr nicht fehlen, als er im Frühjahr ſelber auf dem Kriegsſchauplatze
erſchien. Wie ſtrahlte er in zärtlicher Liebenswürdigkeit inmitten der könig-
lichen Familie: verzückte blaue Augen, und doch verſchwommen, ohne
Tiefe; edle und doch unreife, halb durchgearbeitete Züge. „Nicht wahr?
Keiner von uns Beiden fällt allein!“ ſagte er inbrünſtig zu ſeinem un-
glücklichen Freunde. Mancher ehrliche Preuße meinte nun erſt Alexanders
großes Herz ganz zu verſtehen.

Es bezeichnet Hardenbergs ganzes Weſen, ſeinen unerſchrockenen
Muth wie ſeine leichtlebige Beweglichkeit, daß er in ſolcher Zeit, während
Preußens Daſein noch in Frage ſtand, bereits einen großgedachten, weit-
umfaſſenden Plan für die Neuordnung Deutſchlands und des geſammten
Staatenſyſtems zu entwerfen wagte. Mehr als zehn Jahre lang hatte
er der Hoffnung gelebt, mit Frankreichs Beiſtand eine norddeutſche Groß-
macht, die dem Hauſe Oeſterreich die Stange hielte, zu bilden; ſobald er
die Hohlheit dieſer Träume erkannte, ergriff er ſofort ein neues Syſtem
deutſcher Politik, dem er dann bis zum Tode treu blieb: die Politik des
geregelten Dualismus. Gar zu vernehmlich hatte doch das Schickſal ge-
ſprochen: vereinzelt waren Oeſterreich und Preußen unterlegen, nur ihre
treue Eintracht konnte Deutſchland befreien. In dieſem Gedanken be-
gegnen ſich während der folgenden Jahre alle preußiſchen Patrioten
ohne Unterſchied der Partei; wie ein Naturlaut bricht er gleichzeitig aus
hunderten beſorgter Herzen hervor. In den Schriften von Gentz kehrt
er als ein ceterum censeo wieder; auf den kunſtvollen Zeichnungen,
worin Oberſt Kneſebeck die Zukunft des Welttheils darzuſtellen liebte, wird
die Wage Europas immer durch den Bund Oeſterreichs und Preußens
aufrecht erhalten. Arndt und Kleiſt beſchwören die beiden mächtigſten
Söhne Germaniens ſich zu vertragen; die Königin Luiſe erſehnt den Tag,
da die verſöhnten deutſchen Brüder gemeinſam in den heiligen Krieg ziehen
werden. Nur der König hielt in aller Stille ſeine alte Meinung feſt und
dachte, wenn er auf ein europäiſches Bündniß gegen Frankreich rechnete,
ſtets in erſter Linie an Rußland. Hardenberg dagegen betrachtete jetzt die
Nebenbuhlerſchaft der beiden deutſchen Mächte als ein überwundenes un-
glückſeliges Vorurtheil, ihre Intereſſen als ſchlechthin gleich. Arglos, groß-

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[260/0276] I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft. wetteifernd um die Hofburg. Napoleon bot ihr Schleſien zum Austauſche gegen Galizien; der Czar ſendete den Todfeind des Hauſes Bonaparte, Pozzo di Borgo, mit dringenden Mahnungen nach Wien; der König von Preußen erklärte ſich in ſeiner Bedrängniß ſogar bereit, einem öſter- reichiſchen Hilfsheere die vorläufige Beſetzung der ſchleſiſchen Feſtungen zu geſtatten. Doch Erzherzog Karl blieb obenauf mit ſeiner friedfertigen Politik; um die Unthätigkeit zu bemänteln erbot ſich Oeſterreich endlich zu einer Friedensvermittlung, die in ſolcher Lage nichts fruchten konnte. Die Freundſchaft des Czaren bot der wankenden preußiſchen Monarchie die letzte Stütze, und an ſchönen Worten ließ es der ſchwärmeriſche junge Herr nicht fehlen, als er im Frühjahr ſelber auf dem Kriegsſchauplatze erſchien. Wie ſtrahlte er in zärtlicher Liebenswürdigkeit inmitten der könig- lichen Familie: verzückte blaue Augen, und doch verſchwommen, ohne Tiefe; edle und doch unreife, halb durchgearbeitete Züge. „Nicht wahr? Keiner von uns Beiden fällt allein!“ ſagte er inbrünſtig zu ſeinem un- glücklichen Freunde. Mancher ehrliche Preuße meinte nun erſt Alexanders großes Herz ganz zu verſtehen. Es bezeichnet Hardenbergs ganzes Weſen, ſeinen unerſchrockenen Muth wie ſeine leichtlebige Beweglichkeit, daß er in ſolcher Zeit, während Preußens Daſein noch in Frage ſtand, bereits einen großgedachten, weit- umfaſſenden Plan für die Neuordnung Deutſchlands und des geſammten Staatenſyſtems zu entwerfen wagte. Mehr als zehn Jahre lang hatte er der Hoffnung gelebt, mit Frankreichs Beiſtand eine norddeutſche Groß- macht, die dem Hauſe Oeſterreich die Stange hielte, zu bilden; ſobald er die Hohlheit dieſer Träume erkannte, ergriff er ſofort ein neues Syſtem deutſcher Politik, dem er dann bis zum Tode treu blieb: die Politik des geregelten Dualismus. Gar zu vernehmlich hatte doch das Schickſal ge- ſprochen: vereinzelt waren Oeſterreich und Preußen unterlegen, nur ihre treue Eintracht konnte Deutſchland befreien. In dieſem Gedanken be- gegnen ſich während der folgenden Jahre alle preußiſchen Patrioten ohne Unterſchied der Partei; wie ein Naturlaut bricht er gleichzeitig aus hunderten beſorgter Herzen hervor. In den Schriften von Gentz kehrt er als ein ceterum censeo wieder; auf den kunſtvollen Zeichnungen, worin Oberſt Kneſebeck die Zukunft des Welttheils darzuſtellen liebte, wird die Wage Europas immer durch den Bund Oeſterreichs und Preußens aufrecht erhalten. Arndt und Kleiſt beſchwören die beiden mächtigſten Söhne Germaniens ſich zu vertragen; die Königin Luiſe erſehnt den Tag, da die verſöhnten deutſchen Brüder gemeinſam in den heiligen Krieg ziehen werden. Nur der König hielt in aller Stille ſeine alte Meinung feſt und dachte, wenn er auf ein europäiſches Bündniß gegen Frankreich rechnete, ſtets in erſter Linie an Rußland. Hardenberg dagegen betrachtete jetzt die Nebenbuhlerſchaft der beiden deutſchen Mächte als ein überwundenes un- glückſeliges Vorurtheil, ihre Intereſſen als ſchlechthin gleich. Arglos, groß-

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 260. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/276>, abgerufen am 09.11.2024.