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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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Steins Verfassungsplan.
vinzen -- in Schlesien, das keine Stände hatte, den Vertretern der Pfand-
briefsinstitute und einiger Städte -- zur Mitunterzeichnung vorlegen, ob-
gleich er ausdrücklich erklärte, daß er dazu nicht verpflichtet sei. Ein solcher
Zustand der Unsicherheit des öffentlichen Rechts durfte nicht dauern. Stein
trug sich mit dem Plane einer großen Steuerreform, er wollte brechen
mit der ängstlichen hausväterlichen Sparsamkeit, welche die Ausgaben nach
den Einnahmen bemaß, und auch in Preußen den kühnen Grundsatz ein-
führen, der für jede Finanzwirthschaft großen Stiles gilt, daß die Ein-
nahmen sich nach den Ausgaben richten sollen. Für diese Reform und
für alle die anderen Opfer, die er sonst noch der wiedererstehenden Nation
zudachte, schien ihm der Beistand einer reichsständischen Versammlung
unentbehrlich; nur müsse sie vorläufig, wegen der Unreife des Volks, auf
das Recht der Berathung beschränkt bleiben.

So im Wesentlichen Steins Entwürfe für eine Reform an Haupt
und Gliedern -- das Größte und Kühnste, was der politische Idealismus
der Deutschen je gedacht hatte. Durch ähnliche Pläne hatte einst Tur-
got die nahende Revolution abzuwenden gehofft, doch der Entwurf des
deutschen Staatsmannes überbot die Gedanken des Franzosen weitaus
in seiner bescheidenen Größe, seiner folgerechten Bestimmtheit, seiner
Schonung für den historischen Bestand. Der König war mit Allem
einverstanden, am wenigsten mit der Berufung der Reichsstände. Nicht
als ob er die Beschränkung seiner Macht gefürchtet hätte; doch der Lärm
der Debatte, die Leidenschaft des parlamentarischen Kampfes, die Noth-
wendigkeit, selber öffentlich aufzutreten, war seiner Schüchternheit pein-
lich. Aufgewachsen in den Ueberlieferungen eines milden Absolutismus,
voll Widerwillens gegen die Sünden der Revolution, konnte er von der
Nothwendigkeit des Repräsentativsystems sich noch nicht vollständig über-
zeugen. In der That schien es fraglich, ob die Reichsstände, bei dem
kläglichen Zustande der politischen Bildung, nicht eher hemmend als
fördernd wirken würden. Von dem Adel, der doch nach Steins Ent-
würfen das mächtigste Glied des Vereinigten Landtags bilden sollte, stand
die freie Zustimmung zu einem gerechteren Steuersysteme und zu den
anderen Neuerungsplänen des Ministers schwerlich zu erwarten. Auch
die Städter und die Bauern bewiesen nur zu oft, wie wenig sie den
Reformgedanken der Krone zu folgen vermochten.

Wenn aber Steins gewaltiger Wille am Ruder blieb, wenn die
Reform, wie er plante, schrittweis vorging, wenn zunächst durch die Auf-
hebung der gutsherrlichen Polizei die Herrenstellung des Adels auf dem
flachen Lande zerstört wurde und dann über den befreiten Gemeinden die
Kreistage und die Provinziallandtage sich erhoben, so durfte er hoffen,
den König zu der Erkenntniß zu bringen, daß die Berufung einer reichs-
ständischen Versammlung um der Staatseinheit willen geboten sei als ein
Gegengewicht gegen die centrifugalen Kräfte der Provinzialstände. Und so

Steins Verfaſſungsplan.
vinzen — in Schleſien, das keine Stände hatte, den Vertretern der Pfand-
briefsinſtitute und einiger Städte — zur Mitunterzeichnung vorlegen, ob-
gleich er ausdrücklich erklärte, daß er dazu nicht verpflichtet ſei. Ein ſolcher
Zuſtand der Unſicherheit des öffentlichen Rechts durfte nicht dauern. Stein
trug ſich mit dem Plane einer großen Steuerreform, er wollte brechen
mit der ängſtlichen hausväterlichen Sparſamkeit, welche die Ausgaben nach
den Einnahmen bemaß, und auch in Preußen den kühnen Grundſatz ein-
führen, der für jede Finanzwirthſchaft großen Stiles gilt, daß die Ein-
nahmen ſich nach den Ausgaben richten ſollen. Für dieſe Reform und
für alle die anderen Opfer, die er ſonſt noch der wiedererſtehenden Nation
zudachte, ſchien ihm der Beiſtand einer reichsſtändiſchen Verſammlung
unentbehrlich; nur müſſe ſie vorläufig, wegen der Unreife des Volks, auf
das Recht der Berathung beſchränkt bleiben.

So im Weſentlichen Steins Entwürfe für eine Reform an Haupt
und Gliedern — das Größte und Kühnſte, was der politiſche Idealismus
der Deutſchen je gedacht hatte. Durch ähnliche Pläne hatte einſt Tur-
got die nahende Revolution abzuwenden gehofft, doch der Entwurf des
deutſchen Staatsmannes überbot die Gedanken des Franzoſen weitaus
in ſeiner beſcheidenen Größe, ſeiner folgerechten Beſtimmtheit, ſeiner
Schonung für den hiſtoriſchen Beſtand. Der König war mit Allem
einverſtanden, am wenigſten mit der Berufung der Reichsſtände. Nicht
als ob er die Beſchränkung ſeiner Macht gefürchtet hätte; doch der Lärm
der Debatte, die Leidenſchaft des parlamentariſchen Kampfes, die Noth-
wendigkeit, ſelber öffentlich aufzutreten, war ſeiner Schüchternheit pein-
lich. Aufgewachſen in den Ueberlieferungen eines milden Abſolutismus,
voll Widerwillens gegen die Sünden der Revolution, konnte er von der
Nothwendigkeit des Repräſentativſyſtems ſich noch nicht vollſtändig über-
zeugen. In der That ſchien es fraglich, ob die Reichsſtände, bei dem
kläglichen Zuſtande der politiſchen Bildung, nicht eher hemmend als
fördernd wirken würden. Von dem Adel, der doch nach Steins Ent-
würfen das mächtigſte Glied des Vereinigten Landtags bilden ſollte, ſtand
die freie Zuſtimmung zu einem gerechteren Steuerſyſteme und zu den
anderen Neuerungsplänen des Miniſters ſchwerlich zu erwarten. Auch
die Städter und die Bauern bewieſen nur zu oft, wie wenig ſie den
Reformgedanken der Krone zu folgen vermochten.

Wenn aber Steins gewaltiger Wille am Ruder blieb, wenn die
Reform, wie er plante, ſchrittweis vorging, wenn zunächſt durch die Auf-
hebung der gutsherrlichen Polizei die Herrenſtellung des Adels auf dem
flachen Lande zerſtört wurde und dann über den befreiten Gemeinden die
Kreistage und die Provinziallandtage ſich erhoben, ſo durfte er hoffen,
den König zu der Erkenntniß zu bringen, daß die Berufung einer reichs-
ſtändiſchen Verſammlung um der Staatseinheit willen geboten ſei als ein
Gegengewicht gegen die centrifugalen Kräfte der Provinzialſtände. Und ſo

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[287/0303] Steins Verfaſſungsplan. vinzen — in Schleſien, das keine Stände hatte, den Vertretern der Pfand- briefsinſtitute und einiger Städte — zur Mitunterzeichnung vorlegen, ob- gleich er ausdrücklich erklärte, daß er dazu nicht verpflichtet ſei. Ein ſolcher Zuſtand der Unſicherheit des öffentlichen Rechts durfte nicht dauern. Stein trug ſich mit dem Plane einer großen Steuerreform, er wollte brechen mit der ängſtlichen hausväterlichen Sparſamkeit, welche die Ausgaben nach den Einnahmen bemaß, und auch in Preußen den kühnen Grundſatz ein- führen, der für jede Finanzwirthſchaft großen Stiles gilt, daß die Ein- nahmen ſich nach den Ausgaben richten ſollen. Für dieſe Reform und für alle die anderen Opfer, die er ſonſt noch der wiedererſtehenden Nation zudachte, ſchien ihm der Beiſtand einer reichsſtändiſchen Verſammlung unentbehrlich; nur müſſe ſie vorläufig, wegen der Unreife des Volks, auf das Recht der Berathung beſchränkt bleiben. So im Weſentlichen Steins Entwürfe für eine Reform an Haupt und Gliedern — das Größte und Kühnſte, was der politiſche Idealismus der Deutſchen je gedacht hatte. Durch ähnliche Pläne hatte einſt Tur- got die nahende Revolution abzuwenden gehofft, doch der Entwurf des deutſchen Staatsmannes überbot die Gedanken des Franzoſen weitaus in ſeiner beſcheidenen Größe, ſeiner folgerechten Beſtimmtheit, ſeiner Schonung für den hiſtoriſchen Beſtand. Der König war mit Allem einverſtanden, am wenigſten mit der Berufung der Reichsſtände. Nicht als ob er die Beſchränkung ſeiner Macht gefürchtet hätte; doch der Lärm der Debatte, die Leidenſchaft des parlamentariſchen Kampfes, die Noth- wendigkeit, ſelber öffentlich aufzutreten, war ſeiner Schüchternheit pein- lich. Aufgewachſen in den Ueberlieferungen eines milden Abſolutismus, voll Widerwillens gegen die Sünden der Revolution, konnte er von der Nothwendigkeit des Repräſentativſyſtems ſich noch nicht vollſtändig über- zeugen. In der That ſchien es fraglich, ob die Reichsſtände, bei dem kläglichen Zuſtande der politiſchen Bildung, nicht eher hemmend als fördernd wirken würden. Von dem Adel, der doch nach Steins Ent- würfen das mächtigſte Glied des Vereinigten Landtags bilden ſollte, ſtand die freie Zuſtimmung zu einem gerechteren Steuerſyſteme und zu den anderen Neuerungsplänen des Miniſters ſchwerlich zu erwarten. Auch die Städter und die Bauern bewieſen nur zu oft, wie wenig ſie den Reformgedanken der Krone zu folgen vermochten. Wenn aber Steins gewaltiger Wille am Ruder blieb, wenn die Reform, wie er plante, ſchrittweis vorging, wenn zunächſt durch die Auf- hebung der gutsherrlichen Polizei die Herrenſtellung des Adels auf dem flachen Lande zerſtört wurde und dann über den befreiten Gemeinden die Kreistage und die Provinziallandtage ſich erhoben, ſo durfte er hoffen, den König zu der Erkenntniß zu bringen, daß die Berufung einer reichs- ſtändiſchen Verſammlung um der Staatseinheit willen geboten ſei als ein Gegengewicht gegen die centrifugalen Kräfte der Provinzialſtände. Und ſo

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 287. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/303>, abgerufen am 22.11.2024.