Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

Bild:
<< vorherige Seite

Scharnhorst.
-- so schrieb Scharnhorst bald nach dem Frieden -- der Nation das Ge-
fühl der Selbständigkeit einflößen, man muß ihr Gelegenheit geben, daß
sie mit sich selbst bekannt wird, daß sie sich ihrer selbst annimmt; nur
erst dann wird sie sich selbst achten und von Anderen Achtung zu er-
zwingen wissen. Darauf hinzuarbeiten, dies ist Alles was wir können.
Die Bande des Vorurtheils lösen, die Wiedergeburt leiten, pflegen und
in ihrem freien Wachsthum nicht hemmen, weiter reicht unser hoher
Wirkungskreis nicht."

Scharnhorst war längst der anerkannt erste Militärschriftsteller, der
größte Gelehrte unter den deutschen Offizieren; aber auch ein seltener
Reichthum praktischer Erfahrungen stand ihm nach einem wechselreichen
Leben zu Gebote. Er hatte in allen Waffengattungen, im Generalstabe
und in den Militärbildungsanstalten gedient. Er lernte, als er auf der
Kriegsschule des Wilhelmsteins seinen ersten militärischen Unterricht em-
pfing, jene berühmte kleine Mustertruppe kennen, welche sich der geistvolle
alte Kriegsheld Graf Wilhelm von Bückeburg aus der gesammten waffen-
fähigen Jugend seines Ländchens gebildet hatte; dann wurde er als han-
noverscher Offizier auf dem niederländischen Kriegsschauplatze genau ver-
traut mit der englischen Armee, die unter allen europäischen Heeren noch
am treuesten den Charakter des alten Söldnerwesens bewahrte; er zog zu
Felde gegen die lockeren Milizen der Republik wie gegen das wohlgeschulte
Conscriptionsheer Napoleons und stand im Kriege von 1806 der Heeres-
führung nahe genug um die Gebrechen der fridericianischen Armee, die
letzten Gründe ihres Unterganges ganz zu durchschauen. Jene stramme
soldatische Haltung, wie sie der König von seinen Offizieren verlangte,
war dem einfachen Niedersachsen fremd. In unscheinbarer, fast nach-
lässiger Kleidung ging er daher, den Kopf gesenkt, die tiefen sinnenden
Denkeraugen ganz in sich hineingekehrt. Das Haar fiel ungeordnet über
die Stirn herab, die Sprache klang leise und langsam. In Hannover
sah man ihn oft, wie er an dem Bäckerladen beim Thore selber anklopfte
und dann mit Weib und Kindern draußen unter den Bäumen der Ellen-
riede zufrieden sein Vesperbrot verzehrte. So blieb er sein Leben lang,
schlicht und schmucklos in Allem. Die Einfalt des Ausdrucks und der
Empfindung in seinen vertraulichen Briefen erinnert an die Menschen des
Alterthums; auch in seinen Schriften ist ihm die Sache Alles, die Form
nichts. Doch die Ueberlegenheit eines mächtigen, beständig productiven
und durchaus selbständigen Geistes, der Adel einer sittlichen Gesinnung,
die gar nicht wußte was Selbstsucht ist, verbreiteten um den schlichten
Mann einen Zauber natürlicher Hoheit, der die Gemeinen abstieß, hoch-
herzige Menschen langsam und sicher anzog. Seine Tochter, Gräfin Julie
Dohna, dankte dem frühverwittweten Vater Alles, man nannte sie eine
königliche Frau und nahm sie in der vornehmen Gesellschaft auf als müßte
es so sein.

Treitschke, Deutsche Geschichte. I. 19

Scharnhorſt.
— ſo ſchrieb Scharnhorſt bald nach dem Frieden — der Nation das Ge-
fühl der Selbſtändigkeit einflößen, man muß ihr Gelegenheit geben, daß
ſie mit ſich ſelbſt bekannt wird, daß ſie ſich ihrer ſelbſt annimmt; nur
erſt dann wird ſie ſich ſelbſt achten und von Anderen Achtung zu er-
zwingen wiſſen. Darauf hinzuarbeiten, dies iſt Alles was wir können.
Die Bande des Vorurtheils löſen, die Wiedergeburt leiten, pflegen und
in ihrem freien Wachsthum nicht hemmen, weiter reicht unſer hoher
Wirkungskreis nicht.“

Scharnhorſt war längſt der anerkannt erſte Militärſchriftſteller, der
größte Gelehrte unter den deutſchen Offizieren; aber auch ein ſeltener
Reichthum praktiſcher Erfahrungen ſtand ihm nach einem wechſelreichen
Leben zu Gebote. Er hatte in allen Waffengattungen, im Generalſtabe
und in den Militärbildungsanſtalten gedient. Er lernte, als er auf der
Kriegsſchule des Wilhelmſteins ſeinen erſten militäriſchen Unterricht em-
pfing, jene berühmte kleine Muſtertruppe kennen, welche ſich der geiſtvolle
alte Kriegsheld Graf Wilhelm von Bückeburg aus der geſammten waffen-
fähigen Jugend ſeines Ländchens gebildet hatte; dann wurde er als han-
noverſcher Offizier auf dem niederländiſchen Kriegsſchauplatze genau ver-
traut mit der engliſchen Armee, die unter allen europäiſchen Heeren noch
am treueſten den Charakter des alten Söldnerweſens bewahrte; er zog zu
Felde gegen die lockeren Milizen der Republik wie gegen das wohlgeſchulte
Conſcriptionsheer Napoleons und ſtand im Kriege von 1806 der Heeres-
führung nahe genug um die Gebrechen der fridericianiſchen Armee, die
letzten Gründe ihres Unterganges ganz zu durchſchauen. Jene ſtramme
ſoldatiſche Haltung, wie ſie der König von ſeinen Offizieren verlangte,
war dem einfachen Niederſachſen fremd. In unſcheinbarer, faſt nach-
läſſiger Kleidung ging er daher, den Kopf geſenkt, die tiefen ſinnenden
Denkeraugen ganz in ſich hineingekehrt. Das Haar fiel ungeordnet über
die Stirn herab, die Sprache klang leiſe und langſam. In Hannover
ſah man ihn oft, wie er an dem Bäckerladen beim Thore ſelber anklopfte
und dann mit Weib und Kindern draußen unter den Bäumen der Ellen-
riede zufrieden ſein Vesperbrot verzehrte. So blieb er ſein Leben lang,
ſchlicht und ſchmucklos in Allem. Die Einfalt des Ausdrucks und der
Empfindung in ſeinen vertraulichen Briefen erinnert an die Menſchen des
Alterthums; auch in ſeinen Schriften iſt ihm die Sache Alles, die Form
nichts. Doch die Ueberlegenheit eines mächtigen, beſtändig productiven
und durchaus ſelbſtändigen Geiſtes, der Adel einer ſittlichen Geſinnung,
die gar nicht wußte was Selbſtſucht iſt, verbreiteten um den ſchlichten
Mann einen Zauber natürlicher Hoheit, der die Gemeinen abſtieß, hoch-
herzige Menſchen langſam und ſicher anzog. Seine Tochter, Gräfin Julie
Dohna, dankte dem frühverwittweten Vater Alles, man nannte ſie eine
königliche Frau und nahm ſie in der vornehmen Geſellſchaft auf als müßte
es ſo ſein.

Treitſchke, Deutſche Geſchichte. I. 19
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0305" n="289"/><fw place="top" type="header">Scharnhor&#x017F;t.</fw><lb/>
&#x2014; &#x017F;o &#x017F;chrieb Scharnhor&#x017F;t bald nach dem Frieden &#x2014; der Nation das Ge-<lb/>
fühl der Selb&#x017F;tändigkeit einflößen, man muß ihr Gelegenheit geben, daß<lb/>
&#x017F;ie mit &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t bekannt wird, daß &#x017F;ie &#x017F;ich ihrer &#x017F;elb&#x017F;t annimmt; nur<lb/>
er&#x017F;t dann wird &#x017F;ie &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t achten und von Anderen Achtung zu er-<lb/>
zwingen wi&#x017F;&#x017F;en. Darauf hinzuarbeiten, dies i&#x017F;t Alles was wir können.<lb/>
Die Bande des Vorurtheils lö&#x017F;en, die Wiedergeburt leiten, pflegen und<lb/>
in ihrem freien Wachsthum nicht hemmen, weiter reicht un&#x017F;er hoher<lb/>
Wirkungskreis nicht.&#x201C;</p><lb/>
            <p>Scharnhor&#x017F;t war läng&#x017F;t der anerkannt er&#x017F;te Militär&#x017F;chrift&#x017F;teller, der<lb/>
größte Gelehrte unter den deut&#x017F;chen Offizieren; aber auch ein &#x017F;eltener<lb/>
Reichthum prakti&#x017F;cher Erfahrungen &#x017F;tand ihm nach einem wech&#x017F;elreichen<lb/>
Leben zu Gebote. Er hatte in allen Waffengattungen, im General&#x017F;tabe<lb/>
und in den Militärbildungsan&#x017F;talten gedient. Er lernte, als er auf der<lb/>
Kriegs&#x017F;chule des Wilhelm&#x017F;teins &#x017F;einen er&#x017F;ten militäri&#x017F;chen Unterricht em-<lb/>
pfing, jene berühmte kleine Mu&#x017F;tertruppe kennen, welche &#x017F;ich der gei&#x017F;tvolle<lb/>
alte Kriegsheld Graf Wilhelm von Bückeburg aus der ge&#x017F;ammten waffen-<lb/>
fähigen Jugend &#x017F;eines Ländchens gebildet hatte; dann wurde er als han-<lb/>
nover&#x017F;cher Offizier auf dem niederländi&#x017F;chen Kriegs&#x017F;chauplatze genau ver-<lb/>
traut mit der engli&#x017F;chen Armee, die unter allen europäi&#x017F;chen Heeren noch<lb/>
am treue&#x017F;ten den Charakter des alten Söldnerwe&#x017F;ens bewahrte; er zog zu<lb/>
Felde gegen die lockeren Milizen der Republik wie gegen das wohlge&#x017F;chulte<lb/>
Con&#x017F;criptionsheer Napoleons und &#x017F;tand im Kriege von 1806 der Heeres-<lb/>
führung nahe genug um die Gebrechen der fridericiani&#x017F;chen Armee, die<lb/>
letzten Gründe ihres Unterganges ganz zu durch&#x017F;chauen. Jene &#x017F;tramme<lb/>
&#x017F;oldati&#x017F;che Haltung, wie &#x017F;ie der König von &#x017F;einen Offizieren verlangte,<lb/>
war dem einfachen Nieder&#x017F;ach&#x017F;en fremd. In un&#x017F;cheinbarer, fa&#x017F;t nach-<lb/>&#x017F;&#x017F;iger Kleidung ging er daher, den Kopf ge&#x017F;enkt, die tiefen &#x017F;innenden<lb/>
Denkeraugen ganz in &#x017F;ich hineingekehrt. Das Haar fiel ungeordnet über<lb/>
die Stirn herab, die Sprache klang lei&#x017F;e und lang&#x017F;am. In Hannover<lb/>
&#x017F;ah man ihn oft, wie er an dem Bäckerladen beim Thore &#x017F;elber anklopfte<lb/>
und dann mit Weib und Kindern draußen unter den Bäumen der Ellen-<lb/>
riede zufrieden &#x017F;ein Vesperbrot verzehrte. So blieb er &#x017F;ein Leben lang,<lb/>
&#x017F;chlicht und &#x017F;chmucklos in Allem. Die Einfalt des Ausdrucks und der<lb/>
Empfindung in &#x017F;einen vertraulichen Briefen erinnert an die Men&#x017F;chen des<lb/>
Alterthums; auch in &#x017F;einen Schriften i&#x017F;t ihm die Sache Alles, die Form<lb/>
nichts. Doch die Ueberlegenheit eines mächtigen, be&#x017F;tändig productiven<lb/>
und durchaus &#x017F;elb&#x017F;tändigen Gei&#x017F;tes, der Adel einer &#x017F;ittlichen Ge&#x017F;innung,<lb/>
die gar nicht wußte was Selb&#x017F;t&#x017F;ucht i&#x017F;t, verbreiteten um den &#x017F;chlichten<lb/>
Mann einen Zauber natürlicher Hoheit, der die Gemeinen ab&#x017F;tieß, hoch-<lb/>
herzige Men&#x017F;chen lang&#x017F;am und &#x017F;icher anzog. Seine Tochter, Gräfin Julie<lb/>
Dohna, dankte dem frühverwittweten Vater Alles, man nannte &#x017F;ie eine<lb/>
königliche Frau und nahm &#x017F;ie in der vornehmen Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft auf als müßte<lb/>
es &#x017F;o &#x017F;ein.</p><lb/>
            <fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#g">Treit&#x017F;chke</hi>, Deut&#x017F;che Ge&#x017F;chichte. <hi rendition="#aq">I.</hi> 19</fw><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[289/0305] Scharnhorſt. — ſo ſchrieb Scharnhorſt bald nach dem Frieden — der Nation das Ge- fühl der Selbſtändigkeit einflößen, man muß ihr Gelegenheit geben, daß ſie mit ſich ſelbſt bekannt wird, daß ſie ſich ihrer ſelbſt annimmt; nur erſt dann wird ſie ſich ſelbſt achten und von Anderen Achtung zu er- zwingen wiſſen. Darauf hinzuarbeiten, dies iſt Alles was wir können. Die Bande des Vorurtheils löſen, die Wiedergeburt leiten, pflegen und in ihrem freien Wachsthum nicht hemmen, weiter reicht unſer hoher Wirkungskreis nicht.“ Scharnhorſt war längſt der anerkannt erſte Militärſchriftſteller, der größte Gelehrte unter den deutſchen Offizieren; aber auch ein ſeltener Reichthum praktiſcher Erfahrungen ſtand ihm nach einem wechſelreichen Leben zu Gebote. Er hatte in allen Waffengattungen, im Generalſtabe und in den Militärbildungsanſtalten gedient. Er lernte, als er auf der Kriegsſchule des Wilhelmſteins ſeinen erſten militäriſchen Unterricht em- pfing, jene berühmte kleine Muſtertruppe kennen, welche ſich der geiſtvolle alte Kriegsheld Graf Wilhelm von Bückeburg aus der geſammten waffen- fähigen Jugend ſeines Ländchens gebildet hatte; dann wurde er als han- noverſcher Offizier auf dem niederländiſchen Kriegsſchauplatze genau ver- traut mit der engliſchen Armee, die unter allen europäiſchen Heeren noch am treueſten den Charakter des alten Söldnerweſens bewahrte; er zog zu Felde gegen die lockeren Milizen der Republik wie gegen das wohlgeſchulte Conſcriptionsheer Napoleons und ſtand im Kriege von 1806 der Heeres- führung nahe genug um die Gebrechen der fridericianiſchen Armee, die letzten Gründe ihres Unterganges ganz zu durchſchauen. Jene ſtramme ſoldatiſche Haltung, wie ſie der König von ſeinen Offizieren verlangte, war dem einfachen Niederſachſen fremd. In unſcheinbarer, faſt nach- läſſiger Kleidung ging er daher, den Kopf geſenkt, die tiefen ſinnenden Denkeraugen ganz in ſich hineingekehrt. Das Haar fiel ungeordnet über die Stirn herab, die Sprache klang leiſe und langſam. In Hannover ſah man ihn oft, wie er an dem Bäckerladen beim Thore ſelber anklopfte und dann mit Weib und Kindern draußen unter den Bäumen der Ellen- riede zufrieden ſein Vesperbrot verzehrte. So blieb er ſein Leben lang, ſchlicht und ſchmucklos in Allem. Die Einfalt des Ausdrucks und der Empfindung in ſeinen vertraulichen Briefen erinnert an die Menſchen des Alterthums; auch in ſeinen Schriften iſt ihm die Sache Alles, die Form nichts. Doch die Ueberlegenheit eines mächtigen, beſtändig productiven und durchaus ſelbſtändigen Geiſtes, der Adel einer ſittlichen Geſinnung, die gar nicht wußte was Selbſtſucht iſt, verbreiteten um den ſchlichten Mann einen Zauber natürlicher Hoheit, der die Gemeinen abſtieß, hoch- herzige Menſchen langſam und ſicher anzog. Seine Tochter, Gräfin Julie Dohna, dankte dem frühverwittweten Vater Alles, man nannte ſie eine königliche Frau und nahm ſie in der vornehmen Geſellſchaft auf als müßte es ſo ſein. Treitſchke, Deutſche Geſchichte. I. 19

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/305
Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 289. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/305>, abgerufen am 09.11.2024.