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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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I. 3. Preußens Erhebung.
seinen anspruchslosen Neigungen war er vielmehr ganz einverstanden mit
der Meinung seines Ministers: die Ruhe des Privatlebens sei ehrenvoller
als die Bürde dieser Dornenkrone. Aber er fühlte, daß mit der Ent-
thronung der Hohenzollern, mit der Vernichtung des preußischen Staats
die letzte Hoffnung der Deutschen dahin schwand, daß eine vorzeitige
Schilderhebung der sichere Untergang des Vaterlandes war. Sein Trüb-
sinn verwand die niederschlagenden Eindrücke des Jahres 1806 so schnell
nicht. Er unterschätzte zuweilen, wie er späterhin selbst gestand, die Kräfte
des preußischen Volkes, würdigte nicht genugsam die mächtige Umstimmung
der Gemüther, meinte bitter, ihm werde die Sonne des Glücks nie wieder
strahlen. Dafür blieb er aber auch frei von jenen holden Täuschungen,
denen die feurigen Herzen der Kriegspartei unterlagen. Eine einfache
Natur, wie alle tüchtigen Männer seines Hauses, wollte er nicht glauben,
daß die Nation die uralten Gewöhnungen monarchischer Ordnung sogleich
aufgeben würde. Von einem Aufstande in den rheinbündischen Landen
hoffte er nichts; nur ein geordneter Krieg, von obenher geleitet, schien
ihm Rettung zu verheißen, und dies königliche Ich will! dachte er erst
dann auszusprechen, wenn er mindestens die Möglichkeit eines Sieges
erkannte und im Rücken durch Rußland gedeckt war. Der letzte Ausgang
hat die verständigen Erwägungen des Königs gerechtfertigt. Der heißen
Ungeduld der Zeitgenossen genügten sie nicht, und auch die Nachwelt war
lange ungerecht gegen den gewissenhaften Fürsten, weil die Historiker ihr
Urtheil allein aus den vertrauten Briefen der "guten Partei" schöpften
und kalten Blutes Alles wiederholten was einst in der stürmischen Wal-
lung edlen Zornes niedergeschrieben wurde. War doch die Aufregung
jener argen Tage so ungeheuer, daß selbst der besonnene Scharnhorst
einmal die harte Anklage aussprach, der König baue nur noch auf Ruß-
land, habe kein Vertrauen mehr zu seinem Volke.

Ein unvorsichtiger Schritt Steins durchkreuzte plötzlich die kriegeri-
schen Pläne. Ein Brief des Ministers, der den Fürsten Wittgenstein
aufforderte die Unzufriedenheit im Königreich Westphalen zu schüren, fiel
den Spähern Napoleons in die Hände und erschien am 8. September
1808 im Moniteur. Damit war Steins Fall entschieden. Der Impe-
rator verlangte sofort die Entlassung des Verschwörers -- sonst werde
Friedrich Wilhelm sein Schloß an der Spree nie wieder sehen -- und
benutzte zugleich den unglücklichen Brief um die preußischen Unterhändler,
die in Paris die Räumung des Landes durchsetzen sollten, einzuschüchtern
und seinem Machtgebote zu unterwerfen. Sein Plan war gefaßt: er wollte
zunächst das russische Bündniß von Neuem befestigen, damit er in Sicher-
heit die große Armee aus Deutschland zurückziehen und gegen Spanien
verwenden könne. Darum zeigte er sich jetzt bereit auf Alexanders orien-
talische Pläne einzugehen, versicherte dem Czaren, die beabsichtigte Räu-
mung Deutschlands sei nur ein der russischen Freundschaft gebrachtes

I. 3. Preußens Erhebung.
ſeinen anſpruchsloſen Neigungen war er vielmehr ganz einverſtanden mit
der Meinung ſeines Miniſters: die Ruhe des Privatlebens ſei ehrenvoller
als die Bürde dieſer Dornenkrone. Aber er fühlte, daß mit der Ent-
thronung der Hohenzollern, mit der Vernichtung des preußiſchen Staats
die letzte Hoffnung der Deutſchen dahin ſchwand, daß eine vorzeitige
Schilderhebung der ſichere Untergang des Vaterlandes war. Sein Trüb-
ſinn verwand die niederſchlagenden Eindrücke des Jahres 1806 ſo ſchnell
nicht. Er unterſchätzte zuweilen, wie er ſpäterhin ſelbſt geſtand, die Kräfte
des preußiſchen Volkes, würdigte nicht genugſam die mächtige Umſtimmung
der Gemüther, meinte bitter, ihm werde die Sonne des Glücks nie wieder
ſtrahlen. Dafür blieb er aber auch frei von jenen holden Täuſchungen,
denen die feurigen Herzen der Kriegspartei unterlagen. Eine einfache
Natur, wie alle tüchtigen Männer ſeines Hauſes, wollte er nicht glauben,
daß die Nation die uralten Gewöhnungen monarchiſcher Ordnung ſogleich
aufgeben würde. Von einem Aufſtande in den rheinbündiſchen Landen
hoffte er nichts; nur ein geordneter Krieg, von obenher geleitet, ſchien
ihm Rettung zu verheißen, und dies königliche Ich will! dachte er erſt
dann auszuſprechen, wenn er mindeſtens die Möglichkeit eines Sieges
erkannte und im Rücken durch Rußland gedeckt war. Der letzte Ausgang
hat die verſtändigen Erwägungen des Königs gerechtfertigt. Der heißen
Ungeduld der Zeitgenoſſen genügten ſie nicht, und auch die Nachwelt war
lange ungerecht gegen den gewiſſenhaften Fürſten, weil die Hiſtoriker ihr
Urtheil allein aus den vertrauten Briefen der „guten Partei“ ſchöpften
und kalten Blutes Alles wiederholten was einſt in der ſtürmiſchen Wal-
lung edlen Zornes niedergeſchrieben wurde. War doch die Aufregung
jener argen Tage ſo ungeheuer, daß ſelbſt der beſonnene Scharnhorſt
einmal die harte Anklage ausſprach, der König baue nur noch auf Ruß-
land, habe kein Vertrauen mehr zu ſeinem Volke.

Ein unvorſichtiger Schritt Steins durchkreuzte plötzlich die kriegeri-
ſchen Pläne. Ein Brief des Miniſters, der den Fürſten Wittgenſtein
aufforderte die Unzufriedenheit im Königreich Weſtphalen zu ſchüren, fiel
den Spähern Napoleons in die Hände und erſchien am 8. September
1808 im Moniteur. Damit war Steins Fall entſchieden. Der Impe-
rator verlangte ſofort die Entlaſſung des Verſchwörers — ſonſt werde
Friedrich Wilhelm ſein Schloß an der Spree nie wieder ſehen — und
benutzte zugleich den unglücklichen Brief um die preußiſchen Unterhändler,
die in Paris die Räumung des Landes durchſetzen ſollten, einzuſchüchtern
und ſeinem Machtgebote zu unterwerfen. Sein Plan war gefaßt: er wollte
zunächſt das ruſſiſche Bündniß von Neuem befeſtigen, damit er in Sicher-
heit die große Armee aus Deutſchland zurückziehen und gegen Spanien
verwenden könne. Darum zeigte er ſich jetzt bereit auf Alexanders orien-
taliſche Pläne einzugehen, verſicherte dem Czaren, die beabſichtigte Räu-
mung Deutſchlands ſei nur ein der ruſſiſchen Freundſchaft gebrachtes

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[326/0342] I. 3. Preußens Erhebung. ſeinen anſpruchsloſen Neigungen war er vielmehr ganz einverſtanden mit der Meinung ſeines Miniſters: die Ruhe des Privatlebens ſei ehrenvoller als die Bürde dieſer Dornenkrone. Aber er fühlte, daß mit der Ent- thronung der Hohenzollern, mit der Vernichtung des preußiſchen Staats die letzte Hoffnung der Deutſchen dahin ſchwand, daß eine vorzeitige Schilderhebung der ſichere Untergang des Vaterlandes war. Sein Trüb- ſinn verwand die niederſchlagenden Eindrücke des Jahres 1806 ſo ſchnell nicht. Er unterſchätzte zuweilen, wie er ſpäterhin ſelbſt geſtand, die Kräfte des preußiſchen Volkes, würdigte nicht genugſam die mächtige Umſtimmung der Gemüther, meinte bitter, ihm werde die Sonne des Glücks nie wieder ſtrahlen. Dafür blieb er aber auch frei von jenen holden Täuſchungen, denen die feurigen Herzen der Kriegspartei unterlagen. Eine einfache Natur, wie alle tüchtigen Männer ſeines Hauſes, wollte er nicht glauben, daß die Nation die uralten Gewöhnungen monarchiſcher Ordnung ſogleich aufgeben würde. Von einem Aufſtande in den rheinbündiſchen Landen hoffte er nichts; nur ein geordneter Krieg, von obenher geleitet, ſchien ihm Rettung zu verheißen, und dies königliche Ich will! dachte er erſt dann auszuſprechen, wenn er mindeſtens die Möglichkeit eines Sieges erkannte und im Rücken durch Rußland gedeckt war. Der letzte Ausgang hat die verſtändigen Erwägungen des Königs gerechtfertigt. Der heißen Ungeduld der Zeitgenoſſen genügten ſie nicht, und auch die Nachwelt war lange ungerecht gegen den gewiſſenhaften Fürſten, weil die Hiſtoriker ihr Urtheil allein aus den vertrauten Briefen der „guten Partei“ ſchöpften und kalten Blutes Alles wiederholten was einſt in der ſtürmiſchen Wal- lung edlen Zornes niedergeſchrieben wurde. War doch die Aufregung jener argen Tage ſo ungeheuer, daß ſelbſt der beſonnene Scharnhorſt einmal die harte Anklage ausſprach, der König baue nur noch auf Ruß- land, habe kein Vertrauen mehr zu ſeinem Volke. Ein unvorſichtiger Schritt Steins durchkreuzte plötzlich die kriegeri- ſchen Pläne. Ein Brief des Miniſters, der den Fürſten Wittgenſtein aufforderte die Unzufriedenheit im Königreich Weſtphalen zu ſchüren, fiel den Spähern Napoleons in die Hände und erſchien am 8. September 1808 im Moniteur. Damit war Steins Fall entſchieden. Der Impe- rator verlangte ſofort die Entlaſſung des Verſchwörers — ſonſt werde Friedrich Wilhelm ſein Schloß an der Spree nie wieder ſehen — und benutzte zugleich den unglücklichen Brief um die preußiſchen Unterhändler, die in Paris die Räumung des Landes durchſetzen ſollten, einzuſchüchtern und ſeinem Machtgebote zu unterwerfen. Sein Plan war gefaßt: er wollte zunächſt das ruſſiſche Bündniß von Neuem befeſtigen, damit er in Sicher- heit die große Armee aus Deutſchland zurückziehen und gegen Spanien verwenden könne. Darum zeigte er ſich jetzt bereit auf Alexanders orien- taliſche Pläne einzugehen, verſicherte dem Czaren, die beabſichtigte Räu- mung Deutſchlands ſei nur ein der ruſſiſchen Freundſchaft gebrachtes

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 326. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/342>, abgerufen am 22.11.2024.