Trotzdem war von Anhänglichkeit auch unter dem Landvolke nicht die Rede. Die Treue zu den alten heimischen Herren wankte nicht, und wie sollte der Bauer Vertrauen fassen zu Beamten, deren Sprache er nicht verstand? Wenngleich Einzelne abfielen und in Westphalen wie in Berg mehrere stolze Adelsgeschlechter durch Untreue ihre alten Namen schändeten, so sah doch die ungeheure Mehrheit des Volks mit steigendem Abscheu auf die Herrschaft der Fremden. Die wüsten Orgien des flachen, leichtfertigen Jerome, die Frechheit der französischen Gauner und Abenteu- rer, welche seine Verschwendung mißbrauchten, die furchtbaren Menschen- opfer der unablässigen Kriege, die hündische Schmeichelei gegen "den, vor dem die Welt schweigt" -- wie Johannes Müller in einer seiner parla- mentarischen Schaureden sagte -- die schlechten Künste der geheimen Polizei, die Verfolgung der Deutschgesinnten und die Verhöhnung der Muttersprache, "die Euch in Europa isolirt" -- Alles, Alles an diesem ausländischen Wesen erschien dem kerndeutschen Volke gehässig und ver- ächtlich, wie ein tolles Faschingsspiel, das binnen Kurzem spurlos ver- schwinden müsse. Jerome fühlte bald selbst, wie der Boden unter seinen Füßen schwankte; um so straffer hieß ihn Napoleon die Zügel anziehen. Der wohlmeinende Minister Bülow, ein Neffe Hardenbergs, mußte dem Unwillen der französischen Partei weichen; an seine Stelle trat Malchus, ein gescheidter und geschäftskundiger, aber harter und gewissenloser Mann, dem Herrscher ein gefügiges Werkzeug, in Allem das Ideal des rheinbün- dischen Beamten.
Dabei waren die Napoleoniden selber keinen Augenblick sicher vor den Gewaltschlägen des unermüdlichen Kronenräubers und Kronenver- schenkers. Murat hatte sein rheinisches Herzogthum von vornherein nur als eine vorläufige Abfindung betrachtet und gab es bereitwillig wieder auf, als sein Schwager ihm nach einigen Jahren befahl, augenblicklich zwischen den Kronen von Neapel und Portugal zu wählen: "das muß in einem Tage abgethan werden!" Das deutsche Ländchen wurde nunmehr dem unmündigen Sohne Ludwigs von Holland -- das will sagen: dem Imperator selber -- zugetheilt. Der nördliche Theil von Hannover war unterdessen seit dem preußischen Kriege vorläufig unter französischer Ver- waltung geblieben. Auch über das Schicksal der Hansestädte hatte sich Napoleon noch nicht entschieden. Er haßte sie ingrimmig als Englands getreue Kunden. Während der letzten drei Jahre hatte er aus Hamburg allein 44 Mill. Fr. erpreßt; auf die Klage über den Untergang des Han- dels hieß es höhnisch: "um so besser! dann könnt Ihr nicht mehr Eng- lands Geschäfte besorgen!" Im Herbst 1809 verhandelte er mit den drei Städten zu Hamburg durch seinen vielgewandten Reinhard: sie sollten zusammen einen halbsouveränen Staat des Rheinbundes bilden unter der Aufsicht von drei kaiserlichen Beamten. Die Hanseaten jedoch erhoben Bedenken, statt rasch zuzugreifen, wie ihnen ihr kluger Landsmann Smidt
Weſtphalen. Berg.
Trotzdem war von Anhänglichkeit auch unter dem Landvolke nicht die Rede. Die Treue zu den alten heimiſchen Herren wankte nicht, und wie ſollte der Bauer Vertrauen faſſen zu Beamten, deren Sprache er nicht verſtand? Wenngleich Einzelne abfielen und in Weſtphalen wie in Berg mehrere ſtolze Adelsgeſchlechter durch Untreue ihre alten Namen ſchändeten, ſo ſah doch die ungeheure Mehrheit des Volks mit ſteigendem Abſcheu auf die Herrſchaft der Fremden. Die wüſten Orgien des flachen, leichtfertigen Jerome, die Frechheit der franzöſiſchen Gauner und Abenteu- rer, welche ſeine Verſchwendung mißbrauchten, die furchtbaren Menſchen- opfer der unabläſſigen Kriege, die hündiſche Schmeichelei gegen „den, vor dem die Welt ſchweigt“ — wie Johannes Müller in einer ſeiner parla- mentariſchen Schaureden ſagte — die ſchlechten Künſte der geheimen Polizei, die Verfolgung der Deutſchgeſinnten und die Verhöhnung der Mutterſprache, „die Euch in Europa iſolirt“ — Alles, Alles an dieſem ausländiſchen Weſen erſchien dem kerndeutſchen Volke gehäſſig und ver- ächtlich, wie ein tolles Faſchingsſpiel, das binnen Kurzem ſpurlos ver- ſchwinden müſſe. Jerome fühlte bald ſelbſt, wie der Boden unter ſeinen Füßen ſchwankte; um ſo ſtraffer hieß ihn Napoleon die Zügel anziehen. Der wohlmeinende Miniſter Bülow, ein Neffe Hardenbergs, mußte dem Unwillen der franzöſiſchen Partei weichen; an ſeine Stelle trat Malchus, ein geſcheidter und geſchäftskundiger, aber harter und gewiſſenloſer Mann, dem Herrſcher ein gefügiges Werkzeug, in Allem das Ideal des rheinbün- diſchen Beamten.
Dabei waren die Napoleoniden ſelber keinen Augenblick ſicher vor den Gewaltſchlägen des unermüdlichen Kronenräubers und Kronenver- ſchenkers. Murat hatte ſein rheiniſches Herzogthum von vornherein nur als eine vorläufige Abfindung betrachtet und gab es bereitwillig wieder auf, als ſein Schwager ihm nach einigen Jahren befahl, augenblicklich zwiſchen den Kronen von Neapel und Portugal zu wählen: „das muß in einem Tage abgethan werden!“ Das deutſche Ländchen wurde nunmehr dem unmündigen Sohne Ludwigs von Holland — das will ſagen: dem Imperator ſelber — zugetheilt. Der nördliche Theil von Hannover war unterdeſſen ſeit dem preußiſchen Kriege vorläufig unter franzöſiſcher Ver- waltung geblieben. Auch über das Schickſal der Hanſeſtädte hatte ſich Napoleon noch nicht entſchieden. Er haßte ſie ingrimmig als Englands getreue Kunden. Während der letzten drei Jahre hatte er aus Hamburg allein 44 Mill. Fr. erpreßt; auf die Klage über den Untergang des Han- dels hieß es höhniſch: „um ſo beſſer! dann könnt Ihr nicht mehr Eng- lands Geſchäfte beſorgen!“ Im Herbſt 1809 verhandelte er mit den drei Städten zu Hamburg durch ſeinen vielgewandten Reinhard: ſie ſollten zuſammen einen halbſouveränen Staat des Rheinbundes bilden unter der Aufſicht von drei kaiſerlichen Beamten. Die Hanſeaten jedoch erhoben Bedenken, ſtatt raſch zuzugreifen, wie ihnen ihr kluger Landsmann Smidt
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[363/0379]
Weſtphalen. Berg.
Trotzdem war von Anhänglichkeit auch unter dem Landvolke nicht
die Rede. Die Treue zu den alten heimiſchen Herren wankte nicht, und
wie ſollte der Bauer Vertrauen faſſen zu Beamten, deren Sprache er
nicht verſtand? Wenngleich Einzelne abfielen und in Weſtphalen wie in
Berg mehrere ſtolze Adelsgeſchlechter durch Untreue ihre alten Namen
ſchändeten, ſo ſah doch die ungeheure Mehrheit des Volks mit ſteigendem
Abſcheu auf die Herrſchaft der Fremden. Die wüſten Orgien des flachen,
leichtfertigen Jerome, die Frechheit der franzöſiſchen Gauner und Abenteu-
rer, welche ſeine Verſchwendung mißbrauchten, die furchtbaren Menſchen-
opfer der unabläſſigen Kriege, die hündiſche Schmeichelei gegen „den, vor
dem die Welt ſchweigt“ — wie Johannes Müller in einer ſeiner parla-
mentariſchen Schaureden ſagte — die ſchlechten Künſte der geheimen
Polizei, die Verfolgung der Deutſchgeſinnten und die Verhöhnung der
Mutterſprache, „die Euch in Europa iſolirt“ — Alles, Alles an dieſem
ausländiſchen Weſen erſchien dem kerndeutſchen Volke gehäſſig und ver-
ächtlich, wie ein tolles Faſchingsſpiel, das binnen Kurzem ſpurlos ver-
ſchwinden müſſe. Jerome fühlte bald ſelbſt, wie der Boden unter ſeinen
Füßen ſchwankte; um ſo ſtraffer hieß ihn Napoleon die Zügel anziehen.
Der wohlmeinende Miniſter Bülow, ein Neffe Hardenbergs, mußte dem
Unwillen der franzöſiſchen Partei weichen; an ſeine Stelle trat Malchus,
ein geſcheidter und geſchäftskundiger, aber harter und gewiſſenloſer Mann,
dem Herrſcher ein gefügiges Werkzeug, in Allem das Ideal des rheinbün-
diſchen Beamten.
Dabei waren die Napoleoniden ſelber keinen Augenblick ſicher vor
den Gewaltſchlägen des unermüdlichen Kronenräubers und Kronenver-
ſchenkers. Murat hatte ſein rheiniſches Herzogthum von vornherein nur
als eine vorläufige Abfindung betrachtet und gab es bereitwillig wieder
auf, als ſein Schwager ihm nach einigen Jahren befahl, augenblicklich
zwiſchen den Kronen von Neapel und Portugal zu wählen: „das muß in
einem Tage abgethan werden!“ Das deutſche Ländchen wurde nunmehr
dem unmündigen Sohne Ludwigs von Holland — das will ſagen: dem
Imperator ſelber — zugetheilt. Der nördliche Theil von Hannover war
unterdeſſen ſeit dem preußiſchen Kriege vorläufig unter franzöſiſcher Ver-
waltung geblieben. Auch über das Schickſal der Hanſeſtädte hatte ſich
Napoleon noch nicht entſchieden. Er haßte ſie ingrimmig als Englands
getreue Kunden. Während der letzten drei Jahre hatte er aus Hamburg
allein 44 Mill. Fr. erpreßt; auf die Klage über den Untergang des Han-
dels hieß es höhniſch: „um ſo beſſer! dann könnt Ihr nicht mehr Eng-
lands Geſchäfte beſorgen!“ Im Herbſt 1809 verhandelte er mit den
drei Städten zu Hamburg durch ſeinen vielgewandten Reinhard: ſie ſollten
zuſammen einen halbſouveränen Staat des Rheinbundes bilden unter der
Aufſicht von drei kaiſerlichen Beamten. Die Hanſeaten jedoch erhoben
Bedenken, ſtatt raſch zuzugreifen, wie ihnen ihr kluger Landsmann Smidt
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 363. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/379>, abgerufen am 22.11.2024.
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