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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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I. 3. Preußens Erhebung.
fertigen und in seinen Denkwürdigkeiten, nicht immer ganz ehrlich, alle
Schuld der Katastrophe des alten Staates auf andere Schultern abzu-
wälzen suchte. Aber auch in den Tagebüchern, die nur für sein eigenes
Auge bestimmt waren, begegnet uns fast niemals das Eingeständniß eines
Irrthums; wer ihm widerspricht wird mit schnöden Worten abgefertigt,
auch den König selbst trifft oft wegwerfender Tadel, und doch hatte Fried-
rich Wilhelms Nüchternheit bei solchen Streitigkeiten fast immer recht!
Hardenberg blieb sein Lebelang in dem völlig grundlosen Wahne, seine
Rigaer Denkschrift vom Herbste 1807 bilde eigentlich den Ausgangspunkt
für das preußische Reformwerk; er äußerte oft mit Bitterkeit, Andere hätten
ihm den wohlverdienten Ruhm hinweggenommen. Die Seelengröße Steins
hat an Fragen dieser Art nie gedacht.

Als Hardenberg jetzt in die Geschäfte zurückgerufen wurde, bedang
er sich eine Machtvollkommenheit aus, die allerdings zum Theile durch
die Nothlage des Staates geboten war, aber weit über das Nothwendige
hinausging und allen Traditionen des preußischen Beamtenthums wider-
sprach. Er wurde Staatskanzler, erhielt die oberste Leitung des gesamm-
ten Staatswesens, übernahm die Ministerien des Innern und der Finan-
zen unmittelbar, und da auch der Minister des Auswärtigen, Graf Goltz
in Allem und Jedem den Befehlen des Kanzlers zu folgen hatte, so
blieben nur die Justiz und das Kriegswesen in einiger Selbständigkeit.
Ein festes Gehalt nahm der Staatskanzler nicht an; die Generalstaats-
kasse zahlte was er brauchte. Wie die Dinge lagen war es ein heilvolles
Geschick für Preußen, daß diese in jedem Sinne leichtere Natur jetzt die
Erbschaft des Freiherrn vom Stein antrat. Der Jünger der neufranzösi-
schen Philosophie konnte dreister, als es der Reichsritter vermocht hätte,
die nothwendigen Folgerungen ziehen aus den Gesetzen des Jahres 1808;
die Verschlagenheit des Diplomaten konnte gewandter als Steins dämo-
nische Leidenschaft durch kluges Laviren die deutschen Dinge hinhalten
bis der offene Kampf möglich wurde.

Die erste Sorge des Staatskanzlers ging, wie natürlich, auf die
Abtragung der Contribution und die Wiederherstellung des Finanzwesens,
und in diesen technischen Fragen zeigte sichs sogleich, wie gänzlich ihm die
sichere Sachkenntniß Steins abging. Nach der Weise geistreicher leicht-
blütiger Dilettanten war er sehr empfänglich für weit aussehende Pro-
jecte, wenn sie mit dem Anspruche theoretischer Unfehlbarkeit auftraten.
Da zu jener Zeit alle Welt für die wunderbaren Leistungen der Bank
von England schwärmte, so dachte er auch in diesem unglücklichen Preu-
ßen, dem augenblicklich alle Vorbedingungen für eine große Creditan-
stalt fehlten, eine Nationalbank zu gründen und mit ihrer Hilfe die
gesammten Schulden des Staates und der Provinzen zu consolidiren.
Außerdem sollten zwei Anleihen, im Inlande und im Auslande, sowie die
Ausgabe von 26 Mill. Thlr. Tresorscheinen dem Staate die Baarmittel

I. 3. Preußens Erhebung.
fertigen und in ſeinen Denkwürdigkeiten, nicht immer ganz ehrlich, alle
Schuld der Kataſtrophe des alten Staates auf andere Schultern abzu-
wälzen ſuchte. Aber auch in den Tagebüchern, die nur für ſein eigenes
Auge beſtimmt waren, begegnet uns faſt niemals das Eingeſtändniß eines
Irrthums; wer ihm widerſpricht wird mit ſchnöden Worten abgefertigt,
auch den König ſelbſt trifft oft wegwerfender Tadel, und doch hatte Fried-
rich Wilhelms Nüchternheit bei ſolchen Streitigkeiten faſt immer recht!
Hardenberg blieb ſein Lebelang in dem völlig grundloſen Wahne, ſeine
Rigaer Denkſchrift vom Herbſte 1807 bilde eigentlich den Ausgangspunkt
für das preußiſche Reformwerk; er äußerte oft mit Bitterkeit, Andere hätten
ihm den wohlverdienten Ruhm hinweggenommen. Die Seelengröße Steins
hat an Fragen dieſer Art nie gedacht.

Als Hardenberg jetzt in die Geſchäfte zurückgerufen wurde, bedang
er ſich eine Machtvollkommenheit aus, die allerdings zum Theile durch
die Nothlage des Staates geboten war, aber weit über das Nothwendige
hinausging und allen Traditionen des preußiſchen Beamtenthums wider-
ſprach. Er wurde Staatskanzler, erhielt die oberſte Leitung des geſamm-
ten Staatsweſens, übernahm die Miniſterien des Innern und der Finan-
zen unmittelbar, und da auch der Miniſter des Auswärtigen, Graf Goltz
in Allem und Jedem den Befehlen des Kanzlers zu folgen hatte, ſo
blieben nur die Juſtiz und das Kriegsweſen in einiger Selbſtändigkeit.
Ein feſtes Gehalt nahm der Staatskanzler nicht an; die Generalſtaats-
kaſſe zahlte was er brauchte. Wie die Dinge lagen war es ein heilvolles
Geſchick für Preußen, daß dieſe in jedem Sinne leichtere Natur jetzt die
Erbſchaft des Freiherrn vom Stein antrat. Der Jünger der neufranzöſi-
ſchen Philoſophie konnte dreiſter, als es der Reichsritter vermocht hätte,
die nothwendigen Folgerungen ziehen aus den Geſetzen des Jahres 1808;
die Verſchlagenheit des Diplomaten konnte gewandter als Steins dämo-
niſche Leidenſchaft durch kluges Laviren die deutſchen Dinge hinhalten
bis der offene Kampf möglich wurde.

Die erſte Sorge des Staatskanzlers ging, wie natürlich, auf die
Abtragung der Contribution und die Wiederherſtellung des Finanzweſens,
und in dieſen techniſchen Fragen zeigte ſichs ſogleich, wie gänzlich ihm die
ſichere Sachkenntniß Steins abging. Nach der Weiſe geiſtreicher leicht-
blütiger Dilettanten war er ſehr empfänglich für weit ausſehende Pro-
jecte, wenn ſie mit dem Anſpruche theoretiſcher Unfehlbarkeit auftraten.
Da zu jener Zeit alle Welt für die wunderbaren Leiſtungen der Bank
von England ſchwärmte, ſo dachte er auch in dieſem unglücklichen Preu-
ßen, dem augenblicklich alle Vorbedingungen für eine große Creditan-
ſtalt fehlten, eine Nationalbank zu gründen und mit ihrer Hilfe die
geſammten Schulden des Staates und der Provinzen zu conſolidiren.
Außerdem ſollten zwei Anleihen, im Inlande und im Auslande, ſowie die
Ausgabe von 26 Mill. Thlr. Treſorſcheinen dem Staate die Baarmittel

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[368/0384] I. 3. Preußens Erhebung. fertigen und in ſeinen Denkwürdigkeiten, nicht immer ganz ehrlich, alle Schuld der Kataſtrophe des alten Staates auf andere Schultern abzu- wälzen ſuchte. Aber auch in den Tagebüchern, die nur für ſein eigenes Auge beſtimmt waren, begegnet uns faſt niemals das Eingeſtändniß eines Irrthums; wer ihm widerſpricht wird mit ſchnöden Worten abgefertigt, auch den König ſelbſt trifft oft wegwerfender Tadel, und doch hatte Fried- rich Wilhelms Nüchternheit bei ſolchen Streitigkeiten faſt immer recht! Hardenberg blieb ſein Lebelang in dem völlig grundloſen Wahne, ſeine Rigaer Denkſchrift vom Herbſte 1807 bilde eigentlich den Ausgangspunkt für das preußiſche Reformwerk; er äußerte oft mit Bitterkeit, Andere hätten ihm den wohlverdienten Ruhm hinweggenommen. Die Seelengröße Steins hat an Fragen dieſer Art nie gedacht. Als Hardenberg jetzt in die Geſchäfte zurückgerufen wurde, bedang er ſich eine Machtvollkommenheit aus, die allerdings zum Theile durch die Nothlage des Staates geboten war, aber weit über das Nothwendige hinausging und allen Traditionen des preußiſchen Beamtenthums wider- ſprach. Er wurde Staatskanzler, erhielt die oberſte Leitung des geſamm- ten Staatsweſens, übernahm die Miniſterien des Innern und der Finan- zen unmittelbar, und da auch der Miniſter des Auswärtigen, Graf Goltz in Allem und Jedem den Befehlen des Kanzlers zu folgen hatte, ſo blieben nur die Juſtiz und das Kriegsweſen in einiger Selbſtändigkeit. Ein feſtes Gehalt nahm der Staatskanzler nicht an; die Generalſtaats- kaſſe zahlte was er brauchte. Wie die Dinge lagen war es ein heilvolles Geſchick für Preußen, daß dieſe in jedem Sinne leichtere Natur jetzt die Erbſchaft des Freiherrn vom Stein antrat. Der Jünger der neufranzöſi- ſchen Philoſophie konnte dreiſter, als es der Reichsritter vermocht hätte, die nothwendigen Folgerungen ziehen aus den Geſetzen des Jahres 1808; die Verſchlagenheit des Diplomaten konnte gewandter als Steins dämo- niſche Leidenſchaft durch kluges Laviren die deutſchen Dinge hinhalten bis der offene Kampf möglich wurde. Die erſte Sorge des Staatskanzlers ging, wie natürlich, auf die Abtragung der Contribution und die Wiederherſtellung des Finanzweſens, und in dieſen techniſchen Fragen zeigte ſichs ſogleich, wie gänzlich ihm die ſichere Sachkenntniß Steins abging. Nach der Weiſe geiſtreicher leicht- blütiger Dilettanten war er ſehr empfänglich für weit ausſehende Pro- jecte, wenn ſie mit dem Anſpruche theoretiſcher Unfehlbarkeit auftraten. Da zu jener Zeit alle Welt für die wunderbaren Leiſtungen der Bank von England ſchwärmte, ſo dachte er auch in dieſem unglücklichen Preu- ßen, dem augenblicklich alle Vorbedingungen für eine große Creditan- ſtalt fehlten, eine Nationalbank zu gründen und mit ihrer Hilfe die geſammten Schulden des Staates und der Provinzen zu conſolidiren. Außerdem ſollten zwei Anleihen, im Inlande und im Auslande, ſowie die Ausgabe von 26 Mill. Thlr. Treſorſcheinen dem Staate die Baarmittel

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 368. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/384>, abgerufen am 22.11.2024.