gehe noch immer dahin, der Nation eine zweckmäßig eingerichtete Reprä- sentation zu geben; da die dazu erforderlichen Vorbereitungen indessen noch Zeit erforderten, so sollten die für jene General-Commission bestimm- ten Abgeordneten auch vorerst die Nationalrepräsentation constituiren." Unter dem hochtönenden Namen einer interimistischen Nationalrepräsen- tation trat also am 10. April 1812 in Berlin eine zweite Notabelnver- sammlung von neununddreißig Mitgliedern zusammen. Diesmal räumte man der Nation ein Wahlrecht ein. Die achtzehn Ritter wurden unmit- telbar von den Kreistagen, die zwölf Bürger und neun Bauern durch in- directe Wahl von den Städten und dem Rusticalstande erwählt; die Re- gierungspräsidenten sollten aber die Gewählten prüfen, ob sie einsichtsvolle, patriotische und "vorurtheilsfreie" Männer seien -- ein deutlicher Wink für die Feudalpartei!
Das Bedeutsamste an diesem überaus zahmen Repräsentationsver- suche blieb, daß der neugeschaffene Bauernstand jetzt durch einige selbst- gewählte Vertreter an den Berathungen über Staatsangelegenheiten Theil nahm. Die märkischen Stände murrten auch diesmal; sie beriefen sich auf das "allgemeine Mißtrauen" des Landes gegen die neuen Steuer- pläne*) und setzten durch, daß wieder einige Nebendeputirte aus ihrer Mitte zugelassen wurden. Hardenberg erschien auch hier wieder als der Verfechter der neuen Staatseinheit. Er faßte die Stände im modernen Sinne als eine Interessenvertretung, er verlangte, der Repräsentant dürfe "keinen anderen Richter als sein Gewissen" anerkennen: wer sich nach altständischer Weise an die Aufträge seiner Wähler gebunden glaube, müsse von den Berathungen ausgeschlossen werden.**) In den Provinzen versammelten sich die "Wahldeputirten", welche die Nationalrepräsentation gewählt hatten, häufig aus eigenem Antriebe -- ganz regelmäßig in Ober- schlesien***) -- um öffentliche Angelegenheiten zu besprechen und mit ihren Repräsentanten in Berlin einen regen Verkehr zu unterhalten. Der Sinn für das politische Leben begann überall im Volke zu erwachen. Die Wirksamkeit der Nationalrepräsentation blieb gleichwohl sogar noch geringfügiger als die Thätigkeit der ersten Notabelnversammlung. Ihre häufig unterbrochenen Verhandlungen bewegten sich wesentlich um die Regulirung des Kriegsschuldenwesens und brachten selbst diese Angelegen- heit nicht ins Reine. Kamen andere Fragen zur Besprechung, so zeigte sich stets ein streng conservativer, den Reformen feindlicher Geist; der Staatskanzler mußte sich bald überzeugen, daß er die Ausgleichung der Grundsteuer gegen den zähen passiven Widerstand des Landadels für jetzt noch nicht durchsetzen könne. Der Eifer der Repräsentanten und ihrer
*) Eingabe der neumärkischen Stände, 4. Dec. 1812.
**) Instruction des Staatskanzlers an die Regierungen, 11. Febr. 1812.
***) Bericht der Regierung in Oppeln 24. Oct. 1816.
I. 3. Preußens Erhebung.
gehe noch immer dahin, der Nation eine zweckmäßig eingerichtete Reprä- ſentation zu geben; da die dazu erforderlichen Vorbereitungen indeſſen noch Zeit erforderten, ſo ſollten die für jene General-Commiſſion beſtimm- ten Abgeordneten auch vorerſt die Nationalrepräſentation conſtituiren.“ Unter dem hochtönenden Namen einer interimiſtiſchen Nationalrepräſen- tation trat alſo am 10. April 1812 in Berlin eine zweite Notabelnver- ſammlung von neununddreißig Mitgliedern zuſammen. Diesmal räumte man der Nation ein Wahlrecht ein. Die achtzehn Ritter wurden unmit- telbar von den Kreistagen, die zwölf Bürger und neun Bauern durch in- directe Wahl von den Städten und dem Ruſticalſtande erwählt; die Re- gierungspräſidenten ſollten aber die Gewählten prüfen, ob ſie einſichtsvolle, patriotiſche und „vorurtheilsfreie“ Männer ſeien — ein deutlicher Wink für die Feudalpartei!
Das Bedeutſamſte an dieſem überaus zahmen Repräſentationsver- ſuche blieb, daß der neugeſchaffene Bauernſtand jetzt durch einige ſelbſt- gewählte Vertreter an den Berathungen über Staatsangelegenheiten Theil nahm. Die märkiſchen Stände murrten auch diesmal; ſie beriefen ſich auf das „allgemeine Mißtrauen“ des Landes gegen die neuen Steuer- pläne*) und ſetzten durch, daß wieder einige Nebendeputirte aus ihrer Mitte zugelaſſen wurden. Hardenberg erſchien auch hier wieder als der Verfechter der neuen Staatseinheit. Er faßte die Stände im modernen Sinne als eine Intereſſenvertretung, er verlangte, der Repräſentant dürfe „keinen anderen Richter als ſein Gewiſſen“ anerkennen: wer ſich nach altſtändiſcher Weiſe an die Aufträge ſeiner Wähler gebunden glaube, müſſe von den Berathungen ausgeſchloſſen werden.**) In den Provinzen verſammelten ſich die „Wahldeputirten“, welche die Nationalrepräſentation gewählt hatten, häufig aus eigenem Antriebe — ganz regelmäßig in Ober- ſchleſien***) — um öffentliche Angelegenheiten zu beſprechen und mit ihren Repräſentanten in Berlin einen regen Verkehr zu unterhalten. Der Sinn für das politiſche Leben begann überall im Volke zu erwachen. Die Wirkſamkeit der Nationalrepräſentation blieb gleichwohl ſogar noch geringfügiger als die Thätigkeit der erſten Notabelnverſammlung. Ihre häufig unterbrochenen Verhandlungen bewegten ſich weſentlich um die Regulirung des Kriegsſchuldenweſens und brachten ſelbſt dieſe Angelegen- heit nicht ins Reine. Kamen andere Fragen zur Beſprechung, ſo zeigte ſich ſtets ein ſtreng conſervativer, den Reformen feindlicher Geiſt; der Staatskanzler mußte ſich bald überzeugen, daß er die Ausgleichung der Grundſteuer gegen den zähen paſſiven Widerſtand des Landadels für jetzt noch nicht durchſetzen könne. Der Eifer der Repräſentanten und ihrer
*) Eingabe der neumärkiſchen Stände, 4. Dec. 1812.
**) Inſtruction des Staatskanzlers an die Regierungen, 11. Febr. 1812.
***) Bericht der Regierung in Oppeln 24. Oct. 1816.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0394"n="378"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#aq">I.</hi> 3. Preußens Erhebung.</fw><lb/>
gehe noch immer dahin, der Nation eine zweckmäßig eingerichtete Reprä-<lb/>ſentation zu geben; da die dazu erforderlichen Vorbereitungen indeſſen<lb/>
noch Zeit erforderten, ſo ſollten die für jene General-Commiſſion beſtimm-<lb/>
ten Abgeordneten auch vorerſt die Nationalrepräſentation conſtituiren.“<lb/>
Unter dem hochtönenden Namen einer interimiſtiſchen Nationalrepräſen-<lb/>
tation trat alſo am 10. April 1812 in Berlin eine zweite Notabelnver-<lb/>ſammlung von neununddreißig Mitgliedern zuſammen. Diesmal räumte<lb/>
man der Nation ein Wahlrecht ein. Die achtzehn Ritter wurden unmit-<lb/>
telbar von den Kreistagen, die zwölf Bürger und neun Bauern durch in-<lb/>
directe Wahl von den Städten und dem Ruſticalſtande erwählt; die Re-<lb/>
gierungspräſidenten ſollten aber die Gewählten prüfen, ob ſie einſichtsvolle,<lb/>
patriotiſche und „vorurtheilsfreie“ Männer ſeien — ein deutlicher Wink<lb/>
für die Feudalpartei!</p><lb/><p>Das Bedeutſamſte an dieſem überaus zahmen Repräſentationsver-<lb/>ſuche blieb, daß der neugeſchaffene Bauernſtand jetzt durch einige ſelbſt-<lb/>
gewählte Vertreter an den Berathungen über Staatsangelegenheiten Theil<lb/>
nahm. Die märkiſchen Stände murrten auch diesmal; ſie beriefen ſich<lb/>
auf das „allgemeine Mißtrauen“ des Landes gegen die neuen Steuer-<lb/>
pläne<noteplace="foot"n="*)">Eingabe der neumärkiſchen Stände, 4. Dec. 1812.</note> und ſetzten durch, daß wieder einige Nebendeputirte aus ihrer<lb/>
Mitte zugelaſſen wurden. Hardenberg erſchien auch hier wieder als der<lb/>
Verfechter der neuen Staatseinheit. Er faßte die Stände im modernen<lb/>
Sinne als eine Intereſſenvertretung, er verlangte, der Repräſentant dürfe<lb/>„keinen anderen Richter als ſein Gewiſſen“ anerkennen: wer ſich nach<lb/>
altſtändiſcher Weiſe an die Aufträge ſeiner Wähler gebunden glaube,<lb/>
müſſe von den Berathungen ausgeſchloſſen werden.<noteplace="foot"n="**)">Inſtruction des Staatskanzlers an die Regierungen, 11. Febr. 1812.</note> In den Provinzen<lb/>
verſammelten ſich die „Wahldeputirten“, welche die Nationalrepräſentation<lb/>
gewählt hatten, häufig aus eigenem Antriebe — ganz regelmäßig in Ober-<lb/>ſchleſien<noteplace="foot"n="***)">Bericht der Regierung in Oppeln 24. Oct. 1816.</note>— um öffentliche Angelegenheiten zu beſprechen und mit<lb/>
ihren Repräſentanten in Berlin einen regen Verkehr zu unterhalten.<lb/>
Der Sinn für das politiſche Leben begann überall im Volke zu erwachen.<lb/>
Die Wirkſamkeit der Nationalrepräſentation blieb gleichwohl ſogar noch<lb/>
geringfügiger als die Thätigkeit der erſten Notabelnverſammlung. Ihre<lb/>
häufig unterbrochenen Verhandlungen bewegten ſich weſentlich um die<lb/>
Regulirung des Kriegsſchuldenweſens und brachten ſelbſt dieſe Angelegen-<lb/>
heit nicht ins Reine. Kamen andere Fragen zur Beſprechung, ſo zeigte<lb/>ſich ſtets ein ſtreng conſervativer, den Reformen feindlicher Geiſt; der<lb/>
Staatskanzler mußte ſich bald überzeugen, daß er die Ausgleichung der<lb/>
Grundſteuer gegen den zähen paſſiven Widerſtand des Landadels für jetzt<lb/>
noch nicht durchſetzen könne. Der Eifer der Repräſentanten und ihrer<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[378/0394]
I. 3. Preußens Erhebung.
gehe noch immer dahin, der Nation eine zweckmäßig eingerichtete Reprä-
ſentation zu geben; da die dazu erforderlichen Vorbereitungen indeſſen
noch Zeit erforderten, ſo ſollten die für jene General-Commiſſion beſtimm-
ten Abgeordneten auch vorerſt die Nationalrepräſentation conſtituiren.“
Unter dem hochtönenden Namen einer interimiſtiſchen Nationalrepräſen-
tation trat alſo am 10. April 1812 in Berlin eine zweite Notabelnver-
ſammlung von neununddreißig Mitgliedern zuſammen. Diesmal räumte
man der Nation ein Wahlrecht ein. Die achtzehn Ritter wurden unmit-
telbar von den Kreistagen, die zwölf Bürger und neun Bauern durch in-
directe Wahl von den Städten und dem Ruſticalſtande erwählt; die Re-
gierungspräſidenten ſollten aber die Gewählten prüfen, ob ſie einſichtsvolle,
patriotiſche und „vorurtheilsfreie“ Männer ſeien — ein deutlicher Wink
für die Feudalpartei!
Das Bedeutſamſte an dieſem überaus zahmen Repräſentationsver-
ſuche blieb, daß der neugeſchaffene Bauernſtand jetzt durch einige ſelbſt-
gewählte Vertreter an den Berathungen über Staatsangelegenheiten Theil
nahm. Die märkiſchen Stände murrten auch diesmal; ſie beriefen ſich
auf das „allgemeine Mißtrauen“ des Landes gegen die neuen Steuer-
pläne *) und ſetzten durch, daß wieder einige Nebendeputirte aus ihrer
Mitte zugelaſſen wurden. Hardenberg erſchien auch hier wieder als der
Verfechter der neuen Staatseinheit. Er faßte die Stände im modernen
Sinne als eine Intereſſenvertretung, er verlangte, der Repräſentant dürfe
„keinen anderen Richter als ſein Gewiſſen“ anerkennen: wer ſich nach
altſtändiſcher Weiſe an die Aufträge ſeiner Wähler gebunden glaube,
müſſe von den Berathungen ausgeſchloſſen werden. **) In den Provinzen
verſammelten ſich die „Wahldeputirten“, welche die Nationalrepräſentation
gewählt hatten, häufig aus eigenem Antriebe — ganz regelmäßig in Ober-
ſchleſien ***) — um öffentliche Angelegenheiten zu beſprechen und mit
ihren Repräſentanten in Berlin einen regen Verkehr zu unterhalten.
Der Sinn für das politiſche Leben begann überall im Volke zu erwachen.
Die Wirkſamkeit der Nationalrepräſentation blieb gleichwohl ſogar noch
geringfügiger als die Thätigkeit der erſten Notabelnverſammlung. Ihre
häufig unterbrochenen Verhandlungen bewegten ſich weſentlich um die
Regulirung des Kriegsſchuldenweſens und brachten ſelbſt dieſe Angelegen-
heit nicht ins Reine. Kamen andere Fragen zur Beſprechung, ſo zeigte
ſich ſtets ein ſtreng conſervativer, den Reformen feindlicher Geiſt; der
Staatskanzler mußte ſich bald überzeugen, daß er die Ausgleichung der
Grundſteuer gegen den zähen paſſiven Widerſtand des Landadels für jetzt
noch nicht durchſetzen könne. Der Eifer der Repräſentanten und ihrer
*) Eingabe der neumärkiſchen Stände, 4. Dec. 1812.
**) Inſtruction des Staatskanzlers an die Regierungen, 11. Febr. 1812.
***) Bericht der Regierung in Oppeln 24. Oct. 1816.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 378. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/394>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.