Nichts unheimlicher im Leben der Völker als das langsame Nach- wirken der historischen Schuld. Wie viel schwere Arbeit war nun schon aufgewendet von den besten Männern des deutschen Nordens um die Unterlassungssünden des unseligen Jahrzehntes vor 1806 zu sühnen. Fester denn je stand die alte Königstreue der Preußen, ein neuer freier Geist belebte das Heer und die Verwaltung; was aber in Friedrichs Tagen der schönste und eigenthümlichste Vorzug der preußischen Politik gewesen, die stolze freimüthige Offenheit des Handelns blieb dem gedrückten Staate versagt. Als die Krone sich endlich anschickte Gewaltthat und Treubruch mit dem Schwerte abzuwehren, den wagnißvollen Kampf für die Herstellung Deutschlands und die Freiheit der Welt zu beginnen, da fand sie sich außer Stande das Gerechte und Nothwendige mit Gradsinn und Würde zu thun. Sie war gezwungen zu einem zweizüngigen Spiele, das tausende ehrlicher Gewissen beirrte und quälte, viele der Treuesten zu einem eigenmächtigen, für den Bestand der monarchischen Ordnung hochgefährlichen Vorgehen nöthigte.
Zu Anfang des Jahres standen etwa 40,000 Mann napoleonischer Truppen in Ostpreußen, 10,000 in Polen, 70,000 in den Festungen der Weichsel- und Oderlinie; die Marken nebst den Uebergängen über die Oder hielt Augereau mit dem noch ganz unberührten elften Armeecorps, mehr als 20,000 Mann, besetzt, und täglich trafen frische Zuzüge aus dem Westen ein also daß die Garnison von Berlin allein bald auf 24,000 Mann stieg. Genug, übergenug um die schwache, an vier weit entlegenen Stellen vertheilte preußische Armee in Schranken zu halten. Das gelichtete Corps Yorks überschritt soeben die litthauische Grenze, an der Weichsel bildete Bülow ein Reservecorps, um Kolberg befehligte General Borstell die pommerschen Regimenter, während eine vierte Abtheilung, die nachher unter Blüchers Befehle gestellt wurde, sich in Schlesien versam- melte. Als die jammervollen Trümmer der großen Armee ins Land kamen, wurde der König von manchen Heißspornen mit Bitten bestürmt, er möge gestatten, daß man sich nach Spanierart auf diese Flüchtlinge
Vierter Abſchnitt. Der Befreiungskrieg.
Nichts unheimlicher im Leben der Völker als das langſame Nach- wirken der hiſtoriſchen Schuld. Wie viel ſchwere Arbeit war nun ſchon aufgewendet von den beſten Männern des deutſchen Nordens um die Unterlaſſungsſünden des unſeligen Jahrzehntes vor 1806 zu ſühnen. Feſter denn je ſtand die alte Königstreue der Preußen, ein neuer freier Geiſt belebte das Heer und die Verwaltung; was aber in Friedrichs Tagen der ſchönſte und eigenthümlichſte Vorzug der preußiſchen Politik geweſen, die ſtolze freimüthige Offenheit des Handelns blieb dem gedrückten Staate verſagt. Als die Krone ſich endlich anſchickte Gewaltthat und Treubruch mit dem Schwerte abzuwehren, den wagnißvollen Kampf für die Herſtellung Deutſchlands und die Freiheit der Welt zu beginnen, da fand ſie ſich außer Stande das Gerechte und Nothwendige mit Gradſinn und Würde zu thun. Sie war gezwungen zu einem zweizüngigen Spiele, das tauſende ehrlicher Gewiſſen beirrte und quälte, viele der Treueſten zu einem eigenmächtigen, für den Beſtand der monarchiſchen Ordnung hochgefährlichen Vorgehen nöthigte.
Zu Anfang des Jahres ſtanden etwa 40,000 Mann napoleoniſcher Truppen in Oſtpreußen, 10,000 in Polen, 70,000 in den Feſtungen der Weichſel- und Oderlinie; die Marken nebſt den Uebergängen über die Oder hielt Augereau mit dem noch ganz unberührten elften Armeecorps, mehr als 20,000 Mann, beſetzt, und täglich trafen friſche Zuzüge aus dem Weſten ein alſo daß die Garniſon von Berlin allein bald auf 24,000 Mann ſtieg. Genug, übergenug um die ſchwache, an vier weit entlegenen Stellen vertheilte preußiſche Armee in Schranken zu halten. Das gelichtete Corps Yorks überſchritt ſoeben die litthauiſche Grenze, an der Weichſel bildete Bülow ein Reſervecorps, um Kolberg befehligte General Borſtell die pommerſchen Regimenter, während eine vierte Abtheilung, die nachher unter Blüchers Befehle geſtellt wurde, ſich in Schleſien verſam- melte. Als die jammervollen Trümmer der großen Armee ins Land kamen, wurde der König von manchen Heißſpornen mit Bitten beſtürmt, er möge geſtatten, daß man ſich nach Spanierart auf dieſe Flüchtlinge
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[[405]/0421]
Vierter Abſchnitt.
Der Befreiungskrieg.
Nichts unheimlicher im Leben der Völker als das langſame Nach-
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aufgewendet von den beſten Männern des deutſchen Nordens um die
Unterlaſſungsſünden des unſeligen Jahrzehntes vor 1806 zu ſühnen.
Feſter denn je ſtand die alte Königstreue der Preußen, ein neuer freier
Geiſt belebte das Heer und die Verwaltung; was aber in Friedrichs
Tagen der ſchönſte und eigenthümlichſte Vorzug der preußiſchen Politik
geweſen, die ſtolze freimüthige Offenheit des Handelns blieb dem gedrückten
Staate verſagt. Als die Krone ſich endlich anſchickte Gewaltthat und
Treubruch mit dem Schwerte abzuwehren, den wagnißvollen Kampf für
die Herſtellung Deutſchlands und die Freiheit der Welt zu beginnen, da
fand ſie ſich außer Stande das Gerechte und Nothwendige mit Gradſinn
und Würde zu thun. Sie war gezwungen zu einem zweizüngigen Spiele,
das tauſende ehrlicher Gewiſſen beirrte und quälte, viele der Treueſten
zu einem eigenmächtigen, für den Beſtand der monarchiſchen Ordnung
hochgefährlichen Vorgehen nöthigte.
Zu Anfang des Jahres ſtanden etwa 40,000 Mann napoleoniſcher
Truppen in Oſtpreußen, 10,000 in Polen, 70,000 in den Feſtungen der
Weichſel- und Oderlinie; die Marken nebſt den Uebergängen über die
Oder hielt Augereau mit dem noch ganz unberührten elften Armeecorps,
mehr als 20,000 Mann, beſetzt, und täglich trafen friſche Zuzüge aus
dem Weſten ein alſo daß die Garniſon von Berlin allein bald auf
24,000 Mann ſtieg. Genug, übergenug um die ſchwache, an vier weit
entlegenen Stellen vertheilte preußiſche Armee in Schranken zu halten.
Das gelichtete Corps Yorks überſchritt ſoeben die litthauiſche Grenze, an
der Weichſel bildete Bülow ein Reſervecorps, um Kolberg befehligte General
Borſtell die pommerſchen Regimenter, während eine vierte Abtheilung, die
nachher unter Blüchers Befehle geſtellt wurde, ſich in Schleſien verſam-
melte. Als die jammervollen Trümmer der großen Armee ins Land
kamen, wurde der König von manchen Heißſpornen mit Bitten beſtürmt,
er möge geſtatten, daß man ſich nach Spanierart auf dieſe Flüchtlinge
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. [405]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/421>, abgerufen am 22.11.2024.
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