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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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I. 1. Deutschland nach dem Westphälischen Frieden.
Beinen gleich dem Koloß von Rhodus stand er über den deutschen
Landen und stemmte seine Füße auf die bedrohten Marken am Rhein
und Memelstrom.

Eine Macht in solcher Lage konnte nicht mehr in dem engen Ge-
sichtskreise deutscher Territorialpolitik verharren; sie mußte versuchen ihre
weithin zerstreuten Gebiete zu einer haltbaren Masse abzurunden, sie war
gezwungen für das Reich zu handeln und zu schlagen, denn jeder Angriff
der Fremden auf deutschen Boden schnitt ihr in ihr eignes Fleisch. Und
dieser Staat, der nur deutsches Land beherrschte, stand doch der Reichs-
gewalt in glücklicher Unabhängigkeit gegenüber. Jenen Reichsständen, deren
Gebiete allesammt innerhalb der Reichsgrenzen lagen, war eine selbständige
europäische Politik immerhin erschwert; andere Fürstengeschlechter, die sich
durch die Erwerbung ausländischer Kronen den hemmenden Fesseln der
Reichsverfassung entzogen, gingen dem deutschen Leben verloren. Auch dem
Hause Brandenburg sind oftmals lockende Rufe aus der Ferne erklungen:
die Herrschaft in Schweden, in Polen, in den Niederlanden, in England
schien ihm offen zu stehen. Doch immer hat bald die Macht der Um-
stände bald die verständige Selbstbeschränkung des Fürstengeschlechts diese
gefährlichen Versuchungen abgewiesen. Eine segensreiche Fügung, die dem
ernsten Sinne nicht als Zufall gelten darf, nöthigte die Hohenzollern in
Deutschland zu verbleiben. Sie bedurften der fremden Kronen nicht;
denn sie dankten ihre unabhängige Stellung in der Staatengesellschaft dem
Besitze des Herzogthums Preußen, eines kerndeutschen Landes, das mit
allen Wurzeln seines Lebens an dem Mutterlande hing und gleichwohl
dem staatsrechtlichen Verbande des Reichs nicht angehörte. Also mit dem
einen Fuß im Reiche, mit dem anderen draußen stehend, gewann der
preußische Staat das Recht, eine europäische Politik zu führen, die nur
deutsche Ziele verfolgen konnte. Er durfte für Deutschland sorgen, ohne
nach dem Reiche und seinen verrotteten Formen zu fragen.

Dem Historiker ist nicht gestattet, nach der Weise der Naturforscher
das Spätere aus dem Früheren einfach abzuleiten. Männer machen die
Geschichte. Die Gunst der Weltlage wird im Völkerleben wirksam erst
durch den bewußten Menschenwillen, der sie zu benutzen weiß. Noch
einmal stürzte der Staat der Hohenzollern von seiner kaum errungenen
Machtstellung herab; er trieb dem Untergange entgegen, solange Johann
Sigismunds Nachfolger Georg Wilhelm aus matten Augen schläfrig in
die Welt blickte. Auch dieser neue Versuch deutscher Staatenbildung
schien wieder in der Armseligkeit der Kleinstaaterei zu enden, wie vormals
die unter ungleich günstigeren Anzeichen aufgestiegenen Mächte der Welfen,
der Wettiner, der Pfälzer. Da trat als ein Fürst ohne Land, mit einem
Stecken und einer Schleuder Kurfürst Friedrich Wilhelm ein in das
verwüstete deutsche Leben, der größte deutsche Mann seiner Tage, und
beseelte die schlummernden Kräfte seines Staates mit der Macht des

I. 1. Deutſchland nach dem Weſtphäliſchen Frieden.
Beinen gleich dem Koloß von Rhodus ſtand er über den deutſchen
Landen und ſtemmte ſeine Füße auf die bedrohten Marken am Rhein
und Memelſtrom.

Eine Macht in ſolcher Lage konnte nicht mehr in dem engen Ge-
ſichtskreiſe deutſcher Territorialpolitik verharren; ſie mußte verſuchen ihre
weithin zerſtreuten Gebiete zu einer haltbaren Maſſe abzurunden, ſie war
gezwungen für das Reich zu handeln und zu ſchlagen, denn jeder Angriff
der Fremden auf deutſchen Boden ſchnitt ihr in ihr eignes Fleiſch. Und
dieſer Staat, der nur deutſches Land beherrſchte, ſtand doch der Reichs-
gewalt in glücklicher Unabhängigkeit gegenüber. Jenen Reichsſtänden, deren
Gebiete alleſammt innerhalb der Reichsgrenzen lagen, war eine ſelbſtändige
europäiſche Politik immerhin erſchwert; andere Fürſtengeſchlechter, die ſich
durch die Erwerbung ausländiſcher Kronen den hemmenden Feſſeln der
Reichsverfaſſung entzogen, gingen dem deutſchen Leben verloren. Auch dem
Hauſe Brandenburg ſind oftmals lockende Rufe aus der Ferne erklungen:
die Herrſchaft in Schweden, in Polen, in den Niederlanden, in England
ſchien ihm offen zu ſtehen. Doch immer hat bald die Macht der Um-
ſtände bald die verſtändige Selbſtbeſchränkung des Fürſtengeſchlechts dieſe
gefährlichen Verſuchungen abgewieſen. Eine ſegensreiche Fügung, die dem
ernſten Sinne nicht als Zufall gelten darf, nöthigte die Hohenzollern in
Deutſchland zu verbleiben. Sie bedurften der fremden Kronen nicht;
denn ſie dankten ihre unabhängige Stellung in der Staatengeſellſchaft dem
Beſitze des Herzogthums Preußen, eines kerndeutſchen Landes, das mit
allen Wurzeln ſeines Lebens an dem Mutterlande hing und gleichwohl
dem ſtaatsrechtlichen Verbande des Reichs nicht angehörte. Alſo mit dem
einen Fuß im Reiche, mit dem anderen draußen ſtehend, gewann der
preußiſche Staat das Recht, eine europäiſche Politik zu führen, die nur
deutſche Ziele verfolgen konnte. Er durfte für Deutſchland ſorgen, ohne
nach dem Reiche und ſeinen verrotteten Formen zu fragen.

Dem Hiſtoriker iſt nicht geſtattet, nach der Weiſe der Naturforſcher
das Spätere aus dem Früheren einfach abzuleiten. Männer machen die
Geſchichte. Die Gunſt der Weltlage wird im Völkerleben wirkſam erſt
durch den bewußten Menſchenwillen, der ſie zu benutzen weiß. Noch
einmal ſtürzte der Staat der Hohenzollern von ſeiner kaum errungenen
Machtſtellung herab; er trieb dem Untergange entgegen, ſolange Johann
Sigismunds Nachfolger Georg Wilhelm aus matten Augen ſchläfrig in
die Welt blickte. Auch dieſer neue Verſuch deutſcher Staatenbildung
ſchien wieder in der Armſeligkeit der Kleinſtaaterei zu enden, wie vormals
die unter ungleich günſtigeren Anzeichen aufgeſtiegenen Mächte der Welfen,
der Wettiner, der Pfälzer. Da trat als ein Fürſt ohne Land, mit einem
Stecken und einer Schleuder Kurfürſt Friedrich Wilhelm ein in das
verwüſtete deutſche Leben, der größte deutſche Mann ſeiner Tage, und
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[28/0044] I. 1. Deutſchland nach dem Weſtphäliſchen Frieden. Beinen gleich dem Koloß von Rhodus ſtand er über den deutſchen Landen und ſtemmte ſeine Füße auf die bedrohten Marken am Rhein und Memelſtrom. Eine Macht in ſolcher Lage konnte nicht mehr in dem engen Ge- ſichtskreiſe deutſcher Territorialpolitik verharren; ſie mußte verſuchen ihre weithin zerſtreuten Gebiete zu einer haltbaren Maſſe abzurunden, ſie war gezwungen für das Reich zu handeln und zu ſchlagen, denn jeder Angriff der Fremden auf deutſchen Boden ſchnitt ihr in ihr eignes Fleiſch. Und dieſer Staat, der nur deutſches Land beherrſchte, ſtand doch der Reichs- gewalt in glücklicher Unabhängigkeit gegenüber. Jenen Reichsſtänden, deren Gebiete alleſammt innerhalb der Reichsgrenzen lagen, war eine ſelbſtändige europäiſche Politik immerhin erſchwert; andere Fürſtengeſchlechter, die ſich durch die Erwerbung ausländiſcher Kronen den hemmenden Feſſeln der Reichsverfaſſung entzogen, gingen dem deutſchen Leben verloren. Auch dem Hauſe Brandenburg ſind oftmals lockende Rufe aus der Ferne erklungen: die Herrſchaft in Schweden, in Polen, in den Niederlanden, in England ſchien ihm offen zu ſtehen. Doch immer hat bald die Macht der Um- ſtände bald die verſtändige Selbſtbeſchränkung des Fürſtengeſchlechts dieſe gefährlichen Verſuchungen abgewieſen. Eine ſegensreiche Fügung, die dem ernſten Sinne nicht als Zufall gelten darf, nöthigte die Hohenzollern in Deutſchland zu verbleiben. Sie bedurften der fremden Kronen nicht; denn ſie dankten ihre unabhängige Stellung in der Staatengeſellſchaft dem Beſitze des Herzogthums Preußen, eines kerndeutſchen Landes, das mit allen Wurzeln ſeines Lebens an dem Mutterlande hing und gleichwohl dem ſtaatsrechtlichen Verbande des Reichs nicht angehörte. Alſo mit dem einen Fuß im Reiche, mit dem anderen draußen ſtehend, gewann der preußiſche Staat das Recht, eine europäiſche Politik zu führen, die nur deutſche Ziele verfolgen konnte. Er durfte für Deutſchland ſorgen, ohne nach dem Reiche und ſeinen verrotteten Formen zu fragen. Dem Hiſtoriker iſt nicht geſtattet, nach der Weiſe der Naturforſcher das Spätere aus dem Früheren einfach abzuleiten. Männer machen die Geſchichte. Die Gunſt der Weltlage wird im Völkerleben wirkſam erſt durch den bewußten Menſchenwillen, der ſie zu benutzen weiß. Noch einmal ſtürzte der Staat der Hohenzollern von ſeiner kaum errungenen Machtſtellung herab; er trieb dem Untergange entgegen, ſolange Johann Sigismunds Nachfolger Georg Wilhelm aus matten Augen ſchläfrig in die Welt blickte. Auch dieſer neue Verſuch deutſcher Staatenbildung ſchien wieder in der Armſeligkeit der Kleinſtaaterei zu enden, wie vormals die unter ungleich günſtigeren Anzeichen aufgeſtiegenen Mächte der Welfen, der Wettiner, der Pfälzer. Da trat als ein Fürſt ohne Land, mit einem Stecken und einer Schleuder Kurfürſt Friedrich Wilhelm ein in das verwüſtete deutſche Leben, der größte deutſche Mann ſeiner Tage, und beſeelte die ſchlummernden Kräfte ſeines Staates mit der Macht des

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 28. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/44>, abgerufen am 23.11.2024.