Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

Bild:
<< vorherige Seite

I. 4. Der Befreiungskrieg.
die Macht, welche es vor dem Kriege von 1806 besaß, wieder erlangt
habe; er verbürgte seinem Verbündeten den Besitz Altpreußens sowie der
polnischen Landstriche, welche die Verbindung zwischen Schlesien und West-
preußen bildeten; er versprach endlich, daß die in Norddeutschland zu er-
wartenden Eroberungen, mit Ausnahme der Besitzungen des Hauses
Hannover, zur Entschädigung Preußens, zur Bildung eines abgerundeten
und zusammenhängenden preußischen Staatsgebietes verwendet werden
sollten. In einem zärtlichen Briefe dankte Alexander seinem Freunde:
er habe, schrieb er, an dieser schnellen und offenen Art das Herz des
Königs erkannt.

Der Kalischer Vertrag war durch die Lage der Dinge vollkommen
gerechtfertigt; um einen geringeren Preis ließ sich Rußlands Hilfe nicht
erlangen. Wie Cavour das Nothwendige that als er Savoyen und Nizza
preisgab für die Befreiung Oberitaliens, ebenso und mit weit besserem
Rechte opferte in ähnlicher Lage König Friedrich Wilhelm der Befreiung
Deutschlands einen Theil seiner polnischen Ansprüche, die er selbst als
eine Last für Preußen ansah. Er gewann dafür jenes westliche Stück
Polens, dessen sein Staat nicht entbehren konnte, und eine feste Zusage
vollständiger Entschädigung in Deutschland -- ein Versprechen das Czar
Alexander ritterlich gehalten hat. Daß der Vertrag weder die künftige
Ostgrenze noch die norddeutschen Entschädigungslande bestimmt bezeichnete,
war für Preußen sehr nachtheilig, aber ganz unvermeidlich; wer wußte
denn in jenem Augenblicke, welche Lande das gute Schwert der Verbün-
deten erobern würde? Um Preußen nicht allein mit unsicheren Hoffnun-
gen abzuspeisen, wurde nachher zwischen den beiden Verbündeten der
Grundsatz mündlich vereinbart und auch thatsächlich ausgeführt, daß alle
altpreußischen Gebiete in Deutschland, die man zurück eroberte, sofort
wieder unter preußische Verwaltung gestellt werden sollten.

Aus dem Kalischer Bunde erwuchs eine sehr feste Interessengemein-
schaft der beiden Höfe. Je weiter die Waffen der Verbündeten westwärts
drangen, je mehr deutsches Gebiet zur Entschädigung Preußens frei ward,
um so gewisser mußte Rußland seine polnischen Ansprüche steigern; das
ließ sich nach den Ueberlieferungen der russischen Politik nicht anders er-
warten und billigerweise auch nicht tadeln, nach einem Siegeszuge, der
die Fahnen Rußlands von der Moskwa bis zum Rheine führte. Nicht
allein die beredten Mahnungen des Freiherrn vom Stein -- wie hoch
man auch ihren Einfluß auf Alexanders erregbaren Sinn anschlagen
mag -- auch nicht allein die stolzen Träume der Weltbefreiung, sondern
zu allermeist seine polnischen Pläne bestimmten den Czaren, den deutschen
Krieg mit Nachdruck zu führen: er kämpfte am Rhein für seine polnische
Eroberung, wurde durch sein eigenstes Interesse ein treuer Verbündeter
der deutschen Patrioten. Der faule Fleck des Kalischer Vertrages lag
allein in jenen Plänen der Wiederherstellung Polens, welche der Czar

I. 4. Der Befreiungskrieg.
die Macht, welche es vor dem Kriege von 1806 beſaß, wieder erlangt
habe; er verbürgte ſeinem Verbündeten den Beſitz Altpreußens ſowie der
polniſchen Landſtriche, welche die Verbindung zwiſchen Schleſien und Weſt-
preußen bildeten; er verſprach endlich, daß die in Norddeutſchland zu er-
wartenden Eroberungen, mit Ausnahme der Beſitzungen des Hauſes
Hannover, zur Entſchädigung Preußens, zur Bildung eines abgerundeten
und zuſammenhängenden preußiſchen Staatsgebietes verwendet werden
ſollten. In einem zärtlichen Briefe dankte Alexander ſeinem Freunde:
er habe, ſchrieb er, an dieſer ſchnellen und offenen Art das Herz des
Königs erkannt.

Der Kaliſcher Vertrag war durch die Lage der Dinge vollkommen
gerechtfertigt; um einen geringeren Preis ließ ſich Rußlands Hilfe nicht
erlangen. Wie Cavour das Nothwendige that als er Savoyen und Nizza
preisgab für die Befreiung Oberitaliens, ebenſo und mit weit beſſerem
Rechte opferte in ähnlicher Lage König Friedrich Wilhelm der Befreiung
Deutſchlands einen Theil ſeiner polniſchen Anſprüche, die er ſelbſt als
eine Laſt für Preußen anſah. Er gewann dafür jenes weſtliche Stück
Polens, deſſen ſein Staat nicht entbehren konnte, und eine feſte Zuſage
vollſtändiger Entſchädigung in Deutſchland — ein Verſprechen das Czar
Alexander ritterlich gehalten hat. Daß der Vertrag weder die künftige
Oſtgrenze noch die norddeutſchen Entſchädigungslande beſtimmt bezeichnete,
war für Preußen ſehr nachtheilig, aber ganz unvermeidlich; wer wußte
denn in jenem Augenblicke, welche Lande das gute Schwert der Verbün-
deten erobern würde? Um Preußen nicht allein mit unſicheren Hoffnun-
gen abzuſpeiſen, wurde nachher zwiſchen den beiden Verbündeten der
Grundſatz mündlich vereinbart und auch thatſächlich ausgeführt, daß alle
altpreußiſchen Gebiete in Deutſchland, die man zurück eroberte, ſofort
wieder unter preußiſche Verwaltung geſtellt werden ſollten.

Aus dem Kaliſcher Bunde erwuchs eine ſehr feſte Intereſſengemein-
ſchaft der beiden Höfe. Je weiter die Waffen der Verbündeten weſtwärts
drangen, je mehr deutſches Gebiet zur Entſchädigung Preußens frei ward,
um ſo gewiſſer mußte Rußland ſeine polniſchen Anſprüche ſteigern; das
ließ ſich nach den Ueberlieferungen der ruſſiſchen Politik nicht anders er-
warten und billigerweiſe auch nicht tadeln, nach einem Siegeszuge, der
die Fahnen Rußlands von der Moskwa bis zum Rheine führte. Nicht
allein die beredten Mahnungen des Freiherrn vom Stein — wie hoch
man auch ihren Einfluß auf Alexanders erregbaren Sinn anſchlagen
mag — auch nicht allein die ſtolzen Träume der Weltbefreiung, ſondern
zu allermeiſt ſeine polniſchen Pläne beſtimmten den Czaren, den deutſchen
Krieg mit Nachdruck zu führen: er kämpfte am Rhein für ſeine polniſche
Eroberung, wurde durch ſein eigenſtes Intereſſe ein treuer Verbündeter
der deutſchen Patrioten. Der faule Fleck des Kaliſcher Vertrages lag
allein in jenen Plänen der Wiederherſtellung Polens, welche der Czar

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0440" n="424"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">I.</hi> 4. Der Befreiungskrieg.</fw><lb/>
die Macht, welche es vor dem Kriege von 1806 be&#x017F;aß, wieder erlangt<lb/>
habe; er verbürgte &#x017F;einem Verbündeten den Be&#x017F;itz Altpreußens &#x017F;owie der<lb/>
polni&#x017F;chen Land&#x017F;triche, welche die Verbindung zwi&#x017F;chen Schle&#x017F;ien und We&#x017F;t-<lb/>
preußen bildeten; er ver&#x017F;prach endlich, daß die in Norddeut&#x017F;chland zu er-<lb/>
wartenden Eroberungen, mit Ausnahme der Be&#x017F;itzungen des Hau&#x017F;es<lb/>
Hannover, zur Ent&#x017F;chädigung Preußens, zur Bildung eines abgerundeten<lb/>
und zu&#x017F;ammenhängenden preußi&#x017F;chen Staatsgebietes verwendet werden<lb/>
&#x017F;ollten. In einem zärtlichen Briefe dankte Alexander &#x017F;einem Freunde:<lb/>
er habe, &#x017F;chrieb er, an die&#x017F;er &#x017F;chnellen und offenen Art das Herz des<lb/>
Königs erkannt.</p><lb/>
            <p>Der Kali&#x017F;cher Vertrag war durch die Lage der Dinge vollkommen<lb/>
gerechtfertigt; um einen geringeren Preis ließ &#x017F;ich Rußlands Hilfe nicht<lb/>
erlangen. Wie Cavour das Nothwendige that als er Savoyen und Nizza<lb/>
preisgab für die Befreiung Oberitaliens, eben&#x017F;o und mit weit be&#x017F;&#x017F;erem<lb/>
Rechte opferte in ähnlicher Lage König Friedrich Wilhelm der Befreiung<lb/>
Deut&#x017F;chlands einen Theil &#x017F;einer polni&#x017F;chen An&#x017F;prüche, die er &#x017F;elb&#x017F;t als<lb/>
eine La&#x017F;t für Preußen an&#x017F;ah. Er gewann dafür jenes we&#x017F;tliche Stück<lb/>
Polens, de&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ein Staat nicht entbehren konnte, und eine fe&#x017F;te Zu&#x017F;age<lb/>
voll&#x017F;tändiger Ent&#x017F;chädigung in Deut&#x017F;chland &#x2014; ein Ver&#x017F;prechen das Czar<lb/>
Alexander ritterlich gehalten hat. Daß der Vertrag weder die künftige<lb/>
O&#x017F;tgrenze noch die norddeut&#x017F;chen Ent&#x017F;chädigungslande be&#x017F;timmt bezeichnete,<lb/>
war für Preußen &#x017F;ehr nachtheilig, aber ganz unvermeidlich; wer wußte<lb/>
denn in jenem Augenblicke, welche Lande das gute Schwert der Verbün-<lb/>
deten erobern würde? Um Preußen nicht allein mit un&#x017F;icheren Hoffnun-<lb/>
gen abzu&#x017F;pei&#x017F;en, wurde nachher zwi&#x017F;chen den beiden Verbündeten der<lb/>
Grund&#x017F;atz mündlich vereinbart und auch that&#x017F;ächlich ausgeführt, daß alle<lb/>
altpreußi&#x017F;chen Gebiete in Deut&#x017F;chland, die man zurück eroberte, &#x017F;ofort<lb/>
wieder unter preußi&#x017F;che Verwaltung ge&#x017F;tellt werden &#x017F;ollten.</p><lb/>
            <p>Aus dem Kali&#x017F;cher Bunde erwuchs eine &#x017F;ehr fe&#x017F;te Intere&#x017F;&#x017F;engemein-<lb/>
&#x017F;chaft der beiden Höfe. Je weiter die Waffen der Verbündeten we&#x017F;twärts<lb/>
drangen, je mehr deut&#x017F;ches Gebiet zur Ent&#x017F;chädigung Preußens frei ward,<lb/>
um &#x017F;o gewi&#x017F;&#x017F;er mußte Rußland &#x017F;eine polni&#x017F;chen An&#x017F;prüche &#x017F;teigern; das<lb/>
ließ &#x017F;ich nach den Ueberlieferungen der ru&#x017F;&#x017F;i&#x017F;chen Politik nicht anders er-<lb/>
warten und billigerwei&#x017F;e auch nicht tadeln, nach einem Siegeszuge, der<lb/>
die Fahnen Rußlands von der Moskwa bis zum Rheine führte. Nicht<lb/>
allein die beredten Mahnungen des Freiherrn vom Stein &#x2014; wie hoch<lb/>
man auch ihren Einfluß auf Alexanders erregbaren Sinn an&#x017F;chlagen<lb/>
mag &#x2014; auch nicht allein die &#x017F;tolzen Träume der Weltbefreiung, &#x017F;ondern<lb/>
zu allermei&#x017F;t &#x017F;eine polni&#x017F;chen Pläne be&#x017F;timmten den Czaren, den deut&#x017F;chen<lb/>
Krieg mit Nachdruck zu führen: er kämpfte am Rhein für &#x017F;eine polni&#x017F;che<lb/>
Eroberung, wurde durch &#x017F;ein eigen&#x017F;tes Intere&#x017F;&#x017F;e ein treuer Verbündeter<lb/>
der deut&#x017F;chen Patrioten. Der faule Fleck des Kali&#x017F;cher Vertrages lag<lb/>
allein in jenen Plänen der Wiederher&#x017F;tellung Polens, welche der Czar<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[424/0440] I. 4. Der Befreiungskrieg. die Macht, welche es vor dem Kriege von 1806 beſaß, wieder erlangt habe; er verbürgte ſeinem Verbündeten den Beſitz Altpreußens ſowie der polniſchen Landſtriche, welche die Verbindung zwiſchen Schleſien und Weſt- preußen bildeten; er verſprach endlich, daß die in Norddeutſchland zu er- wartenden Eroberungen, mit Ausnahme der Beſitzungen des Hauſes Hannover, zur Entſchädigung Preußens, zur Bildung eines abgerundeten und zuſammenhängenden preußiſchen Staatsgebietes verwendet werden ſollten. In einem zärtlichen Briefe dankte Alexander ſeinem Freunde: er habe, ſchrieb er, an dieſer ſchnellen und offenen Art das Herz des Königs erkannt. Der Kaliſcher Vertrag war durch die Lage der Dinge vollkommen gerechtfertigt; um einen geringeren Preis ließ ſich Rußlands Hilfe nicht erlangen. Wie Cavour das Nothwendige that als er Savoyen und Nizza preisgab für die Befreiung Oberitaliens, ebenſo und mit weit beſſerem Rechte opferte in ähnlicher Lage König Friedrich Wilhelm der Befreiung Deutſchlands einen Theil ſeiner polniſchen Anſprüche, die er ſelbſt als eine Laſt für Preußen anſah. Er gewann dafür jenes weſtliche Stück Polens, deſſen ſein Staat nicht entbehren konnte, und eine feſte Zuſage vollſtändiger Entſchädigung in Deutſchland — ein Verſprechen das Czar Alexander ritterlich gehalten hat. Daß der Vertrag weder die künftige Oſtgrenze noch die norddeutſchen Entſchädigungslande beſtimmt bezeichnete, war für Preußen ſehr nachtheilig, aber ganz unvermeidlich; wer wußte denn in jenem Augenblicke, welche Lande das gute Schwert der Verbün- deten erobern würde? Um Preußen nicht allein mit unſicheren Hoffnun- gen abzuſpeiſen, wurde nachher zwiſchen den beiden Verbündeten der Grundſatz mündlich vereinbart und auch thatſächlich ausgeführt, daß alle altpreußiſchen Gebiete in Deutſchland, die man zurück eroberte, ſofort wieder unter preußiſche Verwaltung geſtellt werden ſollten. Aus dem Kaliſcher Bunde erwuchs eine ſehr feſte Intereſſengemein- ſchaft der beiden Höfe. Je weiter die Waffen der Verbündeten weſtwärts drangen, je mehr deutſches Gebiet zur Entſchädigung Preußens frei ward, um ſo gewiſſer mußte Rußland ſeine polniſchen Anſprüche ſteigern; das ließ ſich nach den Ueberlieferungen der ruſſiſchen Politik nicht anders er- warten und billigerweiſe auch nicht tadeln, nach einem Siegeszuge, der die Fahnen Rußlands von der Moskwa bis zum Rheine führte. Nicht allein die beredten Mahnungen des Freiherrn vom Stein — wie hoch man auch ihren Einfluß auf Alexanders erregbaren Sinn anſchlagen mag — auch nicht allein die ſtolzen Träume der Weltbefreiung, ſondern zu allermeiſt ſeine polniſchen Pläne beſtimmten den Czaren, den deutſchen Krieg mit Nachdruck zu führen: er kämpfte am Rhein für ſeine polniſche Eroberung, wurde durch ſein eigenſtes Intereſſe ein treuer Verbündeter der deutſchen Patrioten. Der faule Fleck des Kaliſcher Vertrages lag allein in jenen Plänen der Wiederherſtellung Polens, welche der Czar

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/440
Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 424. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/440>, abgerufen am 05.06.2024.