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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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I. 4. Der Befreiungskrieg.
nicht in der Linie dienten, die Wehrmänner auszuloosen; zwei General-
commissare, ein königlicher und ein ständischer, leiteten die Aushebung und
Ausrüstung in jeder Provinz. Die Mannschaften trugen an Kragen und
Mütze die Farben ihrer Provinz, die Offiziere die Uniform der Landstände.
Die Formation der Bataillone und Compagnien folgte so weit als mög-
lich den Grenzen der Kreise und Gemeinden, dergestalt daß der Nachbar
in der Regel mit dem Nachbarn in einem Gliede stand; die Offiziere bis
zum Hauptmann aufwärts wurden gewählt, die Stabsoffiziere, zum Theil
auf Vorschlag der Stände, vom Könige ernannt. Gleichwohl war diese
armee bourgeoise, wie Napoleon sie höhnend nannte, keineswegs blos
ein für die Vertheidigung der nächsten Heimath bestimmtes Provinzial-
heer. Vielmehr wurde die Landwehr auf die Kriegsartikel vereidigt und
zu Allem verpflichtet, was dem stehenden Heere oblag; sie war uniformirt --
freilich sehr einfach, mit der Dienstmütze und der Litewka, die sich aus dem
blauen Sonntagsrocke der Bauern leicht zurechtschneiden ließ -- und der
König behielt sich vor, die einzelnen Wehrmänner oder auch ganze Batail-
lone zur Feldarmee heranzurufen. Die gesammte männliche Bevölkerung
bis zum vierzigsten Jahre sollte also, wenn es noth that, zur Verstärkung
der offensiven Streitkräfte des Staates dienen; die Ostpreußen mußten
auf Befehl des Königs ihren enger gedachten Entwurf abändern, ihre
Landwehr ebenfalls zum Dienste außerhalb der Provinz verpflichten. Die
Mehrzahl der Mannschaften bestand aus Bauern und kleinen Leuten,
zumal in Schlesien, wo fast alle gebildeten jungen Leute bei den freiwil-
ligen Jägern eingetreten waren. Die Offiziere waren zumeist Gutsbesitzer,
zum Theil auch Beamte oder junge Freiwillige, nur Wenige darunter mili-
tärisch geschult. Für die Ausrüstung konnte der erschöpfte Staat nur küm-
merlich sorgen; das erste Glied des Fußvolks trug Piken, bewaffnete sich
erst im Verlaufe des Kriegs zum Theil mit erbeuteten feindlichen Gewehren.

Monate mußten vergehen bis eine solche Truppe in der Feldschlacht
verwendet werden konnte. Während des Frühjahrsfeldzugs wurde die
Landwehr nur nothdürftig eingeübt oder zum Festungskriege benutzt; erst
nach dem Waffenstillstande rückte sie in größeren Massen ins Feld. Auch
dann noch bildete die Linie, der ja alle höheren Führer und die technischen
Truppen ausschließlich angehörten, selbstverständlich den festen Kern des
Heeres. Kleist hatte unter den 41 Bataillonen seines Corps 16 Land-
wehrbataillone, Bülow unter der gleichen Zahl blos 12; nur in Yorks
Corps überwog die Landwehr -- mit 24 Bataillonen unter 45. Die
Wehrmänner hatten noch eine Zeit lang mit den natürlichen Untugenden
ungeschulter Truppen zu kämpfen: beim ersten Angriff hielten sie nicht
leicht Stand, wenn ein unerwartetes Bataillonsfeuer sie in Schrecken
setzte; kam es zum Handgemenge, dann entlud sich die lang verhaltene
Wuth der Bauern in fürchterlicher Mordgier; nach dem Siege waren sie
schwer wieder zu sammeln, da sie den geschlagenen Feind immer bis an

I. 4. Der Befreiungskrieg.
nicht in der Linie dienten, die Wehrmänner auszulooſen; zwei General-
commiſſare, ein königlicher und ein ſtändiſcher, leiteten die Aushebung und
Ausrüſtung in jeder Provinz. Die Mannſchaften trugen an Kragen und
Mütze die Farben ihrer Provinz, die Offiziere die Uniform der Landſtände.
Die Formation der Bataillone und Compagnien folgte ſo weit als mög-
lich den Grenzen der Kreiſe und Gemeinden, dergeſtalt daß der Nachbar
in der Regel mit dem Nachbarn in einem Gliede ſtand; die Offiziere bis
zum Hauptmann aufwärts wurden gewählt, die Stabsoffiziere, zum Theil
auf Vorſchlag der Stände, vom Könige ernannt. Gleichwohl war dieſe
armée bourgeoise, wie Napoleon ſie höhnend nannte, keineswegs blos
ein für die Vertheidigung der nächſten Heimath beſtimmtes Provinzial-
heer. Vielmehr wurde die Landwehr auf die Kriegsartikel vereidigt und
zu Allem verpflichtet, was dem ſtehenden Heere oblag; ſie war uniformirt —
freilich ſehr einfach, mit der Dienſtmütze und der Litewka, die ſich aus dem
blauen Sonntagsrocke der Bauern leicht zurechtſchneiden ließ — und der
König behielt ſich vor, die einzelnen Wehrmänner oder auch ganze Batail-
lone zur Feldarmee heranzurufen. Die geſammte männliche Bevölkerung
bis zum vierzigſten Jahre ſollte alſo, wenn es noth that, zur Verſtärkung
der offenſiven Streitkräfte des Staates dienen; die Oſtpreußen mußten
auf Befehl des Königs ihren enger gedachten Entwurf abändern, ihre
Landwehr ebenfalls zum Dienſte außerhalb der Provinz verpflichten. Die
Mehrzahl der Mannſchaften beſtand aus Bauern und kleinen Leuten,
zumal in Schleſien, wo faſt alle gebildeten jungen Leute bei den freiwil-
ligen Jägern eingetreten waren. Die Offiziere waren zumeiſt Gutsbeſitzer,
zum Theil auch Beamte oder junge Freiwillige, nur Wenige darunter mili-
täriſch geſchult. Für die Ausrüſtung konnte der erſchöpfte Staat nur küm-
merlich ſorgen; das erſte Glied des Fußvolks trug Piken, bewaffnete ſich
erſt im Verlaufe des Kriegs zum Theil mit erbeuteten feindlichen Gewehren.

Monate mußten vergehen bis eine ſolche Truppe in der Feldſchlacht
verwendet werden konnte. Während des Frühjahrsfeldzugs wurde die
Landwehr nur nothdürftig eingeübt oder zum Feſtungskriege benutzt; erſt
nach dem Waffenſtillſtande rückte ſie in größeren Maſſen ins Feld. Auch
dann noch bildete die Linie, der ja alle höheren Führer und die techniſchen
Truppen ausſchließlich angehörten, ſelbſtverſtändlich den feſten Kern des
Heeres. Kleiſt hatte unter den 41 Bataillonen ſeines Corps 16 Land-
wehrbataillone, Bülow unter der gleichen Zahl blos 12; nur in Yorks
Corps überwog die Landwehr — mit 24 Bataillonen unter 45. Die
Wehrmänner hatten noch eine Zeit lang mit den natürlichen Untugenden
ungeſchulter Truppen zu kämpfen: beim erſten Angriff hielten ſie nicht
leicht Stand, wenn ein unerwartetes Bataillonsfeuer ſie in Schrecken
ſetzte; kam es zum Handgemenge, dann entlud ſich die lang verhaltene
Wuth der Bauern in fürchterlicher Mordgier; nach dem Siege waren ſie
ſchwer wieder zu ſammeln, da ſie den geſchlagenen Feind immer bis an

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[438/0454] I. 4. Der Befreiungskrieg. nicht in der Linie dienten, die Wehrmänner auszulooſen; zwei General- commiſſare, ein königlicher und ein ſtändiſcher, leiteten die Aushebung und Ausrüſtung in jeder Provinz. Die Mannſchaften trugen an Kragen und Mütze die Farben ihrer Provinz, die Offiziere die Uniform der Landſtände. Die Formation der Bataillone und Compagnien folgte ſo weit als mög- lich den Grenzen der Kreiſe und Gemeinden, dergeſtalt daß der Nachbar in der Regel mit dem Nachbarn in einem Gliede ſtand; die Offiziere bis zum Hauptmann aufwärts wurden gewählt, die Stabsoffiziere, zum Theil auf Vorſchlag der Stände, vom Könige ernannt. Gleichwohl war dieſe armée bourgeoise, wie Napoleon ſie höhnend nannte, keineswegs blos ein für die Vertheidigung der nächſten Heimath beſtimmtes Provinzial- heer. Vielmehr wurde die Landwehr auf die Kriegsartikel vereidigt und zu Allem verpflichtet, was dem ſtehenden Heere oblag; ſie war uniformirt — freilich ſehr einfach, mit der Dienſtmütze und der Litewka, die ſich aus dem blauen Sonntagsrocke der Bauern leicht zurechtſchneiden ließ — und der König behielt ſich vor, die einzelnen Wehrmänner oder auch ganze Batail- lone zur Feldarmee heranzurufen. Die geſammte männliche Bevölkerung bis zum vierzigſten Jahre ſollte alſo, wenn es noth that, zur Verſtärkung der offenſiven Streitkräfte des Staates dienen; die Oſtpreußen mußten auf Befehl des Königs ihren enger gedachten Entwurf abändern, ihre Landwehr ebenfalls zum Dienſte außerhalb der Provinz verpflichten. Die Mehrzahl der Mannſchaften beſtand aus Bauern und kleinen Leuten, zumal in Schleſien, wo faſt alle gebildeten jungen Leute bei den freiwil- ligen Jägern eingetreten waren. Die Offiziere waren zumeiſt Gutsbeſitzer, zum Theil auch Beamte oder junge Freiwillige, nur Wenige darunter mili- täriſch geſchult. Für die Ausrüſtung konnte der erſchöpfte Staat nur küm- merlich ſorgen; das erſte Glied des Fußvolks trug Piken, bewaffnete ſich erſt im Verlaufe des Kriegs zum Theil mit erbeuteten feindlichen Gewehren. Monate mußten vergehen bis eine ſolche Truppe in der Feldſchlacht verwendet werden konnte. Während des Frühjahrsfeldzugs wurde die Landwehr nur nothdürftig eingeübt oder zum Feſtungskriege benutzt; erſt nach dem Waffenſtillſtande rückte ſie in größeren Maſſen ins Feld. Auch dann noch bildete die Linie, der ja alle höheren Führer und die techniſchen Truppen ausſchließlich angehörten, ſelbſtverſtändlich den feſten Kern des Heeres. Kleiſt hatte unter den 41 Bataillonen ſeines Corps 16 Land- wehrbataillone, Bülow unter der gleichen Zahl blos 12; nur in Yorks Corps überwog die Landwehr — mit 24 Bataillonen unter 45. Die Wehrmänner hatten noch eine Zeit lang mit den natürlichen Untugenden ungeſchulter Truppen zu kämpfen: beim erſten Angriff hielten ſie nicht leicht Stand, wenn ein unerwartetes Bataillonsfeuer ſie in Schrecken ſetzte; kam es zum Handgemenge, dann entlud ſich die lang verhaltene Wuth der Bauern in fürchterlicher Mordgier; nach dem Siege waren ſie ſchwer wieder zu ſammeln, da ſie den geſchlagenen Feind immer bis an

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 438. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/454>, abgerufen am 22.11.2024.