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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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I. 4. Der Befreiungskrieg.
nach Dresden und Königstein in Napoleons Händen war. Fast auf der
nämlichen Stelle hatte einst König Friedrich sechs Jahre lang eine un-
gleich bedrohlichere Uebermacht in Schach gehalten; warum sollte dem
Kriegsfürsten des neuen Jahrhunderts nicht auch gelingen, durch gewandte
Benutzung der kurzen inneren Operationslinien, die er beherrschte, die
Gegner zu überraschen, ihre weit von einander getrennten Heere vereinzelt
zu schlagen?

Den sittlichen Kräften der Coalition erwuchs aus dem Beitritt Oester-
reichs kein Gewinn. Die kaiserlichen Truppen schlugen sich tapfer wie zu
allen Zeiten; von der stürmischen Begeisterung des norddeutschen Volkes
empfanden sie wenig, weniger sogar als die Russen, die nicht nur ihren
alten Ruhm unerschütterlicher passiver Todesverachtung wieder bewährten,
sondern auch durch das lange Zusammenleben mit den Preußen und durch
die Gunst des Glücks nach und nach Freude gewannen an dem unwillig
begonnenen deutschen Kriege. Der Geist von 1809 erwachte nicht wieder.
Die Völker Oesterreichs sahen sich ungern aufgestört aus der bequemen
Ruhe der jüngsten vier Jahre, sie sprachen ihre Furcht vor einem neuen
Einbruche der französischen Eroberer so lebhaft aus, daß Erzherzog Johann
seinen Grazern Muth einsprechen mußte; sie bemitleideten die ausziehenden
Soldaten und behielten von den Thaten dieses Krieges nichts im Gedächtniß,
während die Erinnerung an Aspern und Wagram in Aller Herzen fortlebte.
Die breite Kluft, welche das geistige Leben der Oesterreicher von den übrigen
Deutschen trennte, wurde durch den Befreiungskrieg nicht überbrückt. Nur
Anstands halber, nur um nicht allzu weit hinter Preußen zurückzubleiben
ließ auch Kaiser Franz eine Deutsche Legion für Freiwillige aus dem
Reiche bilden, ein Freicorps, das niemals irgend eine Bedeutung erlangte.
Die altgewohnte unbehilfliche Schwerfälligkeit der Führung und Verwal-
tung des österreichischen Heeres erregte wieder den Spott der französischen
Soldaten über die Kaiserlicks; glänzenden Kriegsruhm erwarb sich, außer
einigen kühnen Reiteroffizieren, kein einziger der k. k. Generale.

Da die Hofburg den Krieg nur mit halbem Herzen führte, beständig
in Angst vor der nationalen Begeisterung der Preußen und den polnischen
Plänen des Czaren, so konnte sie auch ihren tüchtigsten Feldherrn nicht
verwenden; überdies war Erzherzog Karl seinem mißtrauischen kaiserlichen
Bruder verdächtig und als alter Gegner der russischen Allianz dem Peters-
burger Hofe unwillkommen. Fürst Schwarzenberg erhielt den Oberbefehl,
ein tapferer Reiterführer und ehrenhafter Cavalier, der mit feinem diplo-
matischem Takte die mächtigen streitenden Interessen im großen Haupt-
quartiere auszugleichen, unter den schwierigsten Verhältnissen, trotz der
Anwesenheit von drei Monarchen die buntscheckige Masse der verbün-
deten Heere leidlich zusammenzuhalten verstand; doch dem Genie Napo-
leons fühlte er sich nicht gewachsen, der große Ehrgeiz des geborenen Feld-
herrn blieb ihm fremd. Sein trefflicher Generalstabschef Radetzky besaß

I. 4. Der Befreiungskrieg.
nach Dresden und Königſtein in Napoleons Händen war. Faſt auf der
nämlichen Stelle hatte einſt König Friedrich ſechs Jahre lang eine un-
gleich bedrohlichere Uebermacht in Schach gehalten; warum ſollte dem
Kriegsfürſten des neuen Jahrhunderts nicht auch gelingen, durch gewandte
Benutzung der kurzen inneren Operationslinien, die er beherrſchte, die
Gegner zu überraſchen, ihre weit von einander getrennten Heere vereinzelt
zu ſchlagen?

Den ſittlichen Kräften der Coalition erwuchs aus dem Beitritt Oeſter-
reichs kein Gewinn. Die kaiſerlichen Truppen ſchlugen ſich tapfer wie zu
allen Zeiten; von der ſtürmiſchen Begeiſterung des norddeutſchen Volkes
empfanden ſie wenig, weniger ſogar als die Ruſſen, die nicht nur ihren
alten Ruhm unerſchütterlicher paſſiver Todesverachtung wieder bewährten,
ſondern auch durch das lange Zuſammenleben mit den Preußen und durch
die Gunſt des Glücks nach und nach Freude gewannen an dem unwillig
begonnenen deutſchen Kriege. Der Geiſt von 1809 erwachte nicht wieder.
Die Völker Oeſterreichs ſahen ſich ungern aufgeſtört aus der bequemen
Ruhe der jüngſten vier Jahre, ſie ſprachen ihre Furcht vor einem neuen
Einbruche der franzöſiſchen Eroberer ſo lebhaft aus, daß Erzherzog Johann
ſeinen Grazern Muth einſprechen mußte; ſie bemitleideten die ausziehenden
Soldaten und behielten von den Thaten dieſes Krieges nichts im Gedächtniß,
während die Erinnerung an Aspern und Wagram in Aller Herzen fortlebte.
Die breite Kluft, welche das geiſtige Leben der Oeſterreicher von den übrigen
Deutſchen trennte, wurde durch den Befreiungskrieg nicht überbrückt. Nur
Anſtands halber, nur um nicht allzu weit hinter Preußen zurückzubleiben
ließ auch Kaiſer Franz eine Deutſche Legion für Freiwillige aus dem
Reiche bilden, ein Freicorps, das niemals irgend eine Bedeutung erlangte.
Die altgewohnte unbehilfliche Schwerfälligkeit der Führung und Verwal-
tung des öſterreichiſchen Heeres erregte wieder den Spott der franzöſiſchen
Soldaten über die Kaiſerlicks; glänzenden Kriegsruhm erwarb ſich, außer
einigen kühnen Reiteroffizieren, kein einziger der k. k. Generale.

Da die Hofburg den Krieg nur mit halbem Herzen führte, beſtändig
in Angſt vor der nationalen Begeiſterung der Preußen und den polniſchen
Plänen des Czaren, ſo konnte ſie auch ihren tüchtigſten Feldherrn nicht
verwenden; überdies war Erzherzog Karl ſeinem mißtrauiſchen kaiſerlichen
Bruder verdächtig und als alter Gegner der ruſſiſchen Allianz dem Peters-
burger Hofe unwillkommen. Fürſt Schwarzenberg erhielt den Oberbefehl,
ein tapferer Reiterführer und ehrenhafter Cavalier, der mit feinem diplo-
matiſchem Takte die mächtigen ſtreitenden Intereſſen im großen Haupt-
quartiere auszugleichen, unter den ſchwierigſten Verhältniſſen, trotz der
Anweſenheit von drei Monarchen die buntſcheckige Maſſe der verbün-
deten Heere leidlich zuſammenzuhalten verſtand; doch dem Genie Napo-
leons fühlte er ſich nicht gewachſen, der große Ehrgeiz des geborenen Feld-
herrn blieb ihm fremd. Sein trefflicher Generalſtabschef Radetzky beſaß

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[470/0486] I. 4. Der Befreiungskrieg. nach Dresden und Königſtein in Napoleons Händen war. Faſt auf der nämlichen Stelle hatte einſt König Friedrich ſechs Jahre lang eine un- gleich bedrohlichere Uebermacht in Schach gehalten; warum ſollte dem Kriegsfürſten des neuen Jahrhunderts nicht auch gelingen, durch gewandte Benutzung der kurzen inneren Operationslinien, die er beherrſchte, die Gegner zu überraſchen, ihre weit von einander getrennten Heere vereinzelt zu ſchlagen? Den ſittlichen Kräften der Coalition erwuchs aus dem Beitritt Oeſter- reichs kein Gewinn. Die kaiſerlichen Truppen ſchlugen ſich tapfer wie zu allen Zeiten; von der ſtürmiſchen Begeiſterung des norddeutſchen Volkes empfanden ſie wenig, weniger ſogar als die Ruſſen, die nicht nur ihren alten Ruhm unerſchütterlicher paſſiver Todesverachtung wieder bewährten, ſondern auch durch das lange Zuſammenleben mit den Preußen und durch die Gunſt des Glücks nach und nach Freude gewannen an dem unwillig begonnenen deutſchen Kriege. Der Geiſt von 1809 erwachte nicht wieder. Die Völker Oeſterreichs ſahen ſich ungern aufgeſtört aus der bequemen Ruhe der jüngſten vier Jahre, ſie ſprachen ihre Furcht vor einem neuen Einbruche der franzöſiſchen Eroberer ſo lebhaft aus, daß Erzherzog Johann ſeinen Grazern Muth einſprechen mußte; ſie bemitleideten die ausziehenden Soldaten und behielten von den Thaten dieſes Krieges nichts im Gedächtniß, während die Erinnerung an Aspern und Wagram in Aller Herzen fortlebte. Die breite Kluft, welche das geiſtige Leben der Oeſterreicher von den übrigen Deutſchen trennte, wurde durch den Befreiungskrieg nicht überbrückt. Nur Anſtands halber, nur um nicht allzu weit hinter Preußen zurückzubleiben ließ auch Kaiſer Franz eine Deutſche Legion für Freiwillige aus dem Reiche bilden, ein Freicorps, das niemals irgend eine Bedeutung erlangte. Die altgewohnte unbehilfliche Schwerfälligkeit der Führung und Verwal- tung des öſterreichiſchen Heeres erregte wieder den Spott der franzöſiſchen Soldaten über die Kaiſerlicks; glänzenden Kriegsruhm erwarb ſich, außer einigen kühnen Reiteroffizieren, kein einziger der k. k. Generale. Da die Hofburg den Krieg nur mit halbem Herzen führte, beſtändig in Angſt vor der nationalen Begeiſterung der Preußen und den polniſchen Plänen des Czaren, ſo konnte ſie auch ihren tüchtigſten Feldherrn nicht verwenden; überdies war Erzherzog Karl ſeinem mißtrauiſchen kaiſerlichen Bruder verdächtig und als alter Gegner der ruſſiſchen Allianz dem Peters- burger Hofe unwillkommen. Fürſt Schwarzenberg erhielt den Oberbefehl, ein tapferer Reiterführer und ehrenhafter Cavalier, der mit feinem diplo- matiſchem Takte die mächtigen ſtreitenden Intereſſen im großen Haupt- quartiere auszugleichen, unter den ſchwierigſten Verhältniſſen, trotz der Anweſenheit von drei Monarchen die buntſcheckige Maſſe der verbün- deten Heere leidlich zuſammenzuhalten verſtand; doch dem Genie Napo- leons fühlte er ſich nicht gewachſen, der große Ehrgeiz des geborenen Feld- herrn blieb ihm fremd. Sein trefflicher Generalſtabschef Radetzky beſaß

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 470. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/486>, abgerufen am 22.11.2024.