einmal die günstige Stunde zum Angriff versäumen sollte -- ein gefähr- licher Entschluß, der allein durch die unnatürlichen Verhältnisse in diesem Coalitionsheere entschuldigt werden konnte.
Gleichzeitig mit Oudinot war Davoust von Hamburg aus gegen Berlin aufgebrochen, aber auf die Nachricht von Großbeeren wieder zurückgewichen. Auch das Corps Girards, das von Magdeburg her der Nordarmee in die Flanke fallen sollte, trat nach Eintreffen der Unheilsbotschaft den Rück- marsch an; da wurden die Abziehenden am 27. August in ihrem Lager auf den Sandhügeln der Zauche bei Hagelberg von den kurmärkischen Land- wehrregimentern des Generals Hirschfeld angegriffen. Der würdige alte Herr, ein wieder eingetretener Veteran aus dem siebenjährigen Kriege, leitete das Gefecht nach den Regeln der fridericianischen Lineartaktik; er erwartete nicht allzu viel von seinen rohen, fast ganz ungeschulten Truppen, und wie er dachte Marwitz, der Führer der Reservebrigade. In der That hielt die junge Mannschaft dem unerwarteten Feuer der französischen Batterien anfangs nicht Stand; jedoch als der erste Schrecken überwunden war, stürmten die brandenburgischen Bauern unaufhaltsam vor, und dann brach sie los, die alte furia tedesca, jene Wildheit des nordischen Berserker- zornes, wovon die Sagen der Romanen seit den Zeiten des Varus so viel Gräßliches zu erzählen wußten. Welch ein Anblick, wie die Bauern auf ein dichtgedrängtes Viereck französischen Fußvolks an der Hagelberger Dorfmauer losschlugen, schweigsam, unerbittlich, in namenloser Wuth; als das dumpfe Krachen der Gewehrkolben endlich verstummte, da lag ein scheußlicher Leichenhaufen hoch aufgeschichtet bis zum Rande der Mauer, das Hirn quoll den Todten aus den zerschmetterten Schädeln. Von seinen 9000 Mann rettete Girard nur 1700 aus dem Entsetzen dieser Land- wehrschlacht. Um solchen Preis ward die Befreiung der Mark erkauft.
Minder glücklich verlief der Zug der böhmischen Armee nach Dresden. Ihre unbehilflichen Massen überschritten langsam den Kamm des Erzge- birges, zogen anfangs nordwestwärts in der Richtung auf Leipzig um dann erst nach Osten gegen Dresden abzubiegen. Ermüdet von den schwierigen Märschen im Gebirge langte etwa ein Drittel des Heeres, gegen 60,000 Mann, am Nachmittage des 25. August auf den Höhen an, welche die Stadt auf dem linken Elbufer umschließen. Faßte man sich das Herz, das ungleich schwächere Corps von St. Cyr, das zur Vertheidigung des Platzes zurückgeblieben, sofort anzugreifen, so wurde der wichtige Stütz- punkt des napoleonischen Heeres durch einen Handstreich genommen. Die Bevölkerung, die nach dem großen Sinne dieses Krieges wenig fragte, gab bereits Alles verloren, der geängstete König flüchtete in die Neustadt, auf das sichere rechte Ufer. Aber in dem vielköpfigen Kriegsrathe der drei Monarchen regierte die bedachtsame Vorsicht; man beschloß den Angriff zu verschieben bis die gesammte Armee versammelt war. Unselige Zöge- rung. Denn unterdessen kam Napoleons Heer aus Schlesien in Eil-
I. 4. Der Befreiungskrieg.
einmal die günſtige Stunde zum Angriff verſäumen ſollte — ein gefähr- licher Entſchluß, der allein durch die unnatürlichen Verhältniſſe in dieſem Coalitionsheere entſchuldigt werden konnte.
Gleichzeitig mit Oudinot war Davouſt von Hamburg aus gegen Berlin aufgebrochen, aber auf die Nachricht von Großbeeren wieder zurückgewichen. Auch das Corps Girards, das von Magdeburg her der Nordarmee in die Flanke fallen ſollte, trat nach Eintreffen der Unheilsbotſchaft den Rück- marſch an; da wurden die Abziehenden am 27. Auguſt in ihrem Lager auf den Sandhügeln der Zauche bei Hagelberg von den kurmärkiſchen Land- wehrregimentern des Generals Hirſchfeld angegriffen. Der würdige alte Herr, ein wieder eingetretener Veteran aus dem ſiebenjährigen Kriege, leitete das Gefecht nach den Regeln der fridericianiſchen Lineartaktik; er erwartete nicht allzu viel von ſeinen rohen, faſt ganz ungeſchulten Truppen, und wie er dachte Marwitz, der Führer der Reſervebrigade. In der That hielt die junge Mannſchaft dem unerwarteten Feuer der franzöſiſchen Batterien anfangs nicht Stand; jedoch als der erſte Schrecken überwunden war, ſtürmten die brandenburgiſchen Bauern unaufhaltſam vor, und dann brach ſie los, die alte furia tedesca, jene Wildheit des nordiſchen Berſerker- zornes, wovon die Sagen der Romanen ſeit den Zeiten des Varus ſo viel Gräßliches zu erzählen wußten. Welch ein Anblick, wie die Bauern auf ein dichtgedrängtes Viereck franzöſiſchen Fußvolks an der Hagelberger Dorfmauer losſchlugen, ſchweigſam, unerbittlich, in namenloſer Wuth; als das dumpfe Krachen der Gewehrkolben endlich verſtummte, da lag ein ſcheußlicher Leichenhaufen hoch aufgeſchichtet bis zum Rande der Mauer, das Hirn quoll den Todten aus den zerſchmetterten Schädeln. Von ſeinen 9000 Mann rettete Girard nur 1700 aus dem Entſetzen dieſer Land- wehrſchlacht. Um ſolchen Preis ward die Befreiung der Mark erkauft.
Minder glücklich verlief der Zug der böhmiſchen Armee nach Dresden. Ihre unbehilflichen Maſſen überſchritten langſam den Kamm des Erzge- birges, zogen anfangs nordweſtwärts in der Richtung auf Leipzig um dann erſt nach Oſten gegen Dresden abzubiegen. Ermüdet von den ſchwierigen Märſchen im Gebirge langte etwa ein Drittel des Heeres, gegen 60,000 Mann, am Nachmittage des 25. Auguſt auf den Höhen an, welche die Stadt auf dem linken Elbufer umſchließen. Faßte man ſich das Herz, das ungleich ſchwächere Corps von St. Cyr, das zur Vertheidigung des Platzes zurückgeblieben, ſofort anzugreifen, ſo wurde der wichtige Stütz- punkt des napoleoniſchen Heeres durch einen Handſtreich genommen. Die Bevölkerung, die nach dem großen Sinne dieſes Krieges wenig fragte, gab bereits Alles verloren, der geängſtete König flüchtete in die Neuſtadt, auf das ſichere rechte Ufer. Aber in dem vielköpfigen Kriegsrathe der drei Monarchen regierte die bedachtſame Vorſicht; man beſchloß den Angriff zu verſchieben bis die geſammte Armee verſammelt war. Unſelige Zöge- rung. Denn unterdeſſen kam Napoleons Heer aus Schleſien in Eil-
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I. 4. Der Befreiungskrieg.
einmal die günſtige Stunde zum Angriff verſäumen ſollte — ein gefähr-
licher Entſchluß, der allein durch die unnatürlichen Verhältniſſe in dieſem
Coalitionsheere entſchuldigt werden konnte.
Gleichzeitig mit Oudinot war Davouſt von Hamburg aus gegen Berlin
aufgebrochen, aber auf die Nachricht von Großbeeren wieder zurückgewichen.
Auch das Corps Girards, das von Magdeburg her der Nordarmee in
die Flanke fallen ſollte, trat nach Eintreffen der Unheilsbotſchaft den Rück-
marſch an; da wurden die Abziehenden am 27. Auguſt in ihrem Lager
auf den Sandhügeln der Zauche bei Hagelberg von den kurmärkiſchen Land-
wehrregimentern des Generals Hirſchfeld angegriffen. Der würdige alte
Herr, ein wieder eingetretener Veteran aus dem ſiebenjährigen Kriege, leitete
das Gefecht nach den Regeln der fridericianiſchen Lineartaktik; er erwartete
nicht allzu viel von ſeinen rohen, faſt ganz ungeſchulten Truppen, und
wie er dachte Marwitz, der Führer der Reſervebrigade. In der That hielt
die junge Mannſchaft dem unerwarteten Feuer der franzöſiſchen Batterien
anfangs nicht Stand; jedoch als der erſte Schrecken überwunden war,
ſtürmten die brandenburgiſchen Bauern unaufhaltſam vor, und dann brach
ſie los, die alte furia tedesca, jene Wildheit des nordiſchen Berſerker-
zornes, wovon die Sagen der Romanen ſeit den Zeiten des Varus ſo
viel Gräßliches zu erzählen wußten. Welch ein Anblick, wie die Bauern
auf ein dichtgedrängtes Viereck franzöſiſchen Fußvolks an der Hagelberger
Dorfmauer losſchlugen, ſchweigſam, unerbittlich, in namenloſer Wuth;
als das dumpfe Krachen der Gewehrkolben endlich verſtummte, da lag
ein ſcheußlicher Leichenhaufen hoch aufgeſchichtet bis zum Rande der Mauer,
das Hirn quoll den Todten aus den zerſchmetterten Schädeln. Von ſeinen
9000 Mann rettete Girard nur 1700 aus dem Entſetzen dieſer Land-
wehrſchlacht. Um ſolchen Preis ward die Befreiung der Mark erkauft.
Minder glücklich verlief der Zug der böhmiſchen Armee nach Dresden.
Ihre unbehilflichen Maſſen überſchritten langſam den Kamm des Erzge-
birges, zogen anfangs nordweſtwärts in der Richtung auf Leipzig um dann
erſt nach Oſten gegen Dresden abzubiegen. Ermüdet von den ſchwierigen
Märſchen im Gebirge langte etwa ein Drittel des Heeres, gegen 60,000
Mann, am Nachmittage des 25. Auguſt auf den Höhen an, welche die
Stadt auf dem linken Elbufer umſchließen. Faßte man ſich das Herz,
das ungleich ſchwächere Corps von St. Cyr, das zur Vertheidigung des
Platzes zurückgeblieben, ſofort anzugreifen, ſo wurde der wichtige Stütz-
punkt des napoleoniſchen Heeres durch einen Handſtreich genommen. Die
Bevölkerung, die nach dem großen Sinne dieſes Krieges wenig fragte, gab
bereits Alles verloren, der geängſtete König flüchtete in die Neuſtadt, auf
das ſichere rechte Ufer. Aber in dem vielköpfigen Kriegsrathe der drei
Monarchen regierte die bedachtſame Vorſicht; man beſchloß den Angriff
zu verſchieben bis die geſammte Armee verſammelt war. Unſelige Zöge-
rung. Denn unterdeſſen kam Napoleons Heer aus Schleſien in Eil-
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 480. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/496>, abgerufen am 22.11.2024.
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