eine Weg noch offen blieb, war das Verdienst des unglücklichen Giulai, der auch am dritten Schlachttage auf der Westseite nichts ausgerichtet hatte; bis zur Saale hin hielt Bertrand den Franzosen die Rückzugsstraße frei. Die Hunderttausende, die beim Feuerscheine von zwölf brennenden Dörfern auf dem theuer erkauften Schlachtfelde lagerten, empfanden tief erschüttert den heiligen Ernst des Tages; unwillkürlich stimmten die Russen eines ihrer frommen Lieder an, und bald klangen überall, in allen Zungen der Völker Europas, die Dankgesänge zum Himmel auf. Die Sieger beugten sich unter Gottes gewaltige Hand; recht aus dem Herzen der fromm bewegten Zeit heraus sang der deutsche Dichter:
O Tag des Sieges, Tag des Herrn, wie feurig schien dein Morgenstern!
Nur der Feldherr, der von Amtswegen als der Besieger Napoleons gefeiert wurde, vermochte die Größe des Erfolges nicht zu fassen. Schwar- zenberg weigerte sich die noch ganz unberührten russischen und preußischen Garden zur Verfolgung auszusenden -- nicht aus Arglist, wie manche der grollenden Preußen annahmen, sondern weil sein Kleinmuth die Ge- schlagenen nicht zur Verzweiflung treiben wollte. Blücher hatte den Tag über, wegen des verspäteten Eintreffens der Nordarmee, sein kleines Heer zusammenhalten müssen um einen Ausfall in der Richtung auf Torgau, den man noch immer befürchtete, zurückweisen zu können; darum ward York erst am Abend auf dem weiten Umwege über Merseburg dem fliehen- den Feinde nachgesendet. Also konnte Napoleon noch 90,000 Mann, fast durchweg Franzosen, aus der Schlacht retten. Die Deckung des Rück- zugs, die Vertheidigung der Stadt überließ er seinen Vasallen, den Rhein- bündnern, Polen und Italienern; mochten sie noch einmal für ihn bluten, dem Kaiserreiche waren sie doch verloren.
So mußte denn am 19. der Kampf um den Besitz der Stadt selber von Neuem begonnen werden. Während Blücher im Norden seine Russen gegen das Gerberthor führt und dort zuerst von den Kosaken mit dem Ehrennamen Marschall Vorwärts begrüßt wird, bricht Bülows Corps aus den Kohlgärten gegen die Ostseite der Stadt auf. Borstells Brigade dringt in den Park der Milchinsel, Friccius mit der ostpreußischen Landwehr er- stürmt das Grimmaische Thor. Noch stehen die Regimenter des Rhein- bundes dicht gedrängt auf dem alten Markte, da tönen schon die Flügel- hörner der pommerschen Füsiliere die Grimmaische Straße herunter, da- zwischen hinein der donnernde Ruf: Hoch Friedrich Wilhelm! Bald blitzen die Bajonette, lärmen die Trommeln und gellen die Querpfeifen auch in den andern engen Gassen, die nahe bei dem alten Rathhause münden. Alles strömt zum Marktplatze; die Sieger von der Katzbach, von Kulm und Dennewitz feiern hier in Gegenwart der gefangenen Feinde jubelnd ihr Wiedersehen. Neue stürmische Freudenrufe, als der Czar und der König selber einreiten; selbst die Rheinbündner stimmen mit ein; Alle
I. 4. Der Befreiungskrieg.
eine Weg noch offen blieb, war das Verdienſt des unglücklichen Giulai, der auch am dritten Schlachttage auf der Weſtſeite nichts ausgerichtet hatte; bis zur Saale hin hielt Bertrand den Franzoſen die Rückzugsſtraße frei. Die Hunderttauſende, die beim Feuerſcheine von zwölf brennenden Dörfern auf dem theuer erkauften Schlachtfelde lagerten, empfanden tief erſchüttert den heiligen Ernſt des Tages; unwillkürlich ſtimmten die Ruſſen eines ihrer frommen Lieder an, und bald klangen überall, in allen Zungen der Völker Europas, die Dankgeſänge zum Himmel auf. Die Sieger beugten ſich unter Gottes gewaltige Hand; recht aus dem Herzen der fromm bewegten Zeit heraus ſang der deutſche Dichter:
O Tag des Sieges, Tag des Herrn, wie feurig ſchien dein Morgenſtern!
Nur der Feldherr, der von Amtswegen als der Beſieger Napoleons gefeiert wurde, vermochte die Größe des Erfolges nicht zu faſſen. Schwar- zenberg weigerte ſich die noch ganz unberührten ruſſiſchen und preußiſchen Garden zur Verfolgung auszuſenden — nicht aus Argliſt, wie manche der grollenden Preußen annahmen, ſondern weil ſein Kleinmuth die Ge- ſchlagenen nicht zur Verzweiflung treiben wollte. Blücher hatte den Tag über, wegen des verſpäteten Eintreffens der Nordarmee, ſein kleines Heer zuſammenhalten müſſen um einen Ausfall in der Richtung auf Torgau, den man noch immer befürchtete, zurückweiſen zu können; darum ward York erſt am Abend auf dem weiten Umwege über Merſeburg dem fliehen- den Feinde nachgeſendet. Alſo konnte Napoleon noch 90,000 Mann, faſt durchweg Franzoſen, aus der Schlacht retten. Die Deckung des Rück- zugs, die Vertheidigung der Stadt überließ er ſeinen Vaſallen, den Rhein- bündnern, Polen und Italienern; mochten ſie noch einmal für ihn bluten, dem Kaiſerreiche waren ſie doch verloren.
So mußte denn am 19. der Kampf um den Beſitz der Stadt ſelber von Neuem begonnen werden. Während Blücher im Norden ſeine Ruſſen gegen das Gerberthor führt und dort zuerſt von den Koſaken mit dem Ehrennamen Marſchall Vorwärts begrüßt wird, bricht Bülows Corps aus den Kohlgärten gegen die Oſtſeite der Stadt auf. Borſtells Brigade dringt in den Park der Milchinſel, Friccius mit der oſtpreußiſchen Landwehr er- ſtürmt das Grimmaiſche Thor. Noch ſtehen die Regimenter des Rhein- bundes dicht gedrängt auf dem alten Markte, da tönen ſchon die Flügel- hörner der pommerſchen Füſiliere die Grimmaiſche Straße herunter, da- zwiſchen hinein der donnernde Ruf: Hoch Friedrich Wilhelm! Bald blitzen die Bajonette, lärmen die Trommeln und gellen die Querpfeifen auch in den andern engen Gaſſen, die nahe bei dem alten Rathhauſe münden. Alles ſtrömt zum Marktplatze; die Sieger von der Katzbach, von Kulm und Dennewitz feiern hier in Gegenwart der gefangenen Feinde jubelnd ihr Wiederſehen. Neue ſtürmiſche Freudenrufe, als der Czar und der König ſelber einreiten; ſelbſt die Rheinbündner ſtimmen mit ein; Alle
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I. 4. Der Befreiungskrieg.
eine Weg noch offen blieb, war das Verdienſt des unglücklichen Giulai,
der auch am dritten Schlachttage auf der Weſtſeite nichts ausgerichtet
hatte; bis zur Saale hin hielt Bertrand den Franzoſen die Rückzugsſtraße
frei. Die Hunderttauſende, die beim Feuerſcheine von zwölf brennenden
Dörfern auf dem theuer erkauften Schlachtfelde lagerten, empfanden tief
erſchüttert den heiligen Ernſt des Tages; unwillkürlich ſtimmten die Ruſſen
eines ihrer frommen Lieder an, und bald klangen überall, in allen Zungen
der Völker Europas, die Dankgeſänge zum Himmel auf. Die Sieger
beugten ſich unter Gottes gewaltige Hand; recht aus dem Herzen der
fromm bewegten Zeit heraus ſang der deutſche Dichter:
O Tag des Sieges, Tag des Herrn,
wie feurig ſchien dein Morgenſtern!
Nur der Feldherr, der von Amtswegen als der Beſieger Napoleons
gefeiert wurde, vermochte die Größe des Erfolges nicht zu faſſen. Schwar-
zenberg weigerte ſich die noch ganz unberührten ruſſiſchen und preußiſchen
Garden zur Verfolgung auszuſenden — nicht aus Argliſt, wie manche
der grollenden Preußen annahmen, ſondern weil ſein Kleinmuth die Ge-
ſchlagenen nicht zur Verzweiflung treiben wollte. Blücher hatte den Tag
über, wegen des verſpäteten Eintreffens der Nordarmee, ſein kleines Heer
zuſammenhalten müſſen um einen Ausfall in der Richtung auf Torgau,
den man noch immer befürchtete, zurückweiſen zu können; darum ward
York erſt am Abend auf dem weiten Umwege über Merſeburg dem fliehen-
den Feinde nachgeſendet. Alſo konnte Napoleon noch 90,000 Mann, faſt
durchweg Franzoſen, aus der Schlacht retten. Die Deckung des Rück-
zugs, die Vertheidigung der Stadt überließ er ſeinen Vaſallen, den Rhein-
bündnern, Polen und Italienern; mochten ſie noch einmal für ihn bluten,
dem Kaiſerreiche waren ſie doch verloren.
So mußte denn am 19. der Kampf um den Beſitz der Stadt ſelber
von Neuem begonnen werden. Während Blücher im Norden ſeine Ruſſen
gegen das Gerberthor führt und dort zuerſt von den Koſaken mit dem
Ehrennamen Marſchall Vorwärts begrüßt wird, bricht Bülows Corps aus
den Kohlgärten gegen die Oſtſeite der Stadt auf. Borſtells Brigade dringt
in den Park der Milchinſel, Friccius mit der oſtpreußiſchen Landwehr er-
ſtürmt das Grimmaiſche Thor. Noch ſtehen die Regimenter des Rhein-
bundes dicht gedrängt auf dem alten Markte, da tönen ſchon die Flügel-
hörner der pommerſchen Füſiliere die Grimmaiſche Straße herunter, da-
zwiſchen hinein der donnernde Ruf: Hoch Friedrich Wilhelm! Bald blitzen
die Bajonette, lärmen die Trommeln und gellen die Querpfeifen auch in
den andern engen Gaſſen, die nahe bei dem alten Rathhauſe münden.
Alles ſtrömt zum Marktplatze; die Sieger von der Katzbach, von Kulm
und Dennewitz feiern hier in Gegenwart der gefangenen Feinde jubelnd
ihr Wiederſehen. Neue ſtürmiſche Freudenrufe, als der Czar und der
König ſelber einreiten; ſelbſt die Rheinbündner ſtimmen mit ein; Alle
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 504. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/520>, abgerufen am 22.11.2024.
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