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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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Die Vereinigten Niederlande.
durchaus beherrscht war von jener Gleichgewichtspolitik, worauf Englands
niederländische Pläne fußten. In allen Entwürfen Hardenbergs wurde
als selbstverständlich vorausgesetzt, daß die Schweiz und die Niederlande
in der Regel den Frieden zwischen Deutschland und Frankreich behüten,
im Falle des Krieges den ersten Anprall der französischen Angreifer aus-
halten müßten; erst in zweiter Linie sollten Oesterreich und Preußen den
Kampf aufnehmen. Die Vergrößerung der Niederlande schien um so mehr
im deutschen Interesse zu liegen, da Hardenberg noch zuversichtlich hoffte,
Holland und die Schweiz durch ein foederatives Band -- als "Bundes-
verwandte", wie man zu sagen pflegte -- mit Deutschland zu verketten.
Zudem ward der den Hohenzollern so nahe verwandte Prinz von Ora-
nien bei Hofe fast wie ein Mitglied des königlichen Hauses angesehen,
obgleich die Offiziere ihm die schimpfliche Capitulation von Erfurt nicht
verziehen. Er hatte wegen seiner Theilnahme am Kriege von 1806 Land
und Leute verloren; es schien Ehrenpflicht ihn reichlich zu belohnen. Da-
her ging Hardenberg kaum minder lebhaft als die englischen Staats-
männer für die oranische Sache ins Zeug; er umarmte unter Freuden-
thränen den niederländischen Gesandten Gagern, als die Nachricht von der
Eroberung Hollands kam. Die Bildung dieses Zwischenstaates erschien in
den Augen der europäischen Höfe als ein Erfolg der preußischen Politik,
keineswegs als ein Rechtstitel, kraft dessen Preußen neue Forderungen
stellen durfte.

Hier liegt ohne Zweifel der zweite große Fehler der Politik Harden-
bergs; doch diese niederländischen Träume sind, wie jene Pläne des
deutschen Dualismus, die Schuld nicht eines Mannes, sondern des ge-
sammten Zeitalters. Lange bevor man auf die Eroberung des linken
Rheinufers zu hoffen wagte, hatte Stein schon den verstärkten niederländi-
schen Staat als eine europäische Nothwendigkeit gefordert, und Jedermann
stimmte bei. Nachher, da die Ländergier des Oraniers sich allzu dreist
herauswagte, sind wohl Manchem Zweifel aufgestiegen. Der Rheinische
Mercur beklagte, daß "der am wenigsten kriegerische deutsche Stamm" mit
der Grenzhut betraut werden solle, und selbst Castlereagh fragte in seinen
Briefen einmal bedenklich, ob dies Handelsvolk seiner europäischen Aufgabe
genügen könne. Ludwig Vincke, der von seiner theueren rothen Erde aus
die niederländischen Dinge lange beobachtet, sagte voraus, dies willkürlich
ausgeklügelte Staatsgebilde müsse untergehen; in den Niederlanden er-
wachte sofort wieder der alte Groll, der die katholischen Belgier und die
protestantischen Holländer seit einem Vierteljahrtausend getrennt hielt. Die
deutsche Diplomatie aber blieb von solchen Bedenken unberührt. Harden-
berg brachte der englischen Politik ein unbeschränktes Vertrauen entgegen.
Nach der Einnahme von Antwerpen genehmigte er sofort, daß die dort
im Hafen von den Preußen und Russen erbeuteten Kriegsschiffe nach
England entführt wurden. Für die Seemacht fehlte der deutschen Politik

Die Vereinigten Niederlande.
durchaus beherrſcht war von jener Gleichgewichtspolitik, worauf Englands
niederländiſche Pläne fußten. In allen Entwürfen Hardenbergs wurde
als ſelbſtverſtändlich vorausgeſetzt, daß die Schweiz und die Niederlande
in der Regel den Frieden zwiſchen Deutſchland und Frankreich behüten,
im Falle des Krieges den erſten Anprall der franzöſiſchen Angreifer aus-
halten müßten; erſt in zweiter Linie ſollten Oeſterreich und Preußen den
Kampf aufnehmen. Die Vergrößerung der Niederlande ſchien um ſo mehr
im deutſchen Intereſſe zu liegen, da Hardenberg noch zuverſichtlich hoffte,
Holland und die Schweiz durch ein foederatives Band — als „Bundes-
verwandte“, wie man zu ſagen pflegte — mit Deutſchland zu verketten.
Zudem ward der den Hohenzollern ſo nahe verwandte Prinz von Ora-
nien bei Hofe faſt wie ein Mitglied des königlichen Hauſes angeſehen,
obgleich die Offiziere ihm die ſchimpfliche Capitulation von Erfurt nicht
verziehen. Er hatte wegen ſeiner Theilnahme am Kriege von 1806 Land
und Leute verloren; es ſchien Ehrenpflicht ihn reichlich zu belohnen. Da-
her ging Hardenberg kaum minder lebhaft als die engliſchen Staats-
männer für die oraniſche Sache ins Zeug; er umarmte unter Freuden-
thränen den niederländiſchen Geſandten Gagern, als die Nachricht von der
Eroberung Hollands kam. Die Bildung dieſes Zwiſchenſtaates erſchien in
den Augen der europäiſchen Höfe als ein Erfolg der preußiſchen Politik,
keineswegs als ein Rechtstitel, kraft deſſen Preußen neue Forderungen
ſtellen durfte.

Hier liegt ohne Zweifel der zweite große Fehler der Politik Harden-
bergs; doch dieſe niederländiſchen Träume ſind, wie jene Pläne des
deutſchen Dualismus, die Schuld nicht eines Mannes, ſondern des ge-
ſammten Zeitalters. Lange bevor man auf die Eroberung des linken
Rheinufers zu hoffen wagte, hatte Stein ſchon den verſtärkten niederländi-
ſchen Staat als eine europäiſche Nothwendigkeit gefordert, und Jedermann
ſtimmte bei. Nachher, da die Ländergier des Oraniers ſich allzu dreiſt
herauswagte, ſind wohl Manchem Zweifel aufgeſtiegen. Der Rheiniſche
Mercur beklagte, daß „der am wenigſten kriegeriſche deutſche Stamm“ mit
der Grenzhut betraut werden ſolle, und ſelbſt Caſtlereagh fragte in ſeinen
Briefen einmal bedenklich, ob dies Handelsvolk ſeiner europäiſchen Aufgabe
genügen könne. Ludwig Vincke, der von ſeiner theueren rothen Erde aus
die niederländiſchen Dinge lange beobachtet, ſagte voraus, dies willkürlich
ausgeklügelte Staatsgebilde müſſe untergehen; in den Niederlanden er-
wachte ſofort wieder der alte Groll, der die katholiſchen Belgier und die
proteſtantiſchen Holländer ſeit einem Vierteljahrtauſend getrennt hielt. Die
deutſche Diplomatie aber blieb von ſolchen Bedenken unberührt. Harden-
berg brachte der engliſchen Politik ein unbeſchränktes Vertrauen entgegen.
Nach der Einnahme von Antwerpen genehmigte er ſofort, daß die dort
im Hafen von den Preußen und Ruſſen erbeuteten Kriegsſchiffe nach
England entführt wurden. Für die Seemacht fehlte der deutſchen Politik

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[527/0543] Die Vereinigten Niederlande. durchaus beherrſcht war von jener Gleichgewichtspolitik, worauf Englands niederländiſche Pläne fußten. In allen Entwürfen Hardenbergs wurde als ſelbſtverſtändlich vorausgeſetzt, daß die Schweiz und die Niederlande in der Regel den Frieden zwiſchen Deutſchland und Frankreich behüten, im Falle des Krieges den erſten Anprall der franzöſiſchen Angreifer aus- halten müßten; erſt in zweiter Linie ſollten Oeſterreich und Preußen den Kampf aufnehmen. Die Vergrößerung der Niederlande ſchien um ſo mehr im deutſchen Intereſſe zu liegen, da Hardenberg noch zuverſichtlich hoffte, Holland und die Schweiz durch ein foederatives Band — als „Bundes- verwandte“, wie man zu ſagen pflegte — mit Deutſchland zu verketten. Zudem ward der den Hohenzollern ſo nahe verwandte Prinz von Ora- nien bei Hofe faſt wie ein Mitglied des königlichen Hauſes angeſehen, obgleich die Offiziere ihm die ſchimpfliche Capitulation von Erfurt nicht verziehen. Er hatte wegen ſeiner Theilnahme am Kriege von 1806 Land und Leute verloren; es ſchien Ehrenpflicht ihn reichlich zu belohnen. Da- her ging Hardenberg kaum minder lebhaft als die engliſchen Staats- männer für die oraniſche Sache ins Zeug; er umarmte unter Freuden- thränen den niederländiſchen Geſandten Gagern, als die Nachricht von der Eroberung Hollands kam. Die Bildung dieſes Zwiſchenſtaates erſchien in den Augen der europäiſchen Höfe als ein Erfolg der preußiſchen Politik, keineswegs als ein Rechtstitel, kraft deſſen Preußen neue Forderungen ſtellen durfte. Hier liegt ohne Zweifel der zweite große Fehler der Politik Harden- bergs; doch dieſe niederländiſchen Träume ſind, wie jene Pläne des deutſchen Dualismus, die Schuld nicht eines Mannes, ſondern des ge- ſammten Zeitalters. Lange bevor man auf die Eroberung des linken Rheinufers zu hoffen wagte, hatte Stein ſchon den verſtärkten niederländi- ſchen Staat als eine europäiſche Nothwendigkeit gefordert, und Jedermann ſtimmte bei. Nachher, da die Ländergier des Oraniers ſich allzu dreiſt herauswagte, ſind wohl Manchem Zweifel aufgeſtiegen. Der Rheiniſche Mercur beklagte, daß „der am wenigſten kriegeriſche deutſche Stamm“ mit der Grenzhut betraut werden ſolle, und ſelbſt Caſtlereagh fragte in ſeinen Briefen einmal bedenklich, ob dies Handelsvolk ſeiner europäiſchen Aufgabe genügen könne. Ludwig Vincke, der von ſeiner theueren rothen Erde aus die niederländiſchen Dinge lange beobachtet, ſagte voraus, dies willkürlich ausgeklügelte Staatsgebilde müſſe untergehen; in den Niederlanden er- wachte ſofort wieder der alte Groll, der die katholiſchen Belgier und die proteſtantiſchen Holländer ſeit einem Vierteljahrtauſend getrennt hielt. Die deutſche Diplomatie aber blieb von ſolchen Bedenken unberührt. Harden- berg brachte der engliſchen Politik ein unbeſchränktes Vertrauen entgegen. Nach der Einnahme von Antwerpen genehmigte er ſofort, daß die dort im Hafen von den Preußen und Ruſſen erbeuteten Kriegsſchiffe nach England entführt wurden. Für die Seemacht fehlte der deutſchen Politik

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 527. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/543>, abgerufen am 22.11.2024.