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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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Die Alliirten in Paris.
lichen französischen Charakter liegt, hatten sie kein Auge. Ein ruhiges Ver-
hältniß gegenseitiger Achtung stellte sich nicht her, zum Unheil für beide
Nationen. Jene ganze Generation preußischer Staatsmänner und Generale
hielt immer die Ueberzeugung fest, daß eine letzte Abrechnung mit Frank-
reich noch bevorstehe; Gneisenau und Stein haben bis zu ihrem Todes-
tage in solcher Ahnung gelebt.

Indessen genossen die Sieger mit vollen Zügen die Freuden des
üppigen hauptstädtischen Lebens. Den Parisern brachte die Eroberung
durchaus kein Ungemach, da die Alliirten aus zärtlicher Schonung gegen
die Gefühle der Besiegten ihre Truppen längere Zeit auf den Plätzen
bivouakiren ließen, sondern nur Gelegenheit zu leichtem Gewinne. Viele
reiche englische Familien eilten an die Seine zu den lang entbehrten Ge-
nüssen der Stadt des Vergnügens. Das Gold floß in Strömen. Die
Cafehäuser in den Gallerien des Palais Royal und die Spielhöllen an
den Boulevards freuten sich der glänzenden Geschäfte und der guten
Kundschaft des preußischen Feldmarschalls, der nach vollbrachter Kriegs-
arbeit das Blüchern nicht mehr lassen konnte; allabendlich saß er stunden-
lang mit Frack und Ordensstern über den geliebten Karten, mit kalt-
blütiger Ruhe seine Goldrollen setzend, am grünen Tische ebenso kühn
und glücklich wie im Kriege. Ganz unbegreiflich blieb den an die Roheit
der Conscribirten gewöhnten Franzosen der Charakter des preußischen Volks-
heeres. Sie schüttelten den Kopf, wenn die preußischen Freiwilligen, fast
so eifrig wie ihr Kronprinz, zu den Kunstschätzen des Louvre wallfahrteten.
Kein Murillo und kein Rafael zog diese teutonische Jugend so unwider-
stehlich an wie Memlings Weltgericht mit der fürchterlich ernsten Gestalt
des richtenden Erzengels -- jenes "Danziger Bild", das Napoleon aus
der Marienkirche geraubt hatte; hier standen die jungen Deutschen immer
dicht gedrängt, als ob sie sich mitten in der wälschen Herrlichkeit ihres
heimischen Wesens recht bewußt werden wollten. Für das stille Gefühl
der Beschämung, das sie doch nicht los werden konnten, rächten sich die
Pariser nach ihrer Weise durch Couplets und Caricaturen.

Ihre ganze Liebenswürdigkeit aber wendete sich dem Czaren zu. Die be-
rechnete Schmeichelei berauschte den glücklichen Sieger, der Einfluß Steins
sank von Tag zu Tage. Alexander wohnte im Palaste Talleyrands, und der
schlaue Hausherr fand der Bewunderung kein Ende für den ersten Mann
des Jahrhunderts, der allein die Befreiung Europas vollendet habe. Die
Behörden, die Gelehrten der Akademie und vor Allen die Damen schwan-
gen wetteifernd ihre Weihrauchsfässer vor dem sanften, liebevollen "Engel
des Friedens". Alexanders Eitelkeit fühlte sich lebhaft geschmeichelt, als
die Vorsteherin einer weiblichen Irrenanstalt ihm erzählte, daß die Zahl
der aus unglücklicher Liebe erkrankten jungen Damen seit der Anwesen-
heit des russischen Selbstherrschers bedenklich zugenommen habe. Der
Ezar gebärdete sich wieder als der mächtige Schirmherr der Völkerfreiheit

Die Alliirten in Paris.
lichen franzöſiſchen Charakter liegt, hatten ſie kein Auge. Ein ruhiges Ver-
hältniß gegenſeitiger Achtung ſtellte ſich nicht her, zum Unheil für beide
Nationen. Jene ganze Generation preußiſcher Staatsmänner und Generale
hielt immer die Ueberzeugung feſt, daß eine letzte Abrechnung mit Frank-
reich noch bevorſtehe; Gneiſenau und Stein haben bis zu ihrem Todes-
tage in ſolcher Ahnung gelebt.

Indeſſen genoſſen die Sieger mit vollen Zügen die Freuden des
üppigen hauptſtädtiſchen Lebens. Den Pariſern brachte die Eroberung
durchaus kein Ungemach, da die Alliirten aus zärtlicher Schonung gegen
die Gefühle der Beſiegten ihre Truppen längere Zeit auf den Plätzen
bivouakiren ließen, ſondern nur Gelegenheit zu leichtem Gewinne. Viele
reiche engliſche Familien eilten an die Seine zu den lang entbehrten Ge-
nüſſen der Stadt des Vergnügens. Das Gold floß in Strömen. Die
Cafehäuſer in den Gallerien des Palais Royal und die Spielhöllen an
den Boulevards freuten ſich der glänzenden Geſchäfte und der guten
Kundſchaft des preußiſchen Feldmarſchalls, der nach vollbrachter Kriegs-
arbeit das Blüchern nicht mehr laſſen konnte; allabendlich ſaß er ſtunden-
lang mit Frack und Ordensſtern über den geliebten Karten, mit kalt-
blütiger Ruhe ſeine Goldrollen ſetzend, am grünen Tiſche ebenſo kühn
und glücklich wie im Kriege. Ganz unbegreiflich blieb den an die Roheit
der Conſcribirten gewöhnten Franzoſen der Charakter des preußiſchen Volks-
heeres. Sie ſchüttelten den Kopf, wenn die preußiſchen Freiwilligen, faſt
ſo eifrig wie ihr Kronprinz, zu den Kunſtſchätzen des Louvre wallfahrteten.
Kein Murillo und kein Rafael zog dieſe teutoniſche Jugend ſo unwider-
ſtehlich an wie Memlings Weltgericht mit der fürchterlich ernſten Geſtalt
des richtenden Erzengels — jenes „Danziger Bild“, das Napoleon aus
der Marienkirche geraubt hatte; hier ſtanden die jungen Deutſchen immer
dicht gedrängt, als ob ſie ſich mitten in der wälſchen Herrlichkeit ihres
heimiſchen Weſens recht bewußt werden wollten. Für das ſtille Gefühl
der Beſchämung, das ſie doch nicht los werden konnten, rächten ſich die
Pariſer nach ihrer Weiſe durch Couplets und Caricaturen.

Ihre ganze Liebenswürdigkeit aber wendete ſich dem Czaren zu. Die be-
rechnete Schmeichelei berauſchte den glücklichen Sieger, der Einfluß Steins
ſank von Tag zu Tage. Alexander wohnte im Palaſte Talleyrands, und der
ſchlaue Hausherr fand der Bewunderung kein Ende für den erſten Mann
des Jahrhunderts, der allein die Befreiung Europas vollendet habe. Die
Behörden, die Gelehrten der Akademie und vor Allen die Damen ſchwan-
gen wetteifernd ihre Weihrauchsfäſſer vor dem ſanften, liebevollen „Engel
des Friedens“. Alexanders Eitelkeit fühlte ſich lebhaft geſchmeichelt, als
die Vorſteherin einer weiblichen Irrenanſtalt ihm erzählte, daß die Zahl
der aus unglücklicher Liebe erkrankten jungen Damen ſeit der Anweſen-
heit des ruſſiſchen Selbſtherrſchers bedenklich zugenommen habe. Der
Ezar gebärdete ſich wieder als der mächtige Schirmherr der Völkerfreiheit

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[553/0569] Die Alliirten in Paris. lichen franzöſiſchen Charakter liegt, hatten ſie kein Auge. Ein ruhiges Ver- hältniß gegenſeitiger Achtung ſtellte ſich nicht her, zum Unheil für beide Nationen. Jene ganze Generation preußiſcher Staatsmänner und Generale hielt immer die Ueberzeugung feſt, daß eine letzte Abrechnung mit Frank- reich noch bevorſtehe; Gneiſenau und Stein haben bis zu ihrem Todes- tage in ſolcher Ahnung gelebt. Indeſſen genoſſen die Sieger mit vollen Zügen die Freuden des üppigen hauptſtädtiſchen Lebens. Den Pariſern brachte die Eroberung durchaus kein Ungemach, da die Alliirten aus zärtlicher Schonung gegen die Gefühle der Beſiegten ihre Truppen längere Zeit auf den Plätzen bivouakiren ließen, ſondern nur Gelegenheit zu leichtem Gewinne. Viele reiche engliſche Familien eilten an die Seine zu den lang entbehrten Ge- nüſſen der Stadt des Vergnügens. Das Gold floß in Strömen. Die Cafehäuſer in den Gallerien des Palais Royal und die Spielhöllen an den Boulevards freuten ſich der glänzenden Geſchäfte und der guten Kundſchaft des preußiſchen Feldmarſchalls, der nach vollbrachter Kriegs- arbeit das Blüchern nicht mehr laſſen konnte; allabendlich ſaß er ſtunden- lang mit Frack und Ordensſtern über den geliebten Karten, mit kalt- blütiger Ruhe ſeine Goldrollen ſetzend, am grünen Tiſche ebenſo kühn und glücklich wie im Kriege. Ganz unbegreiflich blieb den an die Roheit der Conſcribirten gewöhnten Franzoſen der Charakter des preußiſchen Volks- heeres. Sie ſchüttelten den Kopf, wenn die preußiſchen Freiwilligen, faſt ſo eifrig wie ihr Kronprinz, zu den Kunſtſchätzen des Louvre wallfahrteten. Kein Murillo und kein Rafael zog dieſe teutoniſche Jugend ſo unwider- ſtehlich an wie Memlings Weltgericht mit der fürchterlich ernſten Geſtalt des richtenden Erzengels — jenes „Danziger Bild“, das Napoleon aus der Marienkirche geraubt hatte; hier ſtanden die jungen Deutſchen immer dicht gedrängt, als ob ſie ſich mitten in der wälſchen Herrlichkeit ihres heimiſchen Weſens recht bewußt werden wollten. Für das ſtille Gefühl der Beſchämung, das ſie doch nicht los werden konnten, rächten ſich die Pariſer nach ihrer Weiſe durch Couplets und Caricaturen. Ihre ganze Liebenswürdigkeit aber wendete ſich dem Czaren zu. Die be- rechnete Schmeichelei berauſchte den glücklichen Sieger, der Einfluß Steins ſank von Tag zu Tage. Alexander wohnte im Palaſte Talleyrands, und der ſchlaue Hausherr fand der Bewunderung kein Ende für den erſten Mann des Jahrhunderts, der allein die Befreiung Europas vollendet habe. Die Behörden, die Gelehrten der Akademie und vor Allen die Damen ſchwan- gen wetteifernd ihre Weihrauchsfäſſer vor dem ſanften, liebevollen „Engel des Friedens“. Alexanders Eitelkeit fühlte ſich lebhaft geſchmeichelt, als die Vorſteherin einer weiblichen Irrenanſtalt ihm erzählte, daß die Zahl der aus unglücklicher Liebe erkrankten jungen Damen ſeit der Anweſen- heit des ruſſiſchen Selbſtherrſchers bedenklich zugenommen habe. Der Ezar gebärdete ſich wieder als der mächtige Schirmherr der Völkerfreiheit

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 553. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/569>, abgerufen am 22.11.2024.