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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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Verwaltung und Heer.
Schlusse, daß alle Preußen durch die Schule des stehenden Heeres gehen
müßten. Von den politischen Denkern der jüngsten Jahrhunderte hatten
allein Machiavelli und Spinoza den einfach großen Gedanken der allge-
meinen Wehrpflicht zu vertheidigen gewagt; Beide schöpften ihn aus der
Geschichte des Alterthums, Beide blieben unverstanden von den Zeit-
genossen. Die Noth des Staatshaushalts und eine instinctive Erkennt-
niß der Natur seines Staates führten dann den derben Praktiker auf
Preußens Throne zu derselben Ansicht, obgleich er von der sittlichen Kraft
eines nationalen Heeres nur wenig ahnte. Er zuerst unter den Staats-
männern des neuen Europas sprach den Grundsatz aus: "jeder Unterthan
wird für die Waffen geboren" und arbeitete sein Lebenlang sich diesem
Ideale anzunähern, ein Heer von Landeskindern zu bilden. Das Canton-
reglement von 1733 verkündete die Regel der allgemeinen Dienstpflicht.

Freilich nur die Regel. Der Gedanke war noch unreif, da die lange
Dienstzeit jener Epoche ihm schnurstracks zuwiderlief. Die Armuth des
Landes und die Macht der ständischen Vorurtheile zwangen den König
zahlreiche Ausnahmen zuzulassen, so daß die Last des erzwungenen
Waffendienstes thatsächlich allein auf den Schultern des Landvolkes lag;
und selbst die also beschränkte Wehrpflicht konnte nicht vollständig durch-
geführt werden. Unbesiegbar blieb der stille Widerstand gegen die uner-
hörte Neuerung, der Abscheu des Volkes vor dem langen und harten
Dienste. Selten gelang es, mehr als die Hälfte des Heeres mit einhei-
mischen Cantonisten zu füllen; der Rest ward durch Werbungen gedeckt.
Viele der meisterlosen deutschen Landsknechte, die bisher in Venedig und den
Niederlanden, in Frankreich und Schweden ihre Haut zu Markte getragen,
fanden jetzt eine Heimath unter den Fahnen der norddeutschen Großmacht;
der Süden und Westen des Reichs wurde das ergiebigste Werbegebiet
der preußischen Regimenter. Auf so wunderlichen Umwegen ist unsere
Nation zur Macht und Einheit aufgestiegen. Jenes waffenlose Drittel
des deutschen Volkes, dessen Staatsgewalten zum Schutze des Reichs
kaum einen Finger regten, zahlte den Blutzoll an das Vaterland durch
die tausende seiner verlorenen Söhne, die als Söldner in Preußens
Heeren fochten; jene Kleinfürsten in Schwaben und am Rhein, die in
Preußen ihren furchtbaren Gegner sahen, halfen selber die Kriegsmacht
ihres Feindes zu verstärken. Seit das preußische Heer entstand, hörte
das Reich allmählich auf der offene Werbeplatz aller Völker zu sein,
und als dies Heer erstarkte war Deutschland nicht mehr das Schlachtfeld
aller Völker.

Das Heer bot dem Könige die Mittel den aufsässigen Adel mit der
monarchischen Ordnung zu versöhnen. Wohl war das Ansehen des
Kriegsherrn schon erheblich gestiegen seit jenen argen Tagen, da der
große Kurfürst seine eigenen Kriegsobersten gleich Raubthieren auf der
Jagd umstellen ließ und sie zwang ihm allein den Eid der Treue zu

Verwaltung und Heer.
Schluſſe, daß alle Preußen durch die Schule des ſtehenden Heeres gehen
müßten. Von den politiſchen Denkern der jüngſten Jahrhunderte hatten
allein Machiavelli und Spinoza den einfach großen Gedanken der allge-
meinen Wehrpflicht zu vertheidigen gewagt; Beide ſchöpften ihn aus der
Geſchichte des Alterthums, Beide blieben unverſtanden von den Zeit-
genoſſen. Die Noth des Staatshaushalts und eine inſtinctive Erkennt-
niß der Natur ſeines Staates führten dann den derben Praktiker auf
Preußens Throne zu derſelben Anſicht, obgleich er von der ſittlichen Kraft
eines nationalen Heeres nur wenig ahnte. Er zuerſt unter den Staats-
männern des neuen Europas ſprach den Grundſatz aus: „jeder Unterthan
wird für die Waffen geboren“ und arbeitete ſein Lebenlang ſich dieſem
Ideale anzunähern, ein Heer von Landeskindern zu bilden. Das Canton-
reglement von 1733 verkündete die Regel der allgemeinen Dienſtpflicht.

Freilich nur die Regel. Der Gedanke war noch unreif, da die lange
Dienſtzeit jener Epoche ihm ſchnurſtracks zuwiderlief. Die Armuth des
Landes und die Macht der ſtändiſchen Vorurtheile zwangen den König
zahlreiche Ausnahmen zuzulaſſen, ſo daß die Laſt des erzwungenen
Waffendienſtes thatſächlich allein auf den Schultern des Landvolkes lag;
und ſelbſt die alſo beſchränkte Wehrpflicht konnte nicht vollſtändig durch-
geführt werden. Unbeſiegbar blieb der ſtille Widerſtand gegen die uner-
hörte Neuerung, der Abſcheu des Volkes vor dem langen und harten
Dienſte. Selten gelang es, mehr als die Hälfte des Heeres mit einhei-
miſchen Cantoniſten zu füllen; der Reſt ward durch Werbungen gedeckt.
Viele der meiſterloſen deutſchen Landsknechte, die bisher in Venedig und den
Niederlanden, in Frankreich und Schweden ihre Haut zu Markte getragen,
fanden jetzt eine Heimath unter den Fahnen der norddeutſchen Großmacht;
der Süden und Weſten des Reichs wurde das ergiebigſte Werbegebiet
der preußiſchen Regimenter. Auf ſo wunderlichen Umwegen iſt unſere
Nation zur Macht und Einheit aufgeſtiegen. Jenes waffenloſe Drittel
des deutſchen Volkes, deſſen Staatsgewalten zum Schutze des Reichs
kaum einen Finger regten, zahlte den Blutzoll an das Vaterland durch
die tauſende ſeiner verlorenen Söhne, die als Söldner in Preußens
Heeren fochten; jene Kleinfürſten in Schwaben und am Rhein, die in
Preußen ihren furchtbaren Gegner ſahen, halfen ſelber die Kriegsmacht
ihres Feindes zu verſtärken. Seit das preußiſche Heer entſtand, hörte
das Reich allmählich auf der offene Werbeplatz aller Völker zu ſein,
und als dies Heer erſtarkte war Deutſchland nicht mehr das Schlachtfeld
aller Völker.

Das Heer bot dem Könige die Mittel den aufſäſſigen Adel mit der
monarchiſchen Ordnung zu verſöhnen. Wohl war das Anſehen des
Kriegsherrn ſchon erheblich geſtiegen ſeit jenen argen Tagen, da der
große Kurfürſt ſeine eigenen Kriegsoberſten gleich Raubthieren auf der
Jagd umſtellen ließ und ſie zwang ihm allein den Eid der Treue zu

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[41/0057] Verwaltung und Heer. Schluſſe, daß alle Preußen durch die Schule des ſtehenden Heeres gehen müßten. Von den politiſchen Denkern der jüngſten Jahrhunderte hatten allein Machiavelli und Spinoza den einfach großen Gedanken der allge- meinen Wehrpflicht zu vertheidigen gewagt; Beide ſchöpften ihn aus der Geſchichte des Alterthums, Beide blieben unverſtanden von den Zeit- genoſſen. Die Noth des Staatshaushalts und eine inſtinctive Erkennt- niß der Natur ſeines Staates führten dann den derben Praktiker auf Preußens Throne zu derſelben Anſicht, obgleich er von der ſittlichen Kraft eines nationalen Heeres nur wenig ahnte. Er zuerſt unter den Staats- männern des neuen Europas ſprach den Grundſatz aus: „jeder Unterthan wird für die Waffen geboren“ und arbeitete ſein Lebenlang ſich dieſem Ideale anzunähern, ein Heer von Landeskindern zu bilden. Das Canton- reglement von 1733 verkündete die Regel der allgemeinen Dienſtpflicht. Freilich nur die Regel. Der Gedanke war noch unreif, da die lange Dienſtzeit jener Epoche ihm ſchnurſtracks zuwiderlief. Die Armuth des Landes und die Macht der ſtändiſchen Vorurtheile zwangen den König zahlreiche Ausnahmen zuzulaſſen, ſo daß die Laſt des erzwungenen Waffendienſtes thatſächlich allein auf den Schultern des Landvolkes lag; und ſelbſt die alſo beſchränkte Wehrpflicht konnte nicht vollſtändig durch- geführt werden. Unbeſiegbar blieb der ſtille Widerſtand gegen die uner- hörte Neuerung, der Abſcheu des Volkes vor dem langen und harten Dienſte. Selten gelang es, mehr als die Hälfte des Heeres mit einhei- miſchen Cantoniſten zu füllen; der Reſt ward durch Werbungen gedeckt. Viele der meiſterloſen deutſchen Landsknechte, die bisher in Venedig und den Niederlanden, in Frankreich und Schweden ihre Haut zu Markte getragen, fanden jetzt eine Heimath unter den Fahnen der norddeutſchen Großmacht; der Süden und Weſten des Reichs wurde das ergiebigſte Werbegebiet der preußiſchen Regimenter. Auf ſo wunderlichen Umwegen iſt unſere Nation zur Macht und Einheit aufgeſtiegen. Jenes waffenloſe Drittel des deutſchen Volkes, deſſen Staatsgewalten zum Schutze des Reichs kaum einen Finger regten, zahlte den Blutzoll an das Vaterland durch die tauſende ſeiner verlorenen Söhne, die als Söldner in Preußens Heeren fochten; jene Kleinfürſten in Schwaben und am Rhein, die in Preußen ihren furchtbaren Gegner ſahen, halfen ſelber die Kriegsmacht ihres Feindes zu verſtärken. Seit das preußiſche Heer entſtand, hörte das Reich allmählich auf der offene Werbeplatz aller Völker zu ſein, und als dies Heer erſtarkte war Deutſchland nicht mehr das Schlachtfeld aller Völker. Das Heer bot dem Könige die Mittel den aufſäſſigen Adel mit der monarchiſchen Ordnung zu verſöhnen. Wohl war das Anſehen des Kriegsherrn ſchon erheblich geſtiegen ſeit jenen argen Tagen, da der große Kurfürſt ſeine eigenen Kriegsoberſten gleich Raubthieren auf der Jagd umſtellen ließ und ſie zwang ihm allein den Eid der Treue zu

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 41. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/57>, abgerufen am 21.11.2024.