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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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Die neue Diplomatie.
punkte des ungeheuren Familiengutes, das man Oesterreich nannte, in
diesem Wirrwarr zusammengeheiratheter Länder und Völker hatte man
nie etwas geahnt von den sittlichen Kräften, welche ein nationales Staats-
wesen zusammenhalten; und es war so recht im Geiste der alten Habs-
burgerpolitik, wenn Oesterreich und Baiern jetzt selbander über die Frage
stritten, ob die Unterthanen der Mediatisirten, die ihrem Landesherrn nur
wenig einbrachten, als halbe Seelen oder als Drittelseelen zu berechnen
seien. Mit Entrüstung vernahmen die befreiten Völker, daß sie nun
wieder nichts sein sollten als eine große Heerde, die nur durch ihre Kopf-
zahl Werth hatte. Im Rheinischen Mercur donnerte Görres gegen "das
herzlose statistische Wesen" der Wiener Diplomaten, und Blücher schrieb
grimmig an seinen alten Freund Rüchel: "Der gute Wiener Congreß
gleicht einem Jahrmarkt in einer kleinen Stadt, wo ein Jeder sein Vieh
hintreibt es zu verkaufen oder zu vertauschen." Durch eine kunstvoll ab-
gewogene Vertheilung der Länder und der Leute die Wiederkehr der fran-
zösischen Uebermacht zu verhindern -- in diesem einen Gedanken ging
jetzt wie einst zu Utrecht die ganze Weisheit der Cabinette auf. Und wie
damals Caron de St. Pierre wähnte, aus der neuen, völlig willkürlichen
Gestaltung der Länderkarte werde ein unabänderlicher Friedenszustand
hervorgehen, so erwachte jetzt wieder der unmännliche Traum vom ewigen
Frieden, dies sicherste Kennzeichen politisch ermatteter und gedankenarmer
Epochen: viele treffliche Männer aus jedem Stande und jedem Volke
gaben sich im Ernst der Hoffnung hin, daß die Weltgeschichte in ihrer
ewigen Bewegung nunmehr still stehen, vor den Rathschlüssen des Wiener
Areopags ehrfürchtig verstummen würde.

Preußens Diplomatie stand nicht auf der Höhe seiner Feldherrnkunst;
keiner seiner Staatsmänner besaß den kühnen, freien, sicheren Blick
Gneisenaus. Aber das halbe und flaue Ergebniß der Wiener Verhand-
lungen war durch die Natur der Dinge selbst gegeben, nicht verschuldet
durch die Fehler einzelner Männer. Die schwerste Krankheit des alten
Staatensystems, deren der treue Arndt soeben wieder in dem neuesten
Bande des Geistes der Zeit warnend gedachte, die Zersplitterung Deutsch-
lands und Italiens, hatte der Befreiungskrieg nicht geheilt. Da hier
wie dort die öffentliche Meinung noch in einem Zustande völliger Unreife
verharrte, so brachte der Congreß beiden Völkern im Wesentlichen eine
Restauration: den Italienern die Gebietsvertheilung von 1795, den Deut-
schen die Wiederherstellung jenes lockeren Nebeneinanders kleiner Monar-
chien, das einst aus der Fürstenrevolution von 1803 hervorgegangen war.
Diesseits wie jenseits der Alpen hatte sich Oesterreich eine mittelbare, ge-
schickt verhüllte Herrschaft errungen, die ungleich fester stand als das
napoleonische Weltreich und den Deutschen wie den Italienern jede Mög-
lichkeit friedlicher nationaler Entwicklung abschnitt. Ein Deutscher Bund
mit Oesterreich und den noch unbekehrten Satrapen Bonapartes konnte

Die neue Diplomatie.
punkte des ungeheuren Familiengutes, das man Oeſterreich nannte, in
dieſem Wirrwarr zuſammengeheiratheter Länder und Völker hatte man
nie etwas geahnt von den ſittlichen Kräften, welche ein nationales Staats-
weſen zuſammenhalten; und es war ſo recht im Geiſte der alten Habs-
burgerpolitik, wenn Oeſterreich und Baiern jetzt ſelbander über die Frage
ſtritten, ob die Unterthanen der Mediatiſirten, die ihrem Landesherrn nur
wenig einbrachten, als halbe Seelen oder als Drittelſeelen zu berechnen
ſeien. Mit Entrüſtung vernahmen die befreiten Völker, daß ſie nun
wieder nichts ſein ſollten als eine große Heerde, die nur durch ihre Kopf-
zahl Werth hatte. Im Rheiniſchen Mercur donnerte Görres gegen „das
herzloſe ſtatiſtiſche Weſen“ der Wiener Diplomaten, und Blücher ſchrieb
grimmig an ſeinen alten Freund Rüchel: „Der gute Wiener Congreß
gleicht einem Jahrmarkt in einer kleinen Stadt, wo ein Jeder ſein Vieh
hintreibt es zu verkaufen oder zu vertauſchen.“ Durch eine kunſtvoll ab-
gewogene Vertheilung der Länder und der Leute die Wiederkehr der fran-
zöſiſchen Uebermacht zu verhindern — in dieſem einen Gedanken ging
jetzt wie einſt zu Utrecht die ganze Weisheit der Cabinette auf. Und wie
damals Caron de St. Pierre wähnte, aus der neuen, völlig willkürlichen
Geſtaltung der Länderkarte werde ein unabänderlicher Friedenszuſtand
hervorgehen, ſo erwachte jetzt wieder der unmännliche Traum vom ewigen
Frieden, dies ſicherſte Kennzeichen politiſch ermatteter und gedankenarmer
Epochen: viele treffliche Männer aus jedem Stande und jedem Volke
gaben ſich im Ernſt der Hoffnung hin, daß die Weltgeſchichte in ihrer
ewigen Bewegung nunmehr ſtill ſtehen, vor den Rathſchlüſſen des Wiener
Areopags ehrfürchtig verſtummen würde.

Preußens Diplomatie ſtand nicht auf der Höhe ſeiner Feldherrnkunſt;
keiner ſeiner Staatsmänner beſaß den kühnen, freien, ſicheren Blick
Gneiſenaus. Aber das halbe und flaue Ergebniß der Wiener Verhand-
lungen war durch die Natur der Dinge ſelbſt gegeben, nicht verſchuldet
durch die Fehler einzelner Männer. Die ſchwerſte Krankheit des alten
Staatenſyſtems, deren der treue Arndt ſoeben wieder in dem neueſten
Bande des Geiſtes der Zeit warnend gedachte, die Zerſplitterung Deutſch-
lands und Italiens, hatte der Befreiungskrieg nicht geheilt. Da hier
wie dort die öffentliche Meinung noch in einem Zuſtande völliger Unreife
verharrte, ſo brachte der Congreß beiden Völkern im Weſentlichen eine
Reſtauration: den Italienern die Gebietsvertheilung von 1795, den Deut-
ſchen die Wiederherſtellung jenes lockeren Nebeneinanders kleiner Monar-
chien, das einſt aus der Fürſtenrevolution von 1803 hervorgegangen war.
Dieſſeits wie jenſeits der Alpen hatte ſich Oeſterreich eine mittelbare, ge-
ſchickt verhüllte Herrſchaft errungen, die ungleich feſter ſtand als das
napoleoniſche Weltreich und den Deutſchen wie den Italienern jede Mög-
lichkeit friedlicher nationaler Entwicklung abſchnitt. Ein Deutſcher Bund
mit Oeſterreich und den noch unbekehrten Satrapen Bonapartes konnte

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[597/0613] Die neue Diplomatie. punkte des ungeheuren Familiengutes, das man Oeſterreich nannte, in dieſem Wirrwarr zuſammengeheiratheter Länder und Völker hatte man nie etwas geahnt von den ſittlichen Kräften, welche ein nationales Staats- weſen zuſammenhalten; und es war ſo recht im Geiſte der alten Habs- burgerpolitik, wenn Oeſterreich und Baiern jetzt ſelbander über die Frage ſtritten, ob die Unterthanen der Mediatiſirten, die ihrem Landesherrn nur wenig einbrachten, als halbe Seelen oder als Drittelſeelen zu berechnen ſeien. Mit Entrüſtung vernahmen die befreiten Völker, daß ſie nun wieder nichts ſein ſollten als eine große Heerde, die nur durch ihre Kopf- zahl Werth hatte. Im Rheiniſchen Mercur donnerte Görres gegen „das herzloſe ſtatiſtiſche Weſen“ der Wiener Diplomaten, und Blücher ſchrieb grimmig an ſeinen alten Freund Rüchel: „Der gute Wiener Congreß gleicht einem Jahrmarkt in einer kleinen Stadt, wo ein Jeder ſein Vieh hintreibt es zu verkaufen oder zu vertauſchen.“ Durch eine kunſtvoll ab- gewogene Vertheilung der Länder und der Leute die Wiederkehr der fran- zöſiſchen Uebermacht zu verhindern — in dieſem einen Gedanken ging jetzt wie einſt zu Utrecht die ganze Weisheit der Cabinette auf. Und wie damals Caron de St. Pierre wähnte, aus der neuen, völlig willkürlichen Geſtaltung der Länderkarte werde ein unabänderlicher Friedenszuſtand hervorgehen, ſo erwachte jetzt wieder der unmännliche Traum vom ewigen Frieden, dies ſicherſte Kennzeichen politiſch ermatteter und gedankenarmer Epochen: viele treffliche Männer aus jedem Stande und jedem Volke gaben ſich im Ernſt der Hoffnung hin, daß die Weltgeſchichte in ihrer ewigen Bewegung nunmehr ſtill ſtehen, vor den Rathſchlüſſen des Wiener Areopags ehrfürchtig verſtummen würde. Preußens Diplomatie ſtand nicht auf der Höhe ſeiner Feldherrnkunſt; keiner ſeiner Staatsmänner beſaß den kühnen, freien, ſicheren Blick Gneiſenaus. Aber das halbe und flaue Ergebniß der Wiener Verhand- lungen war durch die Natur der Dinge ſelbſt gegeben, nicht verſchuldet durch die Fehler einzelner Männer. Die ſchwerſte Krankheit des alten Staatenſyſtems, deren der treue Arndt ſoeben wieder in dem neueſten Bande des Geiſtes der Zeit warnend gedachte, die Zerſplitterung Deutſch- lands und Italiens, hatte der Befreiungskrieg nicht geheilt. Da hier wie dort die öffentliche Meinung noch in einem Zuſtande völliger Unreife verharrte, ſo brachte der Congreß beiden Völkern im Weſentlichen eine Reſtauration: den Italienern die Gebietsvertheilung von 1795, den Deut- ſchen die Wiederherſtellung jenes lockeren Nebeneinanders kleiner Monar- chien, das einſt aus der Fürſtenrevolution von 1803 hervorgegangen war. Dieſſeits wie jenſeits der Alpen hatte ſich Oeſterreich eine mittelbare, ge- ſchickt verhüllte Herrſchaft errungen, die ungleich feſter ſtand als das napoleoniſche Weltreich und den Deutſchen wie den Italienern jede Mög- lichkeit friedlicher nationaler Entwicklung abſchnitt. Ein Deutſcher Bund mit Oeſterreich und den noch unbekehrten Satrapen Bonapartes konnte

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 597. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/613>, abgerufen am 22.11.2024.