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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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II. 1. Der Wiener Congreß.
werden. Seine zur Schau getragene Verachtung gegen "die Zaunkönige"
des Rheinbundes hinderte ihn keineswegs, sofort auf dem Congresse, ohne
Wissen des Prinzregenten, für seine Welfen ebenfalls ein hannoversches
Zaunkönigthum zu verlangen -- eine anmaßliche Königskrone, deren un-
haltbare Ansprüche dereinst noch schwer auf dem kleinen Lande lasten sollten.

Es war der Fluch dieser kleinstaatlichen Welt, daß sich ein ehren-
hafter Nationalstolz in ihr nicht bilden konnte. Wie oft Münster auch
mit vollem Athem von Deutschlands Größe redete, so setzte er doch seinen
Stolz darein, daß alle seine Kinder Engländer waren. Und wie laut er
auch den Freisinn der wahren Aristokratie zu rühmen pflegte, so war er
doch selber ganz und gar befangen in den lakaienhaften Vorstellungen,
welche die gewerbmäßige Geschichtsverfälschung des Particularismus in den
deutschen Kleinstaaten ausgebildet hatte. Dies welfische Haus, das seit
Heinrich dem Löwen der deutschen Nation nahezu nichts gewesen, war ihm
das herrlichste der Erde. Ganz so urtheilslos wie die unterthänigen Göt-
tinger Professoren schrieb er die Blüthe des englischen Parlamentarismus,
die sich doch allein durch die erbliche Unfähigkeit der welfischen George und
auf Kosten ihrer Krone entwickelt hatte, der Weisheit des Hauses Braun-
schweig zu und fand auch in der verknöcherten Junkerherrschaft des altad-
lichen Hannoverlandes die geliebte "welfische Freiheit" wieder. Diesen großen
Augenblick, da Deutschland endlich wieder sich selber angehörte, dachte er zu
benutzen, um die gerechte Strafe, welche Heinrich der Löwe vor mehr denn
sechshundert Jahren für seine Felonie empfangen hatte, rückgängig zu
machen; dagegen fand er es höchst anmaßend, daß Preußen seinerseits die
vor sieben Jahren erlittene rohe Mißhandlung sühnen wollte.

Diesem Nachbarn widmete der welfische Staatsmann glühenden
Haß, ohne daß er je versucht hätte, die preußischen Zustände auch nur
oberflächlich kennen zu lernen. Unter den politischen Sünden, welche
dieser unglücklichen Nation die Bahn zur Macht und Freiheit versperrten,
ward keine so verderblich wie die allgemeine, in einem gebildeten Volke fast
wunderbare Unkenntniß des eigentlichen Inhalts der neueren vaterländischen
Geschichte. Von allen den gewaltigen Umgestaltungen, welche die Ent-
stehung des preußischen Volksheeres und damit die Befreiung Deutsch-
lands erst ermöglicht hatten, wußte man in den Kleinstaaten schlechterdings
nichts. Wie die Rheinbündner ungeheuerliche Märchen erzählten von dem
Stumpfsinn der leibeigenen brandenburgischen Bauern und der Tyrannei
des preußischen Junkerthums, so sprachen die Hannoveraner wegwerfend von
der Vielregiererei der Berliner Bureaukratie. Die Klügsten dort zu Lande
blieben von solchem Dünkel nicht frei. In den Jahren, da der hanno-
versche Staat gar nicht mehr bestand, schrieb Rehberg, der bedeutendste
Mann unter jenen bürgerlichen Räthen, die für die adlichen hannoverschen
Minister die Arbeit besorgen mußten, sein Buch über die Verwaltung
in Monarchien, eine Verherrlichung des welfischen Adelsregiments im

II. 1. Der Wiener Congreß.
werden. Seine zur Schau getragene Verachtung gegen „die Zaunkönige“
des Rheinbundes hinderte ihn keineswegs, ſofort auf dem Congreſſe, ohne
Wiſſen des Prinzregenten, für ſeine Welfen ebenfalls ein hannoverſches
Zaunkönigthum zu verlangen — eine anmaßliche Königskrone, deren un-
haltbare Anſprüche dereinſt noch ſchwer auf dem kleinen Lande laſten ſollten.

Es war der Fluch dieſer kleinſtaatlichen Welt, daß ſich ein ehren-
hafter Nationalſtolz in ihr nicht bilden konnte. Wie oft Münſter auch
mit vollem Athem von Deutſchlands Größe redete, ſo ſetzte er doch ſeinen
Stolz darein, daß alle ſeine Kinder Engländer waren. Und wie laut er
auch den Freiſinn der wahren Ariſtokratie zu rühmen pflegte, ſo war er
doch ſelber ganz und gar befangen in den lakaienhaften Vorſtellungen,
welche die gewerbmäßige Geſchichtsverfälſchung des Particularismus in den
deutſchen Kleinſtaaten ausgebildet hatte. Dies welfiſche Haus, das ſeit
Heinrich dem Löwen der deutſchen Nation nahezu nichts geweſen, war ihm
das herrlichſte der Erde. Ganz ſo urtheilslos wie die unterthänigen Göt-
tinger Profeſſoren ſchrieb er die Blüthe des engliſchen Parlamentarismus,
die ſich doch allein durch die erbliche Unfähigkeit der welfiſchen George und
auf Koſten ihrer Krone entwickelt hatte, der Weisheit des Hauſes Braun-
ſchweig zu und fand auch in der verknöcherten Junkerherrſchaft des altad-
lichen Hannoverlandes die geliebte „welfiſche Freiheit“ wieder. Dieſen großen
Augenblick, da Deutſchland endlich wieder ſich ſelber angehörte, dachte er zu
benutzen, um die gerechte Strafe, welche Heinrich der Löwe vor mehr denn
ſechshundert Jahren für ſeine Felonie empfangen hatte, rückgängig zu
machen; dagegen fand er es höchſt anmaßend, daß Preußen ſeinerſeits die
vor ſieben Jahren erlittene rohe Mißhandlung ſühnen wollte.

Dieſem Nachbarn widmete der welfiſche Staatsmann glühenden
Haß, ohne daß er je verſucht hätte, die preußiſchen Zuſtände auch nur
oberflächlich kennen zu lernen. Unter den politiſchen Sünden, welche
dieſer unglücklichen Nation die Bahn zur Macht und Freiheit verſperrten,
ward keine ſo verderblich wie die allgemeine, in einem gebildeten Volke faſt
wunderbare Unkenntniß des eigentlichen Inhalts der neueren vaterländiſchen
Geſchichte. Von allen den gewaltigen Umgeſtaltungen, welche die Ent-
ſtehung des preußiſchen Volksheeres und damit die Befreiung Deutſch-
lands erſt ermöglicht hatten, wußte man in den Kleinſtaaten ſchlechterdings
nichts. Wie die Rheinbündner ungeheuerliche Märchen erzählten von dem
Stumpfſinn der leibeigenen brandenburgiſchen Bauern und der Tyrannei
des preußiſchen Junkerthums, ſo ſprachen die Hannoveraner wegwerfend von
der Vielregiererei der Berliner Bureaukratie. Die Klügſten dort zu Lande
blieben von ſolchem Dünkel nicht frei. In den Jahren, da der hanno-
verſche Staat gar nicht mehr beſtand, ſchrieb Rehberg, der bedeutendſte
Mann unter jenen bürgerlichen Räthen, die für die adlichen hannoverſchen
Miniſter die Arbeit beſorgen mußten, ſein Buch über die Verwaltung
in Monarchien, eine Verherrlichung des welfiſchen Adelsregiments im

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[610/0626] II. 1. Der Wiener Congreß. werden. Seine zur Schau getragene Verachtung gegen „die Zaunkönige“ des Rheinbundes hinderte ihn keineswegs, ſofort auf dem Congreſſe, ohne Wiſſen des Prinzregenten, für ſeine Welfen ebenfalls ein hannoverſches Zaunkönigthum zu verlangen — eine anmaßliche Königskrone, deren un- haltbare Anſprüche dereinſt noch ſchwer auf dem kleinen Lande laſten ſollten. Es war der Fluch dieſer kleinſtaatlichen Welt, daß ſich ein ehren- hafter Nationalſtolz in ihr nicht bilden konnte. Wie oft Münſter auch mit vollem Athem von Deutſchlands Größe redete, ſo ſetzte er doch ſeinen Stolz darein, daß alle ſeine Kinder Engländer waren. Und wie laut er auch den Freiſinn der wahren Ariſtokratie zu rühmen pflegte, ſo war er doch ſelber ganz und gar befangen in den lakaienhaften Vorſtellungen, welche die gewerbmäßige Geſchichtsverfälſchung des Particularismus in den deutſchen Kleinſtaaten ausgebildet hatte. Dies welfiſche Haus, das ſeit Heinrich dem Löwen der deutſchen Nation nahezu nichts geweſen, war ihm das herrlichſte der Erde. Ganz ſo urtheilslos wie die unterthänigen Göt- tinger Profeſſoren ſchrieb er die Blüthe des engliſchen Parlamentarismus, die ſich doch allein durch die erbliche Unfähigkeit der welfiſchen George und auf Koſten ihrer Krone entwickelt hatte, der Weisheit des Hauſes Braun- ſchweig zu und fand auch in der verknöcherten Junkerherrſchaft des altad- lichen Hannoverlandes die geliebte „welfiſche Freiheit“ wieder. Dieſen großen Augenblick, da Deutſchland endlich wieder ſich ſelber angehörte, dachte er zu benutzen, um die gerechte Strafe, welche Heinrich der Löwe vor mehr denn ſechshundert Jahren für ſeine Felonie empfangen hatte, rückgängig zu machen; dagegen fand er es höchſt anmaßend, daß Preußen ſeinerſeits die vor ſieben Jahren erlittene rohe Mißhandlung ſühnen wollte. Dieſem Nachbarn widmete der welfiſche Staatsmann glühenden Haß, ohne daß er je verſucht hätte, die preußiſchen Zuſtände auch nur oberflächlich kennen zu lernen. Unter den politiſchen Sünden, welche dieſer unglücklichen Nation die Bahn zur Macht und Freiheit verſperrten, ward keine ſo verderblich wie die allgemeine, in einem gebildeten Volke faſt wunderbare Unkenntniß des eigentlichen Inhalts der neueren vaterländiſchen Geſchichte. Von allen den gewaltigen Umgeſtaltungen, welche die Ent- ſtehung des preußiſchen Volksheeres und damit die Befreiung Deutſch- lands erſt ermöglicht hatten, wußte man in den Kleinſtaaten ſchlechterdings nichts. Wie die Rheinbündner ungeheuerliche Märchen erzählten von dem Stumpfſinn der leibeigenen brandenburgiſchen Bauern und der Tyrannei des preußiſchen Junkerthums, ſo ſprachen die Hannoveraner wegwerfend von der Vielregiererei der Berliner Bureaukratie. Die Klügſten dort zu Lande blieben von ſolchem Dünkel nicht frei. In den Jahren, da der hanno- verſche Staat gar nicht mehr beſtand, ſchrieb Rehberg, der bedeutendſte Mann unter jenen bürgerlichen Räthen, die für die adlichen hannoverſchen Miniſter die Arbeit beſorgen mußten, ſein Buch über die Verwaltung in Monarchien, eine Verherrlichung des welfiſchen Adelsregiments im

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 610. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/626>, abgerufen am 09.11.2024.