Wie Münster in England, so suchte Gagern in Holland den Schwer- punkt der mitteleuropäischen Politik. Soeben erst durch einen Zufall in den holländischen Dienst verschlagen hatte er sich alsbald in seiner unsteten Phantasie ein Idealbild von dem europäischen Berufe des oranischen Hauses entworfen, und wie Münster von der welfischen Freiheit so redete er von der oranischen Politik der rechten Mitte. Was kümmerte es ihn, daß das alte Heldengeschlecht der Oranier längst die Augen ge- schlossen und die neue Linie Nassau-Diez von dem großen Sinne ihrer Ahnen nicht das Mindeste geerbt hatte? Selbst die unersättliche Länder- gier des neuen Königs der Niederlande belehrte den Begeisterten nicht, obgleich er auf Augenblicke über dies Uebermaß der Habsucht selber er- schrak. Vornehmlich für Deutschland erwartete er wunderbar segensreiche Folgen von der weisen Politik des Fürstenhauses, dessen Wahlspruch lautete: je maintiendray! Im Rausche seines Enthusiasmus wußte er zwischen holländischen und deutschen Interessen gar nicht mehr zu unter- scheiden. Den geliebtesten und begabtesten seiner Söhne ließ er in das holländische Heer eintreten ohne zu ahnen daß er ihn in die Fremde schickte; ebenso arglos versuchte er ein Stück nach dem andern vom deutschen linken Rheinufer für seinen Herrn abzureißen. Sein König wollte von dem Deutschen Bunde nichts hören; auch der Gesandte selber fand es bedenklich, die gesammten Niederlande als Bundesverwandte, wie Hardenberg wünschte, dem deutschen Gesammtstaate anzugliedern, und kam daher auf den unsinnigen Vorschlag, daß die Niederlande, wie Oesterreich, Preußen und Dänemark, nur mit einem Theile ihres Gebiets, mit Luxem- burg, dem Deutschen Bunde beitreten sollten. Diese Halbheit galt ihm keineswegs als ein trauriger Nothbehelf, sondern vielmehr als ein Triumph echt germanischer Staatskunst; denn je verzwickter, abgeschmackter und nebelhafter sich das deutsche Staatsrecht gestaltete, um so mehr schien es ihm dem uralten Geiste deutscher Freiheit zu entsprechen. An dem alten Reiche hatte er nichts so sehr bewundert wie die ungeheuerlichen Rechtsverhältnisse von Schlesien und Altpreußen, von denen Niemand sicher sagen konnte, ob sie zu Deutschland gehörten. In solchen Bastards- gebilden sah er das eigentliche Wesen des corpus nomenque Germaniae; wie beglückte ihn die Hoffnung, auch unsere Westgrenze mit einem ähnlichen Meisterwerke germanischer Staatenbildung zu schmücken.
Also trabten die großen Kinder der Kleinstaaterei seelenvergnügt auf ihren Steckenpferden dahin und bosselten und feilten mit ihren feinen Händen so lange an dem Staatsbau ihres Vaterlandes, bis die deutsche Verfassung wieder ganz ebenso phrasenhaft, verlogen und sinnlos wurde wie einst das alte Reich. Gegen Preußen hegte Gagern eine aus Todes- angst und Verehrung sonderbar gemischte Empfindung; der Haß fand überhaupt keine Stätte in dieser gutmüthigen Seele, die Alles, Men- schen und Dinge immer von der freundlichsten Seite nahm. Wenn er
II. 1. Der Wiener Congreß.
Wie Münſter in England, ſo ſuchte Gagern in Holland den Schwer- punkt der mitteleuropäiſchen Politik. Soeben erſt durch einen Zufall in den holländiſchen Dienſt verſchlagen hatte er ſich alsbald in ſeiner unſteten Phantaſie ein Idealbild von dem europäiſchen Berufe des oraniſchen Hauſes entworfen, und wie Münſter von der welfiſchen Freiheit ſo redete er von der oraniſchen Politik der rechten Mitte. Was kümmerte es ihn, daß das alte Heldengeſchlecht der Oranier längſt die Augen ge- ſchloſſen und die neue Linie Naſſau-Diez von dem großen Sinne ihrer Ahnen nicht das Mindeſte geerbt hatte? Selbſt die unerſättliche Länder- gier des neuen Königs der Niederlande belehrte den Begeiſterten nicht, obgleich er auf Augenblicke über dies Uebermaß der Habſucht ſelber er- ſchrak. Vornehmlich für Deutſchland erwartete er wunderbar ſegensreiche Folgen von der weiſen Politik des Fürſtenhauſes, deſſen Wahlſpruch lautete: je maintiendray! Im Rauſche ſeines Enthuſiasmus wußte er zwiſchen holländiſchen und deutſchen Intereſſen gar nicht mehr zu unter- ſcheiden. Den geliebteſten und begabteſten ſeiner Söhne ließ er in das holländiſche Heer eintreten ohne zu ahnen daß er ihn in die Fremde ſchickte; ebenſo arglos verſuchte er ein Stück nach dem andern vom deutſchen linken Rheinufer für ſeinen Herrn abzureißen. Sein König wollte von dem Deutſchen Bunde nichts hören; auch der Geſandte ſelber fand es bedenklich, die geſammten Niederlande als Bundesverwandte, wie Hardenberg wünſchte, dem deutſchen Geſammtſtaate anzugliedern, und kam daher auf den unſinnigen Vorſchlag, daß die Niederlande, wie Oeſterreich, Preußen und Dänemark, nur mit einem Theile ihres Gebiets, mit Luxem- burg, dem Deutſchen Bunde beitreten ſollten. Dieſe Halbheit galt ihm keineswegs als ein trauriger Nothbehelf, ſondern vielmehr als ein Triumph echt germaniſcher Staatskunſt; denn je verzwickter, abgeſchmackter und nebelhafter ſich das deutſche Staatsrecht geſtaltete, um ſo mehr ſchien es ihm dem uralten Geiſte deutſcher Freiheit zu entſprechen. An dem alten Reiche hatte er nichts ſo ſehr bewundert wie die ungeheuerlichen Rechtsverhältniſſe von Schleſien und Altpreußen, von denen Niemand ſicher ſagen konnte, ob ſie zu Deutſchland gehörten. In ſolchen Baſtards- gebilden ſah er das eigentliche Weſen des corpus nomenque Germaniae; wie beglückte ihn die Hoffnung, auch unſere Weſtgrenze mit einem ähnlichen Meiſterwerke germaniſcher Staatenbildung zu ſchmücken.
Alſo trabten die großen Kinder der Kleinſtaaterei ſeelenvergnügt auf ihren Steckenpferden dahin und boſſelten und feilten mit ihren feinen Händen ſo lange an dem Staatsbau ihres Vaterlandes, bis die deutſche Verfaſſung wieder ganz ebenſo phraſenhaft, verlogen und ſinnlos wurde wie einſt das alte Reich. Gegen Preußen hegte Gagern eine aus Todes- angſt und Verehrung ſonderbar gemiſchte Empfindung; der Haß fand überhaupt keine Stätte in dieſer gutmüthigen Seele, die Alles, Men- ſchen und Dinge immer von der freundlichſten Seite nahm. Wenn er
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II. 1. Der Wiener Congreß.
Wie Münſter in England, ſo ſuchte Gagern in Holland den Schwer-
punkt der mitteleuropäiſchen Politik. Soeben erſt durch einen Zufall in
den holländiſchen Dienſt verſchlagen hatte er ſich alsbald in ſeiner unſteten
Phantaſie ein Idealbild von dem europäiſchen Berufe des oraniſchen
Hauſes entworfen, und wie Münſter von der welfiſchen Freiheit ſo
redete er von der oraniſchen Politik der rechten Mitte. Was kümmerte
es ihn, daß das alte Heldengeſchlecht der Oranier längſt die Augen ge-
ſchloſſen und die neue Linie Naſſau-Diez von dem großen Sinne ihrer
Ahnen nicht das Mindeſte geerbt hatte? Selbſt die unerſättliche Länder-
gier des neuen Königs der Niederlande belehrte den Begeiſterten nicht,
obgleich er auf Augenblicke über dies Uebermaß der Habſucht ſelber er-
ſchrak. Vornehmlich für Deutſchland erwartete er wunderbar ſegensreiche
Folgen von der weiſen Politik des Fürſtenhauſes, deſſen Wahlſpruch
lautete: je maintiendray! Im Rauſche ſeines Enthuſiasmus wußte er
zwiſchen holländiſchen und deutſchen Intereſſen gar nicht mehr zu unter-
ſcheiden. Den geliebteſten und begabteſten ſeiner Söhne ließ er in das
holländiſche Heer eintreten ohne zu ahnen daß er ihn in die Fremde
ſchickte; ebenſo arglos verſuchte er ein Stück nach dem andern vom
deutſchen linken Rheinufer für ſeinen Herrn abzureißen. Sein König
wollte von dem Deutſchen Bunde nichts hören; auch der Geſandte ſelber
fand es bedenklich, die geſammten Niederlande als Bundesverwandte, wie
Hardenberg wünſchte, dem deutſchen Geſammtſtaate anzugliedern, und kam
daher auf den unſinnigen Vorſchlag, daß die Niederlande, wie Oeſterreich,
Preußen und Dänemark, nur mit einem Theile ihres Gebiets, mit Luxem-
burg, dem Deutſchen Bunde beitreten ſollten. Dieſe Halbheit galt ihm
keineswegs als ein trauriger Nothbehelf, ſondern vielmehr als ein Triumph
echt germaniſcher Staatskunſt; denn je verzwickter, abgeſchmackter und
nebelhafter ſich das deutſche Staatsrecht geſtaltete, um ſo mehr ſchien
es ihm dem uralten Geiſte deutſcher Freiheit zu entſprechen. An dem
alten Reiche hatte er nichts ſo ſehr bewundert wie die ungeheuerlichen
Rechtsverhältniſſe von Schleſien und Altpreußen, von denen Niemand
ſicher ſagen konnte, ob ſie zu Deutſchland gehörten. In ſolchen Baſtards-
gebilden ſah er das eigentliche Weſen des corpus nomenque Germaniae;
wie beglückte ihn die Hoffnung, auch unſere Weſtgrenze mit einem ähnlichen
Meiſterwerke germaniſcher Staatenbildung zu ſchmücken.
Alſo trabten die großen Kinder der Kleinſtaaterei ſeelenvergnügt auf
ihren Steckenpferden dahin und boſſelten und feilten mit ihren feinen
Händen ſo lange an dem Staatsbau ihres Vaterlandes, bis die deutſche
Verfaſſung wieder ganz ebenſo phraſenhaft, verlogen und ſinnlos wurde
wie einſt das alte Reich. Gegen Preußen hegte Gagern eine aus Todes-
angſt und Verehrung ſonderbar gemiſchte Empfindung; der Haß fand
überhaupt keine Stätte in dieſer gutmüthigen Seele, die Alles, Men-
ſchen und Dinge immer von der freundlichſten Seite nahm. Wenn er
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 612. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/628>, abgerufen am 22.11.2024.
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