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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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II. 1. Der Wiener Congreß.
Wien schon um Weihnachten hoch entrüstet. Gleichwohl entging seiner
Klugheit nicht, daß es zu Ende war mit den guten Tagen der ungestörten
Selbstherrlichkeit. Die Schwaben erkannten den brutalen Tyrannen kaum
wieder, so sanft und gnädig trat er nach seiner Heimkehr plötzlich auf, so
sichtlich bemühte er sich Frieden zu halten mit seinem Volke; von Napo-
leon wollte er gar nichts mehr hören, doch ebenso bestimmt sprach er aus,
daß er niemals irgend einer Weisung aus Wien gehorchen werde.*) Am
11. Januar 1815 überraschte er sein unglückliches Land durch eine Procla-
mation, welche die nahe Einberufung eines Landtags ankündigte: der
König gewähre diese längst beabsichtigte Wohlthat schon jetzt, um zu be-
weisen, "daß nicht eine äußere Nothwendigkeit oder eine gegen Andere
eingegangene Verbindlichkeit" ihn zwinge. Damit glaubte er dem Deut-
schen Bunde ein Schnippchen geschlagen zu haben; er ahnte nicht, wie
bald sein mißhandeltes Volk selber ein furchtbares Strafgericht über die
Sünden des letzten Jahrzehntes halten würde. Auch dem kranken Groß-
herzog Karl von Baden fehlte es nicht an Verstand. Die herrischen
Mahnungen der Großmächte schreckten ihn aus seinem dumpfen Brüten
auf; schon am 1. December ließ er dem preußischen Staatskanzler in
einer verbindlichen Note anzeigen, er sei bereit seinem Volke alle die
in dem preußischen Bundesplane geforderten landständischen Rechte zu
gewähren und habe bereits eine Verfassungscommission eingesetzt. Aus
so trüben Quellen entsprang die constitutionelle Bewegung in Süddeutsch-
land; doch da sie der Natur der Dinge entsprach, so nahm sie ihren Fort-
gang auch als die kleinen Kronen von dem Deutschen Bunde nichts mehr
zu fürchten hatten.

In jenem Augenblicke war die Besorgniß der Mittelstaaten keineswegs
grundlos, denn die preußischen Staatsmänner betrieben, ungeschreckt durch
den Zerfall des Fünfer-Ausschusses, das deutsche Verfassungswerk mit
rührigem Eifer. Die nationale Politik war ihnen Herzenssache; wiederholt
hatten sie dem vaterlandslosen Gerede der Baiern und Württemberger die
Erklärung entgegengehalten: ihr König betrachte es "als seine Regenten-
pflicht, seine Unterthanen wieder in eine Verbindung zu bringen, wodurch
sie mit Deutschland eine Nation bilden." Humboldt schritt sofort an die
Ausarbeitung eines neuen Entwurfs; da stieß er auf eine ganz unerwartete
neue Schwierigkeit. Der österreichische Minister nämlich, der bisher für
die Kreisverfassung gesprochen hatte, ward plötzlich anderen Sinnes. Er
errieth, was allerdings sehr nahe lag, daß die kleinen norddeutschen Con-
tingente, dem preußischen Kreisobersten untergeordnet, unfehlbar in der
preußischen Armee verschwinden würden; und da er bei dem deutschen
Verfassungswerke, das ihn im Uebrigen völlig kalt ließ, nur den einen
Zweck verfolgte die Macht Preußens zu beschränken, so erklärte er sich

*) Berichte des Geschäftsträgers Jouffroy, Stuttgart 12. Jan. 7. März 1815.

II. 1. Der Wiener Congreß.
Wien ſchon um Weihnachten hoch entrüſtet. Gleichwohl entging ſeiner
Klugheit nicht, daß es zu Ende war mit den guten Tagen der ungeſtörten
Selbſtherrlichkeit. Die Schwaben erkannten den brutalen Tyrannen kaum
wieder, ſo ſanft und gnädig trat er nach ſeiner Heimkehr plötzlich auf, ſo
ſichtlich bemühte er ſich Frieden zu halten mit ſeinem Volke; von Napo-
leon wollte er gar nichts mehr hören, doch ebenſo beſtimmt ſprach er aus,
daß er niemals irgend einer Weiſung aus Wien gehorchen werde.*) Am
11. Januar 1815 überraſchte er ſein unglückliches Land durch eine Procla-
mation, welche die nahe Einberufung eines Landtags ankündigte: der
König gewähre dieſe längſt beabſichtigte Wohlthat ſchon jetzt, um zu be-
weiſen, „daß nicht eine äußere Nothwendigkeit oder eine gegen Andere
eingegangene Verbindlichkeit“ ihn zwinge. Damit glaubte er dem Deut-
ſchen Bunde ein Schnippchen geſchlagen zu haben; er ahnte nicht, wie
bald ſein mißhandeltes Volk ſelber ein furchtbares Strafgericht über die
Sünden des letzten Jahrzehntes halten würde. Auch dem kranken Groß-
herzog Karl von Baden fehlte es nicht an Verſtand. Die herriſchen
Mahnungen der Großmächte ſchreckten ihn aus ſeinem dumpfen Brüten
auf; ſchon am 1. December ließ er dem preußiſchen Staatskanzler in
einer verbindlichen Note anzeigen, er ſei bereit ſeinem Volke alle die
in dem preußiſchen Bundesplane geforderten landſtändiſchen Rechte zu
gewähren und habe bereits eine Verfaſſungscommiſſion eingeſetzt. Aus
ſo trüben Quellen entſprang die conſtitutionelle Bewegung in Süddeutſch-
land; doch da ſie der Natur der Dinge entſprach, ſo nahm ſie ihren Fort-
gang auch als die kleinen Kronen von dem Deutſchen Bunde nichts mehr
zu fürchten hatten.

In jenem Augenblicke war die Beſorgniß der Mittelſtaaten keineswegs
grundlos, denn die preußiſchen Staatsmänner betrieben, ungeſchreckt durch
den Zerfall des Fünfer-Ausſchuſſes, das deutſche Verfaſſungswerk mit
rührigem Eifer. Die nationale Politik war ihnen Herzensſache; wiederholt
hatten ſie dem vaterlandsloſen Gerede der Baiern und Württemberger die
Erklärung entgegengehalten: ihr König betrachte es „als ſeine Regenten-
pflicht, ſeine Unterthanen wieder in eine Verbindung zu bringen, wodurch
ſie mit Deutſchland eine Nation bilden.“ Humboldt ſchritt ſofort an die
Ausarbeitung eines neuen Entwurfs; da ſtieß er auf eine ganz unerwartete
neue Schwierigkeit. Der öſterreichiſche Miniſter nämlich, der bisher für
die Kreisverfaſſung geſprochen hatte, ward plötzlich anderen Sinnes. Er
errieth, was allerdings ſehr nahe lag, daß die kleinen norddeutſchen Con-
tingente, dem preußiſchen Kreisoberſten untergeordnet, unfehlbar in der
preußiſchen Armee verſchwinden würden; und da er bei dem deutſchen
Verfaſſungswerke, das ihn im Uebrigen völlig kalt ließ, nur den einen
Zweck verfolgte die Macht Preußens zu beſchränken, ſo erklärte er ſich

*) Berichte des Geſchäftsträgers Jouffroy, Stuttgart 12. Jan. 7. März 1815.
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[688/0704] II. 1. Der Wiener Congreß. Wien ſchon um Weihnachten hoch entrüſtet. Gleichwohl entging ſeiner Klugheit nicht, daß es zu Ende war mit den guten Tagen der ungeſtörten Selbſtherrlichkeit. Die Schwaben erkannten den brutalen Tyrannen kaum wieder, ſo ſanft und gnädig trat er nach ſeiner Heimkehr plötzlich auf, ſo ſichtlich bemühte er ſich Frieden zu halten mit ſeinem Volke; von Napo- leon wollte er gar nichts mehr hören, doch ebenſo beſtimmt ſprach er aus, daß er niemals irgend einer Weiſung aus Wien gehorchen werde. *) Am 11. Januar 1815 überraſchte er ſein unglückliches Land durch eine Procla- mation, welche die nahe Einberufung eines Landtags ankündigte: der König gewähre dieſe längſt beabſichtigte Wohlthat ſchon jetzt, um zu be- weiſen, „daß nicht eine äußere Nothwendigkeit oder eine gegen Andere eingegangene Verbindlichkeit“ ihn zwinge. Damit glaubte er dem Deut- ſchen Bunde ein Schnippchen geſchlagen zu haben; er ahnte nicht, wie bald ſein mißhandeltes Volk ſelber ein furchtbares Strafgericht über die Sünden des letzten Jahrzehntes halten würde. Auch dem kranken Groß- herzog Karl von Baden fehlte es nicht an Verſtand. Die herriſchen Mahnungen der Großmächte ſchreckten ihn aus ſeinem dumpfen Brüten auf; ſchon am 1. December ließ er dem preußiſchen Staatskanzler in einer verbindlichen Note anzeigen, er ſei bereit ſeinem Volke alle die in dem preußiſchen Bundesplane geforderten landſtändiſchen Rechte zu gewähren und habe bereits eine Verfaſſungscommiſſion eingeſetzt. Aus ſo trüben Quellen entſprang die conſtitutionelle Bewegung in Süddeutſch- land; doch da ſie der Natur der Dinge entſprach, ſo nahm ſie ihren Fort- gang auch als die kleinen Kronen von dem Deutſchen Bunde nichts mehr zu fürchten hatten. In jenem Augenblicke war die Beſorgniß der Mittelſtaaten keineswegs grundlos, denn die preußiſchen Staatsmänner betrieben, ungeſchreckt durch den Zerfall des Fünfer-Ausſchuſſes, das deutſche Verfaſſungswerk mit rührigem Eifer. Die nationale Politik war ihnen Herzensſache; wiederholt hatten ſie dem vaterlandsloſen Gerede der Baiern und Württemberger die Erklärung entgegengehalten: ihr König betrachte es „als ſeine Regenten- pflicht, ſeine Unterthanen wieder in eine Verbindung zu bringen, wodurch ſie mit Deutſchland eine Nation bilden.“ Humboldt ſchritt ſofort an die Ausarbeitung eines neuen Entwurfs; da ſtieß er auf eine ganz unerwartete neue Schwierigkeit. Der öſterreichiſche Miniſter nämlich, der bisher für die Kreisverfaſſung geſprochen hatte, ward plötzlich anderen Sinnes. Er errieth, was allerdings ſehr nahe lag, daß die kleinen norddeutſchen Con- tingente, dem preußiſchen Kreisoberſten untergeordnet, unfehlbar in der preußiſchen Armee verſchwinden würden; und da er bei dem deutſchen Verfaſſungswerke, das ihn im Uebrigen völlig kalt ließ, nur den einen Zweck verfolgte die Macht Preußens zu beſchränken, ſo erklärte er ſich *) Berichte des Geſchäftsträgers Jouffroy, Stuttgart 12. Jan. 7. März 1815.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 688. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/704>, abgerufen am 22.11.2024.