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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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II. 1. Der Wiener Congreß.
Haus Oesterreich selber war natürlich nach seiner oft bewährten Reichs-
treue zu jedem Opfer bereit; daran durfte Niemand zweifeln, der die
brünstigen Betheuerungen der k. k. Staatsmänner vernahm. Nur wegen
des unüberwindlichen Widerstandes der kleinen Königshöfe sah sich der
österreichische Minister zu seinem lebhaften Bedauern genöthigt, die preu-
ßischen Vorschläge wieder einmal abzuweisen. Metternich wußte aus seiner
reichen diplomatischen Erfahrung, daß langwierige Streitigkeiten zuletzt
durch die allgemeine Ermüdung entschieden werden. Jetzt begann dies
Gefühl bei Jedermann übermächtig zu werden. Alle stimmten dem Oester-
reicher bei, da er nun heraussagte, was schon im September seine Mei-
nung gewesen war: an eine Bundesverfassung sei für jetzt doch nicht zu
denken; genug wenn man ihre "Grundzüge" feststelle. Dann holte er
jenen Wessenbergischen Plan vom December wieder hervor, der allerdings
kaum als der Grundzug eines Grundzugs gelten konnte, ließ das Mach-
werk ein wenig erweitern und übergab diese Umarbeitung am 7. Mai
als achten Entwurf den preußischen Staatsmännern. Ueber diesen Ent-
wurf ward nun endlich eingehend zwischen Metternich und Hardenberg
verhandelt. Auf Preußens Wunsch schaltete der Oesterreicher einige ver-
schärfende Zusätze ein, der Staatskanzler fügte eigenhändig den Artikel
über die Mediatisirten hinzu, und so entstand jener neunte und letzte
Bundesplan, welchen Metternich am 23. Mai im Namen Oesterreichs
und Preußens den Bevollmächtigten aller deutschen Staaten zur Be-
schlußfassung unterbreitete. Trotz der zweimaligen Umarbeitung waren
die Hauptsätze des österreichischen December-Entwurfs unverändert ge-
blieben, so daß Wessenberg als der eigentliche Verfasser der deutschen
Bundesacte betrachtet werden muß. Der liebenswürdige, feingebildete
Breisgauer Baron zählte zu den freisinnigsten Politikern Oesterreichs;
er hegte sogar, wie sein Bruder, der den Römischen verhaßte Coadjutor,
eine gewisse Schwärmerei für das deutsche Vaterland. Aber in Sachen
der deutschen Politik konnte es unter den k. k. Staatsmännern keine
Meinungsverschiedenheit geben; wer dem Hause Oesterreich diente mußte
dem deutschen Gesammtstaate den Charakter eines losen völkerrechtlichen Ver-
eins zu verleihen suchen, weil sonst der Kaiserstaat keinen Raum darin fand.

Tags zuvor, am 22. Mai hatte König Friedrich Wilhelm die folgen-
schwere Verordnung über die Repräsentation des Volks unterzeichnet. Die
preußischen Staatsmänner rechneten sichs zur Ehre, wie Humboldt oft
sagte, daß Niemand in Wien wärmer als sie für die Rechte der deutschen
Landstände eingetreten war. Wie durfte also Preußen zurückbleiben hin-
ter den süddeutschen Höfen, die bereits ihre Verfassungscommissionen ein-
berufen hatten? Wer hätte damals auch nur für denkbar gehalten, daß
die Einführung des Repräsentativsystems gerade in Preußen auf die
schwersten Hemmnisse stoßen und sich am Längsten verzögern würde?
Mindestens eine feierliche Zusage schien unerläßlich; war doch Hardenberg

II. 1. Der Wiener Congreß.
Haus Oeſterreich ſelber war natürlich nach ſeiner oft bewährten Reichs-
treue zu jedem Opfer bereit; daran durfte Niemand zweifeln, der die
brünſtigen Betheuerungen der k. k. Staatsmänner vernahm. Nur wegen
des unüberwindlichen Widerſtandes der kleinen Königshöfe ſah ſich der
öſterreichiſche Miniſter zu ſeinem lebhaften Bedauern genöthigt, die preu-
ßiſchen Vorſchläge wieder einmal abzuweiſen. Metternich wußte aus ſeiner
reichen diplomatiſchen Erfahrung, daß langwierige Streitigkeiten zuletzt
durch die allgemeine Ermüdung entſchieden werden. Jetzt begann dies
Gefühl bei Jedermann übermächtig zu werden. Alle ſtimmten dem Oeſter-
reicher bei, da er nun herausſagte, was ſchon im September ſeine Mei-
nung geweſen war: an eine Bundesverfaſſung ſei für jetzt doch nicht zu
denken; genug wenn man ihre „Grundzüge“ feſtſtelle. Dann holte er
jenen Weſſenbergiſchen Plan vom December wieder hervor, der allerdings
kaum als der Grundzug eines Grundzugs gelten konnte, ließ das Mach-
werk ein wenig erweitern und übergab dieſe Umarbeitung am 7. Mai
als achten Entwurf den preußiſchen Staatsmännern. Ueber dieſen Ent-
wurf ward nun endlich eingehend zwiſchen Metternich und Hardenberg
verhandelt. Auf Preußens Wunſch ſchaltete der Oeſterreicher einige ver-
ſchärfende Zuſätze ein, der Staatskanzler fügte eigenhändig den Artikel
über die Mediatiſirten hinzu, und ſo entſtand jener neunte und letzte
Bundesplan, welchen Metternich am 23. Mai im Namen Oeſterreichs
und Preußens den Bevollmächtigten aller deutſchen Staaten zur Be-
ſchlußfaſſung unterbreitete. Trotz der zweimaligen Umarbeitung waren
die Hauptſätze des öſterreichiſchen December-Entwurfs unverändert ge-
blieben, ſo daß Weſſenberg als der eigentliche Verfaſſer der deutſchen
Bundesacte betrachtet werden muß. Der liebenswürdige, feingebildete
Breisgauer Baron zählte zu den freiſinnigſten Politikern Oeſterreichs;
er hegte ſogar, wie ſein Bruder, der den Römiſchen verhaßte Coadjutor,
eine gewiſſe Schwärmerei für das deutſche Vaterland. Aber in Sachen
der deutſchen Politik konnte es unter den k. k. Staatsmännern keine
Meinungsverſchiedenheit geben; wer dem Hauſe Oeſterreich diente mußte
dem deutſchen Geſammtſtaate den Charakter eines loſen völkerrechtlichen Ver-
eins zu verleihen ſuchen, weil ſonſt der Kaiſerſtaat keinen Raum darin fand.

Tags zuvor, am 22. Mai hatte König Friedrich Wilhelm die folgen-
ſchwere Verordnung über die Repräſentation des Volks unterzeichnet. Die
preußiſchen Staatsmänner rechneten ſichs zur Ehre, wie Humboldt oft
ſagte, daß Niemand in Wien wärmer als ſie für die Rechte der deutſchen
Landſtände eingetreten war. Wie durfte alſo Preußen zurückbleiben hin-
ter den ſüddeutſchen Höfen, die bereits ihre Verfaſſungscommiſſionen ein-
berufen hatten? Wer hätte damals auch nur für denkbar gehalten, daß
die Einführung des Repräſentativſyſtems gerade in Preußen auf die
ſchwerſten Hemmniſſe ſtoßen und ſich am Längſten verzögern würde?
Mindeſtens eine feierliche Zuſage ſchien unerläßlich; war doch Hardenberg

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[696/0712] II. 1. Der Wiener Congreß. Haus Oeſterreich ſelber war natürlich nach ſeiner oft bewährten Reichs- treue zu jedem Opfer bereit; daran durfte Niemand zweifeln, der die brünſtigen Betheuerungen der k. k. Staatsmänner vernahm. Nur wegen des unüberwindlichen Widerſtandes der kleinen Königshöfe ſah ſich der öſterreichiſche Miniſter zu ſeinem lebhaften Bedauern genöthigt, die preu- ßiſchen Vorſchläge wieder einmal abzuweiſen. Metternich wußte aus ſeiner reichen diplomatiſchen Erfahrung, daß langwierige Streitigkeiten zuletzt durch die allgemeine Ermüdung entſchieden werden. Jetzt begann dies Gefühl bei Jedermann übermächtig zu werden. Alle ſtimmten dem Oeſter- reicher bei, da er nun herausſagte, was ſchon im September ſeine Mei- nung geweſen war: an eine Bundesverfaſſung ſei für jetzt doch nicht zu denken; genug wenn man ihre „Grundzüge“ feſtſtelle. Dann holte er jenen Weſſenbergiſchen Plan vom December wieder hervor, der allerdings kaum als der Grundzug eines Grundzugs gelten konnte, ließ das Mach- werk ein wenig erweitern und übergab dieſe Umarbeitung am 7. Mai als achten Entwurf den preußiſchen Staatsmännern. Ueber dieſen Ent- wurf ward nun endlich eingehend zwiſchen Metternich und Hardenberg verhandelt. Auf Preußens Wunſch ſchaltete der Oeſterreicher einige ver- ſchärfende Zuſätze ein, der Staatskanzler fügte eigenhändig den Artikel über die Mediatiſirten hinzu, und ſo entſtand jener neunte und letzte Bundesplan, welchen Metternich am 23. Mai im Namen Oeſterreichs und Preußens den Bevollmächtigten aller deutſchen Staaten zur Be- ſchlußfaſſung unterbreitete. Trotz der zweimaligen Umarbeitung waren die Hauptſätze des öſterreichiſchen December-Entwurfs unverändert ge- blieben, ſo daß Weſſenberg als der eigentliche Verfaſſer der deutſchen Bundesacte betrachtet werden muß. Der liebenswürdige, feingebildete Breisgauer Baron zählte zu den freiſinnigſten Politikern Oeſterreichs; er hegte ſogar, wie ſein Bruder, der den Römiſchen verhaßte Coadjutor, eine gewiſſe Schwärmerei für das deutſche Vaterland. Aber in Sachen der deutſchen Politik konnte es unter den k. k. Staatsmännern keine Meinungsverſchiedenheit geben; wer dem Hauſe Oeſterreich diente mußte dem deutſchen Geſammtſtaate den Charakter eines loſen völkerrechtlichen Ver- eins zu verleihen ſuchen, weil ſonſt der Kaiſerſtaat keinen Raum darin fand. Tags zuvor, am 22. Mai hatte König Friedrich Wilhelm die folgen- ſchwere Verordnung über die Repräſentation des Volks unterzeichnet. Die preußiſchen Staatsmänner rechneten ſichs zur Ehre, wie Humboldt oft ſagte, daß Niemand in Wien wärmer als ſie für die Rechte der deutſchen Landſtände eingetreten war. Wie durfte alſo Preußen zurückbleiben hin- ter den ſüddeutſchen Höfen, die bereits ihre Verfaſſungscommiſſionen ein- berufen hatten? Wer hätte damals auch nur für denkbar gehalten, daß die Einführung des Repräſentativſyſtems gerade in Preußen auf die ſchwerſten Hemmniſſe ſtoßen und ſich am Längſten verzögern würde? Mindeſtens eine feierliche Zuſage ſchien unerläßlich; war doch Hardenberg

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 696. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/712>, abgerufen am 22.11.2024.