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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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Die Bundesacte.

Und diese vielköpfige Bundesversammlung ohne Haupt trug keine
Verantwortlichkeit, weder rechtlich noch sittlich. Sie bestand aus Ge-
sandten, welche lediglich ihre Instruction zu befolgen hatten und also
jeden Tadel von sich auf ihre Auftraggeber abwälzen konnten, während
andererseits die kleinen Kronen nur allzu bald die Kunst lernten, sich vor
dem Zorne der öffentlichen Meinung hinter dem Bundestage zu verstecken.
Deutschlands innere Politik ward zu einem Luftkampfe; Niemand wußte
mehr, wo er eigentlich seine Gegner suchen sollte. Die entsittlichenden
Wirkungen solcher Unwahrheit zeigten sich rasch genug, an den Höfen wie
im Volke: feige Angst auf der einen, Wolkenkukuksheimer Träume und
unklare Verbitterung auf der anderen Seite. Die heillose Verwirrung
mußte um so unerträglicher werden, da ein schwerer Kampf zwischen dem
Bunde und seinen Gliedern gar nicht ausbleiben konnte; denn die Cen-
tralgewalt des Bundes war absolutistisch, war lediglich ein Organ der
Fürsten, in den Einzelstaaten aber kam bald die Macht der Landtage
empor.

Die Nation nahm das traurige Werk mit unheimlicher Kälte auf.
Wer überhaupt davon redete sprach seine grimmige Entrüstung aus.
Die wenigen Artikel über Volksrechte, an denen der öffentlichen Meinung
zumeist gelegen war, enthielten so leere, so windige Versprechungen, daß
sogar diese gutherzige Nation anfangen mußte an den bösen Willen ihrer
Machthaber zu glauben. Wie sonderbar nahm sich neben den unbe-
stimmten Phrasen über Preßfreiheit, Handelsfreiheit, Landstände die ge-
naue Aufzählung der Privilegien der Mediatisirten und der Thurn- und
Taxis'schen Postrechte aus. Und zu Alledem das Kläglichste: die Bundes-
acte war gar keine Verfassung, sondern enthielt nur die niemals ausge-
führten Grundzüge eines künftigen Bundesrechts. Vier Jahre später
schrieb der ehrliche Gagern nicht ohne Reue einem conservativen Freunde:
"Sie reden von der Erhaltung des Bestehenden. Ich suche vergeblich
den Bestand. Ich sehe eine Bundesacte, die wir zu entwickeln zu Wien
uns erst vornahmen!" --

In den Gebietshändeln hatten Preußens Staatsmänner, durch die
Festigkeit ihres Königs, doch einen halben Erfolg erreicht. In den Bun-
desverhandlungen wurden sie aufs Haupt geschlagen; nichts, gar nichts
von ihren Absichten hatten sie durchgesetzt. Aber der Schild preußischer
Ehre war ohne Makel geblieben. Die Haltung des Staates, der uns
von den Fremden befreit, gereichte noch in Wien allen anderen Deutschen
zur Beschämung -- wenn in einem solchen harten Interessenkampfe die
Scham überhaupt Raum fände. Zäh und redlich, consequenter als
Stein, hatten Hardenberg und Humboldt einen bestimmten Plan einge-
halten, immer nur Schritt für Schritt zurückweichend vor dem vereinten
Widerstande nahezu des gesammten Deutschlands, einen Plan, der freilich
auch an der allgemeinen politischen Unklarheit der Epoche krankte, aber

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Die Bundesacte.

Und dieſe vielköpfige Bundesverſammlung ohne Haupt trug keine
Verantwortlichkeit, weder rechtlich noch ſittlich. Sie beſtand aus Ge-
ſandten, welche lediglich ihre Inſtruction zu befolgen hatten und alſo
jeden Tadel von ſich auf ihre Auftraggeber abwälzen konnten, während
andererſeits die kleinen Kronen nur allzu bald die Kunſt lernten, ſich vor
dem Zorne der öffentlichen Meinung hinter dem Bundestage zu verſtecken.
Deutſchlands innere Politik ward zu einem Luftkampfe; Niemand wußte
mehr, wo er eigentlich ſeine Gegner ſuchen ſollte. Die entſittlichenden
Wirkungen ſolcher Unwahrheit zeigten ſich raſch genug, an den Höfen wie
im Volke: feige Angſt auf der einen, Wolkenkukuksheimer Träume und
unklare Verbitterung auf der anderen Seite. Die heilloſe Verwirrung
mußte um ſo unerträglicher werden, da ein ſchwerer Kampf zwiſchen dem
Bunde und ſeinen Gliedern gar nicht ausbleiben konnte; denn die Cen-
tralgewalt des Bundes war abſolutiſtiſch, war lediglich ein Organ der
Fürſten, in den Einzelſtaaten aber kam bald die Macht der Landtage
empor.

Die Nation nahm das traurige Werk mit unheimlicher Kälte auf.
Wer überhaupt davon redete ſprach ſeine grimmige Entrüſtung aus.
Die wenigen Artikel über Volksrechte, an denen der öffentlichen Meinung
zumeiſt gelegen war, enthielten ſo leere, ſo windige Verſprechungen, daß
ſogar dieſe gutherzige Nation anfangen mußte an den böſen Willen ihrer
Machthaber zu glauben. Wie ſonderbar nahm ſich neben den unbe-
ſtimmten Phraſen über Preßfreiheit, Handelsfreiheit, Landſtände die ge-
naue Aufzählung der Privilegien der Mediatiſirten und der Thurn- und
Taxis’ſchen Poſtrechte aus. Und zu Alledem das Kläglichſte: die Bundes-
acte war gar keine Verfaſſung, ſondern enthielt nur die niemals ausge-
führten Grundzüge eines künftigen Bundesrechts. Vier Jahre ſpäter
ſchrieb der ehrliche Gagern nicht ohne Reue einem conſervativen Freunde:
„Sie reden von der Erhaltung des Beſtehenden. Ich ſuche vergeblich
den Beſtand. Ich ſehe eine Bundesacte, die wir zu entwickeln zu Wien
uns erſt vornahmen!“ —

In den Gebietshändeln hatten Preußens Staatsmänner, durch die
Feſtigkeit ihres Königs, doch einen halben Erfolg erreicht. In den Bun-
desverhandlungen wurden ſie aufs Haupt geſchlagen; nichts, gar nichts
von ihren Abſichten hatten ſie durchgeſetzt. Aber der Schild preußiſcher
Ehre war ohne Makel geblieben. Die Haltung des Staates, der uns
von den Fremden befreit, gereichte noch in Wien allen anderen Deutſchen
zur Beſchämung — wenn in einem ſolchen harten Intereſſenkampfe die
Scham überhaupt Raum fände. Zäh und redlich, conſequenter als
Stein, hatten Hardenberg und Humboldt einen beſtimmten Plan einge-
halten, immer nur Schritt für Schritt zurückweichend vor dem vereinten
Widerſtande nahezu des geſammten Deutſchlands, einen Plan, der freilich
auch an der allgemeinen politiſchen Unklarheit der Epoche krankte, aber

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[707/0723] Die Bundesacte. Und dieſe vielköpfige Bundesverſammlung ohne Haupt trug keine Verantwortlichkeit, weder rechtlich noch ſittlich. Sie beſtand aus Ge- ſandten, welche lediglich ihre Inſtruction zu befolgen hatten und alſo jeden Tadel von ſich auf ihre Auftraggeber abwälzen konnten, während andererſeits die kleinen Kronen nur allzu bald die Kunſt lernten, ſich vor dem Zorne der öffentlichen Meinung hinter dem Bundestage zu verſtecken. Deutſchlands innere Politik ward zu einem Luftkampfe; Niemand wußte mehr, wo er eigentlich ſeine Gegner ſuchen ſollte. Die entſittlichenden Wirkungen ſolcher Unwahrheit zeigten ſich raſch genug, an den Höfen wie im Volke: feige Angſt auf der einen, Wolkenkukuksheimer Träume und unklare Verbitterung auf der anderen Seite. Die heilloſe Verwirrung mußte um ſo unerträglicher werden, da ein ſchwerer Kampf zwiſchen dem Bunde und ſeinen Gliedern gar nicht ausbleiben konnte; denn die Cen- tralgewalt des Bundes war abſolutiſtiſch, war lediglich ein Organ der Fürſten, in den Einzelſtaaten aber kam bald die Macht der Landtage empor. Die Nation nahm das traurige Werk mit unheimlicher Kälte auf. Wer überhaupt davon redete ſprach ſeine grimmige Entrüſtung aus. Die wenigen Artikel über Volksrechte, an denen der öffentlichen Meinung zumeiſt gelegen war, enthielten ſo leere, ſo windige Verſprechungen, daß ſogar dieſe gutherzige Nation anfangen mußte an den böſen Willen ihrer Machthaber zu glauben. Wie ſonderbar nahm ſich neben den unbe- ſtimmten Phraſen über Preßfreiheit, Handelsfreiheit, Landſtände die ge- naue Aufzählung der Privilegien der Mediatiſirten und der Thurn- und Taxis’ſchen Poſtrechte aus. Und zu Alledem das Kläglichſte: die Bundes- acte war gar keine Verfaſſung, ſondern enthielt nur die niemals ausge- führten Grundzüge eines künftigen Bundesrechts. Vier Jahre ſpäter ſchrieb der ehrliche Gagern nicht ohne Reue einem conſervativen Freunde: „Sie reden von der Erhaltung des Beſtehenden. Ich ſuche vergeblich den Beſtand. Ich ſehe eine Bundesacte, die wir zu entwickeln zu Wien uns erſt vornahmen!“ — In den Gebietshändeln hatten Preußens Staatsmänner, durch die Feſtigkeit ihres Königs, doch einen halben Erfolg erreicht. In den Bun- desverhandlungen wurden ſie aufs Haupt geſchlagen; nichts, gar nichts von ihren Abſichten hatten ſie durchgeſetzt. Aber der Schild preußiſcher Ehre war ohne Makel geblieben. Die Haltung des Staates, der uns von den Fremden befreit, gereichte noch in Wien allen anderen Deutſchen zur Beſchämung — wenn in einem ſolchen harten Intereſſenkampfe die Scham überhaupt Raum fände. Zäh und redlich, conſequenter als Stein, hatten Hardenberg und Humboldt einen beſtimmten Plan einge- halten, immer nur Schritt für Schritt zurückweichend vor dem vereinten Widerſtande nahezu des geſammten Deutſchlands, einen Plan, der freilich auch an der allgemeinen politiſchen Unklarheit der Epoche krankte, aber 45*

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 707. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/723>, abgerufen am 22.11.2024.