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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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II. 2. Belle Alliance.
mächtigem Handeln und noch ohne Kenntniß von dem wirklichen Ausbruch
der Feindseligkeiten, blieb unbesorgt in Lüttich und verschob die anbefohlene
Vereinigung seines Corps bei Hannut auf den 16. Juni. Ein zweiter
dringenderer Befehl zum Anmarsch traf ihn daher in Hannut nicht an.
Das vierte Corps verlor in einem Zeitpunkte, da jede Minute kostbar
war, einen vollen Tag und konnte am 16. nicht mehr bei der Armee
eintreffen. Die Lage der drei preußischen Corps, die sich in der Gegend
von Sombreffe zusammenzogen, gestaltete sich also sehr ernsthaft, und ob-
wohl das Blücher'sche Hauptquartier ungestüm nach einer raschen Ent-
scheidung verlangte, so wurde doch am Morgen des 16. ernstlich die
Frage erwogen, ob man nicht besser thue die Armee weiter nördlich,
näher an das rechts rückwärts stehende englische Heer heranzuführen; dort
konnte die Vereinigung der Verbündeten sich ungestört vollziehen.

Während Gneisenau die Absicht Napoleons sogleich durchschaute, blieb
Wellington bei seiner vorgefaßten Meinung, daß der Anmarsch der Feinde
in mehreren Colonnen erfolgen werde, und befürchtete einen Angriff auf
seiner rechten Flanke, auf der Straße von Mons her. Die erste Nach-
richt von den Gefechten bei Charleroi ließ er unbeachtet, da er dort nur
einen Theil der Armee Napoleons vermuthete; und auch als er endlich
am Abend des 15. von Brüssel aus, einen ganzen Tag später als Blücher,
die Concentration seiner Armee anordnete, befahl er nicht einfach den
Linksabmarsch des gesammten Heeres nach dem wichtigen Knotenpunkte
Quatrebras, wo die Straßen von Charleroi und Namur nach Brüssel
zusammentrafen und eine Vereinigung mit den Preußen möglich war,
sondern gab seinen Corps die Richtung auf die fünf Meilen lange Linie
von Enghien im Westen über Nivelles nach Genappe im Osten, so daß
die englische Armee nur mit ihrer äußersten Linken die Straße nach Char-
leroi berührte. Die völlig grundlose Sorge vor einer Umgehung im
Westen bestimmte alle Anordnungen des englischen Feldherrn; seine Re-
serven, die nach Genappe, auf die Straße von Charleroi marschiren
sollten, ließ er am 16. fünf Stunden lang bei Waterloo rasten, weil er
im Zweifel war, ob er sie nicht noch weiter im Westen verwenden sollte.
Zum Glück besetzte Prinz Bernhard von Weimar mit seiner nassauischen
Brigade am Abend des 15. eigenmächtig den Kreuzweg von Quatrebras;
aber selbst dieser schwache vorgeschobene Posten des linken Flügels der
Engländer stand noch eine starke Meile rechts rückwärts hinter der preußi-
schen Aufstellung und vermochte eine Umgehung der linken Flanke Blüchers
schwerlich zu verhindern.

Noch verderblicher wurde, daß der Herzog sich selber und den preu-
ßischen Feldherrn gründlich täuschte über die Stellung, welche sein Heer
am 16. einnehmen konnte. Am 15. um Mitternacht ließ er an Blücher
schreiben, nächsten Tags früh 10 Uhr würden 20,000 Mann des engli-
schen Heeres bei Quatrebras stehen -- was nach den getroffenen Anord-

II. 2. Belle Alliance.
mächtigem Handeln und noch ohne Kenntniß von dem wirklichen Ausbruch
der Feindſeligkeiten, blieb unbeſorgt in Lüttich und verſchob die anbefohlene
Vereinigung ſeines Corps bei Hannut auf den 16. Juni. Ein zweiter
dringenderer Befehl zum Anmarſch traf ihn daher in Hannut nicht an.
Das vierte Corps verlor in einem Zeitpunkte, da jede Minute koſtbar
war, einen vollen Tag und konnte am 16. nicht mehr bei der Armee
eintreffen. Die Lage der drei preußiſchen Corps, die ſich in der Gegend
von Sombreffe zuſammenzogen, geſtaltete ſich alſo ſehr ernſthaft, und ob-
wohl das Blücher’ſche Hauptquartier ungeſtüm nach einer raſchen Ent-
ſcheidung verlangte, ſo wurde doch am Morgen des 16. ernſtlich die
Frage erwogen, ob man nicht beſſer thue die Armee weiter nördlich,
näher an das rechts rückwärts ſtehende engliſche Heer heranzuführen; dort
konnte die Vereinigung der Verbündeten ſich ungeſtört vollziehen.

Während Gneiſenau die Abſicht Napoleons ſogleich durchſchaute, blieb
Wellington bei ſeiner vorgefaßten Meinung, daß der Anmarſch der Feinde
in mehreren Colonnen erfolgen werde, und befürchtete einen Angriff auf
ſeiner rechten Flanke, auf der Straße von Mons her. Die erſte Nach-
richt von den Gefechten bei Charleroi ließ er unbeachtet, da er dort nur
einen Theil der Armee Napoleons vermuthete; und auch als er endlich
am Abend des 15. von Brüſſel aus, einen ganzen Tag ſpäter als Blücher,
die Concentration ſeiner Armee anordnete, befahl er nicht einfach den
Linksabmarſch des geſammten Heeres nach dem wichtigen Knotenpunkte
Quatrebras, wo die Straßen von Charleroi und Namur nach Brüſſel
zuſammentrafen und eine Vereinigung mit den Preußen möglich war,
ſondern gab ſeinen Corps die Richtung auf die fünf Meilen lange Linie
von Enghien im Weſten über Nivelles nach Genappe im Oſten, ſo daß
die engliſche Armee nur mit ihrer äußerſten Linken die Straße nach Char-
leroi berührte. Die völlig grundloſe Sorge vor einer Umgehung im
Weſten beſtimmte alle Anordnungen des engliſchen Feldherrn; ſeine Re-
ſerven, die nach Genappe, auf die Straße von Charleroi marſchiren
ſollten, ließ er am 16. fünf Stunden lang bei Waterloo raſten, weil er
im Zweifel war, ob er ſie nicht noch weiter im Weſten verwenden ſollte.
Zum Glück beſetzte Prinz Bernhard von Weimar mit ſeiner naſſauiſchen
Brigade am Abend des 15. eigenmächtig den Kreuzweg von Quatrebras;
aber ſelbſt dieſer ſchwache vorgeſchobene Poſten des linken Flügels der
Engländer ſtand noch eine ſtarke Meile rechts rückwärts hinter der preußi-
ſchen Aufſtellung und vermochte eine Umgehung der linken Flanke Blüchers
ſchwerlich zu verhindern.

Noch verderblicher wurde, daß der Herzog ſich ſelber und den preu-
ßiſchen Feldherrn gründlich täuſchte über die Stellung, welche ſein Heer
am 16. einnehmen konnte. Am 15. um Mitternacht ließ er an Blücher
ſchreiben, nächſten Tags früh 10 Uhr würden 20,000 Mann des engli-
ſchen Heeres bei Quatrebras ſtehen — was nach den getroffenen Anord-

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[736/0752] II. 2. Belle Alliance. mächtigem Handeln und noch ohne Kenntniß von dem wirklichen Ausbruch der Feindſeligkeiten, blieb unbeſorgt in Lüttich und verſchob die anbefohlene Vereinigung ſeines Corps bei Hannut auf den 16. Juni. Ein zweiter dringenderer Befehl zum Anmarſch traf ihn daher in Hannut nicht an. Das vierte Corps verlor in einem Zeitpunkte, da jede Minute koſtbar war, einen vollen Tag und konnte am 16. nicht mehr bei der Armee eintreffen. Die Lage der drei preußiſchen Corps, die ſich in der Gegend von Sombreffe zuſammenzogen, geſtaltete ſich alſo ſehr ernſthaft, und ob- wohl das Blücher’ſche Hauptquartier ungeſtüm nach einer raſchen Ent- ſcheidung verlangte, ſo wurde doch am Morgen des 16. ernſtlich die Frage erwogen, ob man nicht beſſer thue die Armee weiter nördlich, näher an das rechts rückwärts ſtehende engliſche Heer heranzuführen; dort konnte die Vereinigung der Verbündeten ſich ungeſtört vollziehen. Während Gneiſenau die Abſicht Napoleons ſogleich durchſchaute, blieb Wellington bei ſeiner vorgefaßten Meinung, daß der Anmarſch der Feinde in mehreren Colonnen erfolgen werde, und befürchtete einen Angriff auf ſeiner rechten Flanke, auf der Straße von Mons her. Die erſte Nach- richt von den Gefechten bei Charleroi ließ er unbeachtet, da er dort nur einen Theil der Armee Napoleons vermuthete; und auch als er endlich am Abend des 15. von Brüſſel aus, einen ganzen Tag ſpäter als Blücher, die Concentration ſeiner Armee anordnete, befahl er nicht einfach den Linksabmarſch des geſammten Heeres nach dem wichtigen Knotenpunkte Quatrebras, wo die Straßen von Charleroi und Namur nach Brüſſel zuſammentrafen und eine Vereinigung mit den Preußen möglich war, ſondern gab ſeinen Corps die Richtung auf die fünf Meilen lange Linie von Enghien im Weſten über Nivelles nach Genappe im Oſten, ſo daß die engliſche Armee nur mit ihrer äußerſten Linken die Straße nach Char- leroi berührte. Die völlig grundloſe Sorge vor einer Umgehung im Weſten beſtimmte alle Anordnungen des engliſchen Feldherrn; ſeine Re- ſerven, die nach Genappe, auf die Straße von Charleroi marſchiren ſollten, ließ er am 16. fünf Stunden lang bei Waterloo raſten, weil er im Zweifel war, ob er ſie nicht noch weiter im Weſten verwenden ſollte. Zum Glück beſetzte Prinz Bernhard von Weimar mit ſeiner naſſauiſchen Brigade am Abend des 15. eigenmächtig den Kreuzweg von Quatrebras; aber ſelbſt dieſer ſchwache vorgeſchobene Poſten des linken Flügels der Engländer ſtand noch eine ſtarke Meile rechts rückwärts hinter der preußi- ſchen Aufſtellung und vermochte eine Umgehung der linken Flanke Blüchers ſchwerlich zu verhindern. Noch verderblicher wurde, daß der Herzog ſich ſelber und den preu- ßiſchen Feldherrn gründlich täuſchte über die Stellung, welche ſein Heer am 16. einnehmen konnte. Am 15. um Mitternacht ließ er an Blücher ſchreiben, nächſten Tags früh 10 Uhr würden 20,000 Mann des engli- ſchen Heeres bei Quatrebras ſtehen — was nach den getroffenen Anord-

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 736. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/752>, abgerufen am 22.11.2024.