Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.II. 2. Belle Alliance. sammelte sein Heer bei Mont St. Jean, rittlings auf der Brüsseler Straße,mit der Front nach Süden. Die Furcht vor einer Umgehung von rechts her gab er freilich noch immer nicht ganz auf und ließ daher bei Hal, zwei Meilen westlich vom Schlachtfelde ein Corps von 17,000 Mann stehen, sodaß in den Entscheidungsstunden fast ein Fünftel seines Heeres fehlte. Das preußische Heer war in der Nacht vom 17. auf den 18. vollzählig in der Gegend von Wavre versammelt, nur zwei starke Meilen östlich von Mont St. Jean, und auch die sehnlich erwartete Munitions- colonne traf noch ein. Aber diese kurze Entfernung, die ein Adjutant im Galopp wohl in einer guten Stunde zurücklegen konnte, bot bei dem ent- setzlichen Zustande der Wege für die unbehilflichen Geschützmassen einer großen Armee erhebliche Schwierigkeiten. Zudem ward ein langer Auf- enthalt unvermeidlich, da das noch unberührte Corps Bülows die Spitze nehmen sollte und die weiter vorwärts stehenden Heertheile erst durch- kreuzen mußte. Beabsichtigte der englische Feldherr nur eine Demon- stration, wie Gneisenau eine Zeit lang argwöhnte, so konnte die Lage der Preußen, die ihre linke Flanke bloß stellten, hochgefährlich werden; nur im festen Vertrauen auf die unerschütterliche Ausdauer des eng- lischen Heeres durften sie das Wagniß unternehmen. Wellington getraute sich dem preußischen Feldherrn nur zuzumuthen, daß er zur Verstärkung des linken Flügels der Engländer herankäme. Gneisenau aber wählte nach seiner großen Weise einen kühneren und schwereren Plan: er dachte viel- mehr die Franzosen im Rücken und der rechten Flanke anzugreifen. Ge- lang dieser Schlag, so war Napoleons Heer vernichtet und der Krieg mit einem male beendet. Daß die Besiegten so verwegene Gedanken fassen durften, wurde nur II. 2. Belle Alliance. ſammelte ſein Heer bei Mont St. Jean, rittlings auf der Brüſſeler Straße,mit der Front nach Süden. Die Furcht vor einer Umgehung von rechts her gab er freilich noch immer nicht ganz auf und ließ daher bei Hal, zwei Meilen weſtlich vom Schlachtfelde ein Corps von 17,000 Mann ſtehen, ſodaß in den Entſcheidungsſtunden faſt ein Fünftel ſeines Heeres fehlte. Das preußiſche Heer war in der Nacht vom 17. auf den 18. vollzählig in der Gegend von Wavre verſammelt, nur zwei ſtarke Meilen öſtlich von Mont St. Jean, und auch die ſehnlich erwartete Munitions- colonne traf noch ein. Aber dieſe kurze Entfernung, die ein Adjutant im Galopp wohl in einer guten Stunde zurücklegen konnte, bot bei dem ent- ſetzlichen Zuſtande der Wege für die unbehilflichen Geſchützmaſſen einer großen Armee erhebliche Schwierigkeiten. Zudem ward ein langer Auf- enthalt unvermeidlich, da das noch unberührte Corps Bülows die Spitze nehmen ſollte und die weiter vorwärts ſtehenden Heertheile erſt durch- kreuzen mußte. Beabſichtigte der engliſche Feldherr nur eine Demon- ſtration, wie Gneiſenau eine Zeit lang argwöhnte, ſo konnte die Lage der Preußen, die ihre linke Flanke bloß ſtellten, hochgefährlich werden; nur im feſten Vertrauen auf die unerſchütterliche Ausdauer des eng- liſchen Heeres durften ſie das Wagniß unternehmen. Wellington getraute ſich dem preußiſchen Feldherrn nur zuzumuthen, daß er zur Verſtärkung des linken Flügels der Engländer herankäme. Gneiſenau aber wählte nach ſeiner großen Weiſe einen kühneren und ſchwereren Plan: er dachte viel- mehr die Franzoſen im Rücken und der rechten Flanke anzugreifen. Ge- lang dieſer Schlag, ſo war Napoleons Heer vernichtet und der Krieg mit einem male beendet. 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Ob Wellington dann noch einen Schlag gegen Ney wagte,<lb/> erſchien mindeſtens zweifelhaft; wahrſcheinlicher doch daß der Bedachtſame<lb/> ſich auf Antwerpen zurückzog. Es war nicht Kleinmuth was den Im-<lb/> perator hinderte dieſen Entſchluß zu faſſen, ſondern der alte Fehler der<lb/> Ueberhebung. Wie einſt nach der Dresdener Schlacht und nach den<lb/> Siegen in der Champagne, ſo dachte er auch jetzt zu niedrig von dem<lb/> Gegner; er glaubte beſtimmt, die Preußen eilten in voller Auflöſung dem<lb/> Rheine zu, und hielt nicht einmal für nöthig ihren Rückzug beobachten<lb/> zu laſſen. Stand es alſo wie er wähnte, dann blieb ihm freilich Zeit<lb/> vollauf um das engliſche Heer zu ſchlagen. Gemächlich ließ er ſeine<lb/> Truppen am Vormittag des 17. raſten. Seine Gedanken weilten mehr<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [746/0762]
II. 2. Belle Alliance.
ſammelte ſein Heer bei Mont St. Jean, rittlings auf der Brüſſeler Straße,
mit der Front nach Süden. Die Furcht vor einer Umgehung von rechts
her gab er freilich noch immer nicht ganz auf und ließ daher bei Hal,
zwei Meilen weſtlich vom Schlachtfelde ein Corps von 17,000 Mann
ſtehen, ſodaß in den Entſcheidungsſtunden faſt ein Fünftel ſeines Heeres
fehlte. Das preußiſche Heer war in der Nacht vom 17. auf den 18.
vollzählig in der Gegend von Wavre verſammelt, nur zwei ſtarke Meilen
öſtlich von Mont St. Jean, und auch die ſehnlich erwartete Munitions-
colonne traf noch ein. Aber dieſe kurze Entfernung, die ein Adjutant im
Galopp wohl in einer guten Stunde zurücklegen konnte, bot bei dem ent-
ſetzlichen Zuſtande der Wege für die unbehilflichen Geſchützmaſſen einer
großen Armee erhebliche Schwierigkeiten. Zudem ward ein langer Auf-
enthalt unvermeidlich, da das noch unberührte Corps Bülows die Spitze
nehmen ſollte und die weiter vorwärts ſtehenden Heertheile erſt durch-
kreuzen mußte. Beabſichtigte der engliſche Feldherr nur eine Demon-
ſtration, wie Gneiſenau eine Zeit lang argwöhnte, ſo konnte die Lage
der Preußen, die ihre linke Flanke bloß ſtellten, hochgefährlich werden;
nur im feſten Vertrauen auf die unerſchütterliche Ausdauer des eng-
liſchen Heeres durften ſie das Wagniß unternehmen. Wellington getraute
ſich dem preußiſchen Feldherrn nur zuzumuthen, daß er zur Verſtärkung
des linken Flügels der Engländer herankäme. Gneiſenau aber wählte nach
ſeiner großen Weiſe einen kühneren und ſchwereren Plan: er dachte viel-
mehr die Franzoſen im Rücken und der rechten Flanke anzugreifen. Ge-
lang dieſer Schlag, ſo war Napoleons Heer vernichtet und der Krieg mit
einem male beendet.
Daß die Beſiegten ſo verwegene Gedanken faſſen durften, wurde nur
möglich durch die Unterlaſſungsſünden des Siegers. Gewiß war es für
Napoleon nicht unbedenklich den Preußen mit der Hauptmacht ſeines Heeres
zu folgen. Aber ſeine verzweifelte Lage forderte kühne Entſchlüſſe. Blieb
er dem rührigſten ſeiner Gegner auf den Hacken, ſo war möglich, daß die
geſchlagene Armee auf dem Rückzuge gänzlich aus den Fugen gerieth, da
die Wirkung eines Sieges ſich durch unaufhaltſame Verfolgung zu ver-
doppeln pflegt. Ob Wellington dann noch einen Schlag gegen Ney wagte,
erſchien mindeſtens zweifelhaft; wahrſcheinlicher doch daß der Bedachtſame
ſich auf Antwerpen zurückzog. Es war nicht Kleinmuth was den Im-
perator hinderte dieſen Entſchluß zu faſſen, ſondern der alte Fehler der
Ueberhebung. Wie einſt nach der Dresdener Schlacht und nach den
Siegen in der Champagne, ſo dachte er auch jetzt zu niedrig von dem
Gegner; er glaubte beſtimmt, die Preußen eilten in voller Auflöſung dem
Rheine zu, und hielt nicht einmal für nöthig ihren Rückzug beobachten
zu laſſen. Stand es alſo wie er wähnte, dann blieb ihm freilich Zeit
vollauf um das engliſche Heer zu ſchlagen. Gemächlich ließ er ſeine
Truppen am Vormittag des 17. raſten. Seine Gedanken weilten mehr
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