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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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Treffen bei Wavre.
verschoben! Schon jenseits der Grenze empfingen die Deutschen den
Feind; die Hälfte des preußischen Heeres und ein Theil der norddeutschen
Contingente genügten um, vereint mit etwa 60,000 Engländern und Nie-
derländern, das französische Heer aufs Haupt zu schlagen; unabweisbar
drängte sich der Gedanke auf, daß Preußen allein, selbst ohne Oesterreich,
bereits stark genug war die bösen Nachbarn zu bemeistern, wenn sich nur
alle deutschen Staaten ihm anschlossen. Gneisenau sagte befriedigt: "Die
Franzosen ahnen nicht blos, sie wissen jetzt, daß wir ihnen überlegen sind."
Im Bewußtsein solcher Kraft verlangte die Nation wie aus einem Munde
rücksichtslose Ausbeutung des Sieges, gänzliche Befreiung des deutschen
Stromes. Im Namer Aller rief Arndt den Siegern zu:

Nun nach Frankreich, nun nach Frankreich!
Holt gestohlnes Gut zurück!
Unsre Vesten, unsre Grenzen,
Unsern Theil an Siegeskränzen,
Ehr' und Frieden holt zurück!

In gleichem Sinne rief ein anderer Poet:

Reißt Vaubans Stachelgurt von Frankreichs Grenze,
Legt ihn der Euren an!

Die Unvollkommenheit alles menschlichen Thuns zeigt sich aber nir-
gends greller als im Kriege. Ein letzter Erfolg, der noch möglich schien,
entging den Preußen -- nicht ohne die Schuld der beiden gelehrtesten
Männer der Armee, wie die Offiziere urtheilten. Das Heer Grouchys
entzog sich der Vernichtung. Als der Marschall am 18. Juni gegen
Wavre herankam, hielt ihn Thielmann bis zum Abend durch ein geschickt
und muthig geführtes Gefecht an der Dyle fest. Am frühen Morgen
des 19. griff Grouchy abermals an, und Thielmann, der dem übermäch-
tigen Feinde nur drei Brigaden entgegenzustellen hatte, wich in der Rich-
tung auf Löwen zurück. Sein Generalstabschef, der geistvolle Clausewitz
hielt die Lage für noch bedenklicher als sie war und setzte den Rückzug
allzu weit nach Norden fort. Als die Franzosen sodann, auf die Schreckens-
nachricht aus Belle Alliance, schleunigst umkehrten und der Sambre zu-
eilten, da hatten die Preußen die Fühlung mit ihnen verloren und konnten
sie nicht mehr erreichen. Unterdessen ward auch von der Hauptarmee her
ein Unternehmen gegen Grouchy eingeleitet. Während General Pirch am
späten Abend des 18. bei Plancenoit eintraf und die Schlacht schon nahezu
beendet fand, verfiel sein Generalstabschef, der gelehrte Aster sogleich auf
den glücklichen Gedanken, dies zweite Corps müsse sich jetzt ostwärts
wenden um je nach Umständen die Armee Grouchys zu verfolgen oder
ihr den Rückzug abzuschneiden. Er sprach damit nur aus was unmittel-
bar nachher Gneisenau selber dem General auftrug. Die Aufgabe bot
große Schwierigkeiten. Das Corps war durch den Tag von Ligny und

Treffen bei Wavre.
verſchoben! Schon jenſeits der Grenze empfingen die Deutſchen den
Feind; die Hälfte des preußiſchen Heeres und ein Theil der norddeutſchen
Contingente genügten um, vereint mit etwa 60,000 Engländern und Nie-
derländern, das franzöſiſche Heer aufs Haupt zu ſchlagen; unabweisbar
drängte ſich der Gedanke auf, daß Preußen allein, ſelbſt ohne Oeſterreich,
bereits ſtark genug war die böſen Nachbarn zu bemeiſtern, wenn ſich nur
alle deutſchen Staaten ihm anſchloſſen. Gneiſenau ſagte befriedigt: „Die
Franzoſen ahnen nicht blos, ſie wiſſen jetzt, daß wir ihnen überlegen ſind.“
Im Bewußtſein ſolcher Kraft verlangte die Nation wie aus einem Munde
rückſichtsloſe Ausbeutung des Sieges, gänzliche Befreiung des deutſchen
Stromes. Im Namer Aller rief Arndt den Siegern zu:

Nun nach Frankreich, nun nach Frankreich!
Holt geſtohlnes Gut zurück!
Unſre Veſten, unſre Grenzen,
Unſern Theil an Siegeskränzen,
Ehr’ und Frieden holt zurück!

In gleichem Sinne rief ein anderer Poet:

Reißt Vaubans Stachelgurt von Frankreichs Grenze,
Legt ihn der Euren an!

Die Unvollkommenheit alles menſchlichen Thuns zeigt ſich aber nir-
gends greller als im Kriege. Ein letzter Erfolg, der noch möglich ſchien,
entging den Preußen — nicht ohne die Schuld der beiden gelehrteſten
Männer der Armee, wie die Offiziere urtheilten. Das Heer Grouchys
entzog ſich der Vernichtung. Als der Marſchall am 18. Juni gegen
Wavre herankam, hielt ihn Thielmann bis zum Abend durch ein geſchickt
und muthig geführtes Gefecht an der Dyle feſt. Am frühen Morgen
des 19. griff Grouchy abermals an, und Thielmann, der dem übermäch-
tigen Feinde nur drei Brigaden entgegenzuſtellen hatte, wich in der Rich-
tung auf Löwen zurück. Sein Generalſtabschef, der geiſtvolle Clauſewitz
hielt die Lage für noch bedenklicher als ſie war und ſetzte den Rückzug
allzu weit nach Norden fort. Als die Franzoſen ſodann, auf die Schreckens-
nachricht aus Belle Alliance, ſchleunigſt umkehrten und der Sambre zu-
eilten, da hatten die Preußen die Fühlung mit ihnen verloren und konnten
ſie nicht mehr erreichen. Unterdeſſen ward auch von der Hauptarmee her
ein Unternehmen gegen Grouchy eingeleitet. Während General Pirch am
ſpäten Abend des 18. bei Plancenoit eintraf und die Schlacht ſchon nahezu
beendet fand, verfiel ſein Generalſtabschef, der gelehrte Aſter ſogleich auf
den glücklichen Gedanken, dies zweite Corps müſſe ſich jetzt oſtwärts
wenden um je nach Umſtänden die Armee Grouchys zu verfolgen oder
ihr den Rückzug abzuſchneiden. Er ſprach damit nur aus was unmittel-
bar nachher Gneiſenau ſelber dem General auftrug. Die Aufgabe bot
große Schwierigkeiten. Das Corps war durch den Tag von Ligny und

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[759/0775] Treffen bei Wavre. verſchoben! Schon jenſeits der Grenze empfingen die Deutſchen den Feind; die Hälfte des preußiſchen Heeres und ein Theil der norddeutſchen Contingente genügten um, vereint mit etwa 60,000 Engländern und Nie- derländern, das franzöſiſche Heer aufs Haupt zu ſchlagen; unabweisbar drängte ſich der Gedanke auf, daß Preußen allein, ſelbſt ohne Oeſterreich, bereits ſtark genug war die böſen Nachbarn zu bemeiſtern, wenn ſich nur alle deutſchen Staaten ihm anſchloſſen. Gneiſenau ſagte befriedigt: „Die Franzoſen ahnen nicht blos, ſie wiſſen jetzt, daß wir ihnen überlegen ſind.“ Im Bewußtſein ſolcher Kraft verlangte die Nation wie aus einem Munde rückſichtsloſe Ausbeutung des Sieges, gänzliche Befreiung des deutſchen Stromes. Im Namer Aller rief Arndt den Siegern zu: Nun nach Frankreich, nun nach Frankreich! Holt geſtohlnes Gut zurück! Unſre Veſten, unſre Grenzen, Unſern Theil an Siegeskränzen, Ehr’ und Frieden holt zurück! In gleichem Sinne rief ein anderer Poet: Reißt Vaubans Stachelgurt von Frankreichs Grenze, Legt ihn der Euren an! Die Unvollkommenheit alles menſchlichen Thuns zeigt ſich aber nir- gends greller als im Kriege. Ein letzter Erfolg, der noch möglich ſchien, entging den Preußen — nicht ohne die Schuld der beiden gelehrteſten Männer der Armee, wie die Offiziere urtheilten. Das Heer Grouchys entzog ſich der Vernichtung. Als der Marſchall am 18. Juni gegen Wavre herankam, hielt ihn Thielmann bis zum Abend durch ein geſchickt und muthig geführtes Gefecht an der Dyle feſt. Am frühen Morgen des 19. griff Grouchy abermals an, und Thielmann, der dem übermäch- tigen Feinde nur drei Brigaden entgegenzuſtellen hatte, wich in der Rich- tung auf Löwen zurück. Sein Generalſtabschef, der geiſtvolle Clauſewitz hielt die Lage für noch bedenklicher als ſie war und ſetzte den Rückzug allzu weit nach Norden fort. Als die Franzoſen ſodann, auf die Schreckens- nachricht aus Belle Alliance, ſchleunigſt umkehrten und der Sambre zu- eilten, da hatten die Preußen die Fühlung mit ihnen verloren und konnten ſie nicht mehr erreichen. Unterdeſſen ward auch von der Hauptarmee her ein Unternehmen gegen Grouchy eingeleitet. Während General Pirch am ſpäten Abend des 18. bei Plancenoit eintraf und die Schlacht ſchon nahezu beendet fand, verfiel ſein Generalſtabschef, der gelehrte Aſter ſogleich auf den glücklichen Gedanken, dies zweite Corps müſſe ſich jetzt oſtwärts wenden um je nach Umſtänden die Armee Grouchys zu verfolgen oder ihr den Rückzug abzuſchneiden. Er ſprach damit nur aus was unmittel- bar nachher Gneiſenau ſelber dem General auftrug. Die Aufgabe bot große Schwierigkeiten. Das Corps war durch den Tag von Ligny und

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 759. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/775>, abgerufen am 22.11.2024.