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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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Der Friede und der Vierbund vom 20. November.
einen verdächtigen Feind behandeln dürfe, und setzte durch, daß die vier
Mächte sich, ohne feste Zeitangabe, zur Erhaltung des legitimen Königs-
hauses und der Charte verpflichteten *), denn von dem Parteifanatismus
der Emigranten befürchtete der Czar die schwersten Gefahren für Frankreich.
Die vier Mächte gelobten einander, durch wiederholte Zusammenkünfte
der Monarchen oder der Minister die europäische Sicherheit zu über-
wachen. So ward denn der gesammte Welttheil, und Frankreich insbe-
sondere unter die polizeiliche Aufsicht der Coalition gestellt; die Bourbonen
durften nicht ruhen bis sie aus dieser, für eine stolze Nation demüthi-
genden Lage wieder herauskamen und die Aufnahme Frankreichs in das
Bündniß der großen Mächte durchsetzten. Da die vier Mächte sämmtlich,
Oesterreich und England nicht ausgenommen, der wilden Leidenschaft der
Emigranten mißtrauten, so richteten sie zum Abschied noch eine Note an
Richelieu, ermahnten ihn die Mäßigung mit der Festigkeit zu verbinden,
allen Feinden der öffentlichen Ruhe, unter welcher Gestalt sie sich auch
zeigten, die feste Verfassungstreue entgegenzustellen. Voll schwerer Be-
sorgniß verließen die Staatsmänner der Coalition Paris. Keiner von
ihnen glaubte an die Lebenskraft des alten Königshauses, sie alle schätzten
die Dauer der bourbonischen Herrschaft nur auf wenige Jahre. Und
einem solchen Staate, dessen Zukunft völlig unberechenbar erschien, hatte
das verbündete Europa die beherrschenden Plätze am deutschen Oberrhein
wieder eingeräumt!

In der gesammten modernen Geschichte ist nur noch einmal nach
glänzenden kriegerischen Erfolgen ein Friede geschlossen worden, der sich
an schonender Milde dem Vertrage vom 20. November 1815 vergleichen
läßt: der Prager Friede von 1866. Aber was in Prag aus dem freien
Entschluß, aus der weisen Selbstbeschränkung des Siegers hervorging, das
führte in Paris der gemeinsame Argwohn der Verbündeten gegen den kühn-
sten und rührigsten der Siegesgenossen herbei. Der große Augenblick, da
das seit Richelieu so unnatürlich verrenkte Gleichgewicht Europas wiederher-
gestellt und den Deutschen ihr altes Erbtheil zurückgegeben werden konnte,
ward versäumt weil alle Mächte des Ostens und Westens sich begegneten
in dem Entschlusse die Mitte des Welttheils beständig niederzuhalten.
Durch schmerzliche Erfahrungen erkaufte sich die deutsche Nation die Er-
kenntniß, daß sie die Sühne des alten Unrechts allein von ihrem eigenen
guten Schwerte erwarten durfte. Alle die düsteren Weissagungen Harden-
bergs, Humboldts und Gneisenaus gingen wörtlich in Erfüllung. Die
Franzosen empfanden nicht nur, wie billig, die mehrjährige Anwesenheit
der fremden Truppen als eine unauslöschliche Schmach; sie nahmen auch
den beispiellos milden Frieden für eine grausame Beleidigung. Nicht
Saarbrücken oder Landau lag ihnen am Herzen; was sie nicht vergessen

*) Russische Denkschrift über den Bündnißvertrag, 9./21. Oct. 1815.
50*

Der Friede und der Vierbund vom 20. November.
einen verdächtigen Feind behandeln dürfe, und ſetzte durch, daß die vier
Mächte ſich, ohne feſte Zeitangabe, zur Erhaltung des legitimen Königs-
hauſes und der Charte verpflichteten *), denn von dem Parteifanatismus
der Emigranten befürchtete der Czar die ſchwerſten Gefahren für Frankreich.
Die vier Mächte gelobten einander, durch wiederholte Zuſammenkünfte
der Monarchen oder der Miniſter die europäiſche Sicherheit zu über-
wachen. So ward denn der geſammte Welttheil, und Frankreich insbe-
ſondere unter die polizeiliche Aufſicht der Coalition geſtellt; die Bourbonen
durften nicht ruhen bis ſie aus dieſer, für eine ſtolze Nation demüthi-
genden Lage wieder herauskamen und die Aufnahme Frankreichs in das
Bündniß der großen Mächte durchſetzten. Da die vier Mächte ſämmtlich,
Oeſterreich und England nicht ausgenommen, der wilden Leidenſchaft der
Emigranten mißtrauten, ſo richteten ſie zum Abſchied noch eine Note an
Richelieu, ermahnten ihn die Mäßigung mit der Feſtigkeit zu verbinden,
allen Feinden der öffentlichen Ruhe, unter welcher Geſtalt ſie ſich auch
zeigten, die feſte Verfaſſungstreue entgegenzuſtellen. Voll ſchwerer Be-
ſorgniß verließen die Staatsmänner der Coalition Paris. Keiner von
ihnen glaubte an die Lebenskraft des alten Königshauſes, ſie alle ſchätzten
die Dauer der bourboniſchen Herrſchaft nur auf wenige Jahre. Und
einem ſolchen Staate, deſſen Zukunft völlig unberechenbar erſchien, hatte
das verbündete Europa die beherrſchenden Plätze am deutſchen Oberrhein
wieder eingeräumt!

In der geſammten modernen Geſchichte iſt nur noch einmal nach
glänzenden kriegeriſchen Erfolgen ein Friede geſchloſſen worden, der ſich
an ſchonender Milde dem Vertrage vom 20. November 1815 vergleichen
läßt: der Prager Friede von 1866. Aber was in Prag aus dem freien
Entſchluß, aus der weiſen Selbſtbeſchränkung des Siegers hervorging, das
führte in Paris der gemeinſame Argwohn der Verbündeten gegen den kühn-
ſten und rührigſten der Siegesgenoſſen herbei. Der große Augenblick, da
das ſeit Richelieu ſo unnatürlich verrenkte Gleichgewicht Europas wiederher-
geſtellt und den Deutſchen ihr altes Erbtheil zurückgegeben werden konnte,
ward verſäumt weil alle Mächte des Oſtens und Weſtens ſich begegneten
in dem Entſchluſſe die Mitte des Welttheils beſtändig niederzuhalten.
Durch ſchmerzliche Erfahrungen erkaufte ſich die deutſche Nation die Er-
kenntniß, daß ſie die Sühne des alten Unrechts allein von ihrem eigenen
guten Schwerte erwarten durfte. Alle die düſteren Weiſſagungen Harden-
bergs, Humboldts und Gneiſenaus gingen wörtlich in Erfüllung. Die
Franzoſen empfanden nicht nur, wie billig, die mehrjährige Anweſenheit
der fremden Truppen als eine unauslöſchliche Schmach; ſie nahmen auch
den beiſpiellos milden Frieden für eine grauſame Beleidigung. Nicht
Saarbrücken oder Landau lag ihnen am Herzen; was ſie nicht vergeſſen

*) Ruſſiſche Denkſchrift über den Bündnißvertrag, 9./21. Oct. 1815.
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[787/0803] Der Friede und der Vierbund vom 20. November. einen verdächtigen Feind behandeln dürfe, und ſetzte durch, daß die vier Mächte ſich, ohne feſte Zeitangabe, zur Erhaltung des legitimen Königs- hauſes und der Charte verpflichteten *), denn von dem Parteifanatismus der Emigranten befürchtete der Czar die ſchwerſten Gefahren für Frankreich. Die vier Mächte gelobten einander, durch wiederholte Zuſammenkünfte der Monarchen oder der Miniſter die europäiſche Sicherheit zu über- wachen. So ward denn der geſammte Welttheil, und Frankreich insbe- ſondere unter die polizeiliche Aufſicht der Coalition geſtellt; die Bourbonen durften nicht ruhen bis ſie aus dieſer, für eine ſtolze Nation demüthi- genden Lage wieder herauskamen und die Aufnahme Frankreichs in das Bündniß der großen Mächte durchſetzten. Da die vier Mächte ſämmtlich, Oeſterreich und England nicht ausgenommen, der wilden Leidenſchaft der Emigranten mißtrauten, ſo richteten ſie zum Abſchied noch eine Note an Richelieu, ermahnten ihn die Mäßigung mit der Feſtigkeit zu verbinden, allen Feinden der öffentlichen Ruhe, unter welcher Geſtalt ſie ſich auch zeigten, die feſte Verfaſſungstreue entgegenzuſtellen. Voll ſchwerer Be- ſorgniß verließen die Staatsmänner der Coalition Paris. Keiner von ihnen glaubte an die Lebenskraft des alten Königshauſes, ſie alle ſchätzten die Dauer der bourboniſchen Herrſchaft nur auf wenige Jahre. Und einem ſolchen Staate, deſſen Zukunft völlig unberechenbar erſchien, hatte das verbündete Europa die beherrſchenden Plätze am deutſchen Oberrhein wieder eingeräumt! In der geſammten modernen Geſchichte iſt nur noch einmal nach glänzenden kriegeriſchen Erfolgen ein Friede geſchloſſen worden, der ſich an ſchonender Milde dem Vertrage vom 20. November 1815 vergleichen läßt: der Prager Friede von 1866. Aber was in Prag aus dem freien Entſchluß, aus der weiſen Selbſtbeſchränkung des Siegers hervorging, das führte in Paris der gemeinſame Argwohn der Verbündeten gegen den kühn- ſten und rührigſten der Siegesgenoſſen herbei. Der große Augenblick, da das ſeit Richelieu ſo unnatürlich verrenkte Gleichgewicht Europas wiederher- geſtellt und den Deutſchen ihr altes Erbtheil zurückgegeben werden konnte, ward verſäumt weil alle Mächte des Oſtens und Weſtens ſich begegneten in dem Entſchluſſe die Mitte des Welttheils beſtändig niederzuhalten. Durch ſchmerzliche Erfahrungen erkaufte ſich die deutſche Nation die Er- kenntniß, daß ſie die Sühne des alten Unrechts allein von ihrem eigenen guten Schwerte erwarten durfte. Alle die düſteren Weiſſagungen Harden- bergs, Humboldts und Gneiſenaus gingen wörtlich in Erfüllung. Die Franzoſen empfanden nicht nur, wie billig, die mehrjährige Anweſenheit der fremden Truppen als eine unauslöſchliche Schmach; ſie nahmen auch den beiſpiellos milden Frieden für eine grauſame Beleidigung. Nicht Saarbrücken oder Landau lag ihnen am Herzen; was ſie nicht vergeſſen *) Ruſſiſche Denkſchrift über den Bündnißvertrag, 9./21. Oct. 1815. 50*

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 787. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/803>, abgerufen am 21.11.2024.