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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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I. 1. Deutschland nach dem Westphälischen Frieden.
Lorbeeren überschüttet hatte, hinterließ die Armee in schlechterem Zustande
als er sie bei seiner Thronbesteigung vorgefunden, reichte als militärischer
Organisator an seinen rauhen Vater nicht heran. Er bedurfte der fleißigen
Hände um sein verwüstetes Land zu heben und begünstigte darum grund-
sätzlich die Anwerbung von Ausländern für das Heer. Die Regiments-
commandeure sollten ihre Kantonslisten im Einverständniß mit den Land-
und Steuerräthen aufstellen; seitdem spielte alljährlich in jedem Kreise
jener Streit zwischen den militärischen Anforderungen und den bürger-
lichen Interessen, der nachher unter wechselnden Formen in der Geschichte
Preußens immer wiederkehrte. Für diesmal ward der Kampf zu Gunsten
der Volkswirthschaft entschieden. Die bürgerlichen Behörden suchten jeden
irgend fähigen oder vermögenden jungen Mann vor der rothen Kanto-
nisten-Halsbinde zu bewahren. Der König selbst griff helfend ein, befreite
zahlreiche Klassen der Bevölkerung, die Neueingewanderten, die Familien aller
Gewerbtreibenden, die Hausdienerschaft der Grundherren von der Dienst-
pflicht; viele Städte, ja ganze Provinzen, wie Ostfriesland, erhielten Pri-
vilegien. Das Heer bestand bald nach dem Frieden schon zur größeren
Hälfte aus Ausländern. Friedrich dachte hoch von der Armee, nannte sie
gern den Atlas, der diesen Staat auf seinen starken Schultern trage; der
Kriegsruhm der sieben Jahre wirkte noch nach, der Dienst des gemeinen
Soldaten galt in Preußen zwar, wie überall sonst in der Welt, als ein Un-
glück, doch nicht als eine Schande, wie draußen im Reiche. Der König
brachte die großen Sommerübungen auf der Mockerauer Heide zu einer
technischen Vollendung, welche die Kunst des Manövrirens seitdem wohl nie
wieder erreicht hat, schärfte seinen Offizieren unermüdlich ein, "das Detail
zu lieben, das auch seinen Ruhm hat," schrieb zu ihrer Belehrung seine
militärischen Abhandlungen, die reifsten seiner Werke. Seinen Blicken
entging kein Fortschritt des Kriegswesens; noch im hohen Alter bildete
er die neue Waffe der leichten Infanterie, die grünen Füsiliere, nach dem
Vorbilde der amerikanischen Riflemen. Der Ruhm des Potsdamer Exer-
cierplatzes zog Zuschauer aus allen Landen herbei; in Turin ahmte Victor
Amadeus mit seinen Generalen jede Bewegung des großen preußischen
Drillmeisters bis auf die gebeugte Haltung des Kopfes andächtig nach;
und wenn der junge Leutnant Gneisenau die spitzen Blechmützen der
Grenadiere beim Parademarsche in der Sonne funkeln sah, dann rief er
begeistert: "Sagt, welches unter allen Völkern ahmet wohl ganz dies
wunderbare Schauspiel nach?"

Und dennoch ist das Heer in Friedrichs letzten Jahren unzweifelhaft
gesunken. Die Blüthe des alten Offizierscorps lag auf den Schlachtfel-
dern; während der sieben Jahre waren -- ein beispielloser Fall in der Kriegs-
geschichte -- sämmtliche namhafte Generale bis auf spärliche Ausnahmen
geblieben oder kampfunfähig geworden. Die jetzt emporkamen hatten den
Krieg nur in subalternen Stellungen kennen gelernt, suchten das Ge-

I. 1. Deutſchland nach dem Weſtphäliſchen Frieden.
Lorbeeren überſchüttet hatte, hinterließ die Armee in ſchlechterem Zuſtande
als er ſie bei ſeiner Thronbeſteigung vorgefunden, reichte als militäriſcher
Organiſator an ſeinen rauhen Vater nicht heran. Er bedurfte der fleißigen
Hände um ſein verwüſtetes Land zu heben und begünſtigte darum grund-
ſätzlich die Anwerbung von Ausländern für das Heer. Die Regiments-
commandeure ſollten ihre Kantonsliſten im Einverſtändniß mit den Land-
und Steuerräthen aufſtellen; ſeitdem ſpielte alljährlich in jedem Kreiſe
jener Streit zwiſchen den militäriſchen Anforderungen und den bürger-
lichen Intereſſen, der nachher unter wechſelnden Formen in der Geſchichte
Preußens immer wiederkehrte. Für diesmal ward der Kampf zu Gunſten
der Volkswirthſchaft entſchieden. Die bürgerlichen Behörden ſuchten jeden
irgend fähigen oder vermögenden jungen Mann vor der rothen Kanto-
niſten-Halsbinde zu bewahren. Der König ſelbſt griff helfend ein, befreite
zahlreiche Klaſſen der Bevölkerung, die Neueingewanderten, die Familien aller
Gewerbtreibenden, die Hausdienerſchaft der Grundherren von der Dienſt-
pflicht; viele Städte, ja ganze Provinzen, wie Oſtfriesland, erhielten Pri-
vilegien. Das Heer beſtand bald nach dem Frieden ſchon zur größeren
Hälfte aus Ausländern. Friedrich dachte hoch von der Armee, nannte ſie
gern den Atlas, der dieſen Staat auf ſeinen ſtarken Schultern trage; der
Kriegsruhm der ſieben Jahre wirkte noch nach, der Dienſt des gemeinen
Soldaten galt in Preußen zwar, wie überall ſonſt in der Welt, als ein Un-
glück, doch nicht als eine Schande, wie draußen im Reiche. Der König
brachte die großen Sommerübungen auf der Mockerauer Heide zu einer
techniſchen Vollendung, welche die Kunſt des Manövrirens ſeitdem wohl nie
wieder erreicht hat, ſchärfte ſeinen Offizieren unermüdlich ein, „das Detail
zu lieben, das auch ſeinen Ruhm hat,“ ſchrieb zu ihrer Belehrung ſeine
militäriſchen Abhandlungen, die reifſten ſeiner Werke. Seinen Blicken
entging kein Fortſchritt des Kriegsweſens; noch im hohen Alter bildete
er die neue Waffe der leichten Infanterie, die grünen Füſiliere, nach dem
Vorbilde der amerikaniſchen Riflemen. Der Ruhm des Potsdamer Exer-
cierplatzes zog Zuſchauer aus allen Landen herbei; in Turin ahmte Victor
Amadeus mit ſeinen Generalen jede Bewegung des großen preußiſchen
Drillmeiſters bis auf die gebeugte Haltung des Kopfes andächtig nach;
und wenn der junge Leutnant Gneiſenau die ſpitzen Blechmützen der
Grenadiere beim Parademarſche in der Sonne funkeln ſah, dann rief er
begeiſtert: „Sagt, welches unter allen Völkern ahmet wohl ganz dies
wunderbare Schauſpiel nach?“

Und dennoch iſt das Heer in Friedrichs letzten Jahren unzweifelhaft
geſunken. Die Blüthe des alten Offizierscorps lag auf den Schlachtfel-
dern; während der ſieben Jahre waren — ein beiſpielloſer Fall in der Kriegs-
geſchichte — ſämmtliche namhafte Generale bis auf ſpärliche Ausnahmen
geblieben oder kampfunfähig geworden. Die jetzt emporkamen hatten den
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[74/0090] I. 1. Deutſchland nach dem Weſtphäliſchen Frieden. Lorbeeren überſchüttet hatte, hinterließ die Armee in ſchlechterem Zuſtande als er ſie bei ſeiner Thronbeſteigung vorgefunden, reichte als militäriſcher Organiſator an ſeinen rauhen Vater nicht heran. Er bedurfte der fleißigen Hände um ſein verwüſtetes Land zu heben und begünſtigte darum grund- ſätzlich die Anwerbung von Ausländern für das Heer. Die Regiments- commandeure ſollten ihre Kantonsliſten im Einverſtändniß mit den Land- und Steuerräthen aufſtellen; ſeitdem ſpielte alljährlich in jedem Kreiſe jener Streit zwiſchen den militäriſchen Anforderungen und den bürger- lichen Intereſſen, der nachher unter wechſelnden Formen in der Geſchichte Preußens immer wiederkehrte. Für diesmal ward der Kampf zu Gunſten der Volkswirthſchaft entſchieden. Die bürgerlichen Behörden ſuchten jeden irgend fähigen oder vermögenden jungen Mann vor der rothen Kanto- niſten-Halsbinde zu bewahren. Der König ſelbſt griff helfend ein, befreite zahlreiche Klaſſen der Bevölkerung, die Neueingewanderten, die Familien aller Gewerbtreibenden, die Hausdienerſchaft der Grundherren von der Dienſt- pflicht; viele Städte, ja ganze Provinzen, wie Oſtfriesland, erhielten Pri- vilegien. Das Heer beſtand bald nach dem Frieden ſchon zur größeren Hälfte aus Ausländern. Friedrich dachte hoch von der Armee, nannte ſie gern den Atlas, der dieſen Staat auf ſeinen ſtarken Schultern trage; der Kriegsruhm der ſieben Jahre wirkte noch nach, der Dienſt des gemeinen Soldaten galt in Preußen zwar, wie überall ſonſt in der Welt, als ein Un- glück, doch nicht als eine Schande, wie draußen im Reiche. Der König brachte die großen Sommerübungen auf der Mockerauer Heide zu einer techniſchen Vollendung, welche die Kunſt des Manövrirens ſeitdem wohl nie wieder erreicht hat, ſchärfte ſeinen Offizieren unermüdlich ein, „das Detail zu lieben, das auch ſeinen Ruhm hat,“ ſchrieb zu ihrer Belehrung ſeine militäriſchen Abhandlungen, die reifſten ſeiner Werke. Seinen Blicken entging kein Fortſchritt des Kriegsweſens; noch im hohen Alter bildete er die neue Waffe der leichten Infanterie, die grünen Füſiliere, nach dem Vorbilde der amerikaniſchen Riflemen. Der Ruhm des Potsdamer Exer- cierplatzes zog Zuſchauer aus allen Landen herbei; in Turin ahmte Victor Amadeus mit ſeinen Generalen jede Bewegung des großen preußiſchen Drillmeiſters bis auf die gebeugte Haltung des Kopfes andächtig nach; und wenn der junge Leutnant Gneiſenau die ſpitzen Blechmützen der Grenadiere beim Parademarſche in der Sonne funkeln ſah, dann rief er begeiſtert: „Sagt, welches unter allen Völkern ahmet wohl ganz dies wunderbare Schauſpiel nach?“ Und dennoch iſt das Heer in Friedrichs letzten Jahren unzweifelhaft geſunken. Die Blüthe des alten Offizierscorps lag auf den Schlachtfel- dern; während der ſieben Jahre waren — ein beiſpielloſer Fall in der Kriegs- geſchichte — ſämmtliche namhafte Generale bis auf ſpärliche Ausnahmen geblieben oder kampfunfähig geworden. Die jetzt emporkamen hatten den Krieg nur in ſubalternen Stellungen kennen gelernt, ſuchten das Ge-

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 74. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/90>, abgerufen am 24.11.2024.