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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.

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II. 3. Geistige Strömungen der ersten Friedensjahre.
meine Mittelmäßigkeit emporragt, so unverblümt ausgesprochen. Sehr nach-
drücklich wies der volksthümliche Historiker Alexander den Großen zurecht,
weil dieser "Mensch von Staub und Erde zerschmetterte Völker zum Fuß-
gestell seines Ruhmes machte"; den Helden der Kreuzzüge hielt er die
zornige Frage entgegen: "mit welchem Rechte wurde Palästina erobert?"
Der ganze Verlauf der Weltgeschichte zeigte ihm in entsetzlicher Eintönig-
keit stets das nämliche traurige Schauspiel: wie die allezeit unschuldigen
Völker die Jahrtausende hindurch immer wieder durch blutige Tyrannen
mißhandelt und zu gemeinschädlichen Kriegen verleitet wurden, wie dann
gar mit dem Mittelalter "zehn Jahrhunderte der Barbarei, der Wildheit
und der Finsterniß -- ein weder erfreuliches noch sehr interessantes Zeit-
alter" -- über die unglückliche Menschheit hereinbrachen, bis darauf end-
lich durch die Volksmänner der amerikanischen und der französischen Re-
volution das Dunkel gelichtet ward und der gebietende Zeitgeist zu seinem
Rechte kam.

Die naive Selbstverliebtheit des philosophischen Jahrhunderts lebte
hier wieder auf, nur daß sie jetzt ein politisches Gewand anlegte. Durch
Rottecks Weltgeschichte wurde das republikanische Staatsideal zum ersten
male den deutschen Mittelklassen gepredigt. Die Begeisterung für die junge
Republik des Westens hatte sich zur Zeit des amerikanischen Unabhängig-
keitskrieges doch nur auf die engen Kreise der gebildeten Jugend beschränkt
und war dann während der Stürme der napoleonischen Tage ganz in
Vergessenheit gerathen. Jetzt lenkte Rotteck die Blicke der Verstimmten
wieder abendwärts. "Im Westen, rief er aus, in der jugendlichen neuen
Welt erbaut sich das natürliche, das vernünftige Recht sein erlesenes Reich."
Zwar fügte er als ein gesetzliebender Staatsbürger beschwichtigend hinzu:
"nicht eben die republikanische Form ist's, die wir die Sonne dieses Tages
nennen, nein, nur der republikanische Geist." Indeß blieb den Lesern
doch der Eindruck, daß die Republik der allein vernünftige Staat, "der
Freistaat" schlechthin sei: beide Ausdrücke brauchte man bereits als gleich-
bedeutend. Diese Lehre fand um so leichter Anklang, da Jedermann schon
auf der Schulbank die Philologenfabel von der wunderbaren Freiheit der
Republiken des Alterthums gelernt hatte.

Ebenso verführerisch erschien den Lesern die parteiisch gefärbte Dar-
stellung der jüngsten Vergangenheit. Wie wunderbar mächtig waltete doch
die sagenbildende Kraft des Volksgeistes noch in diesem bildungsstolzen
Jahrhundert! Das Bild der selbsterlebten allerneuesten Ereignisse ver-
schob und verwirrte sich in dem Gedächtniß der Völker, sofort nach dem
Friedensschlusse. Wie die Franzosen allesammt glaubten, sie seien nur der
zehnfachen Uebermacht erlegen, so entstand auch unter den deutschen Un-
zufriedenen alsbald eine ganze Welt wunderlicher Parteimärchen. Rotteck
sprach allen Liberalen des Südens aus der Seele, wenn er zuversichtlich
behauptete, von sämmtlichen europäischen Mächten hätten allein die beiden

II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.
meine Mittelmäßigkeit emporragt, ſo unverblümt ausgeſprochen. Sehr nach-
drücklich wies der volksthümliche Hiſtoriker Alexander den Großen zurecht,
weil dieſer „Menſch von Staub und Erde zerſchmetterte Völker zum Fuß-
geſtell ſeines Ruhmes machte“; den Helden der Kreuzzüge hielt er die
zornige Frage entgegen: „mit welchem Rechte wurde Paläſtina erobert?“
Der ganze Verlauf der Weltgeſchichte zeigte ihm in entſetzlicher Eintönig-
keit ſtets das nämliche traurige Schauſpiel: wie die allezeit unſchuldigen
Völker die Jahrtauſende hindurch immer wieder durch blutige Tyrannen
mißhandelt und zu gemeinſchädlichen Kriegen verleitet wurden, wie dann
gar mit dem Mittelalter „zehn Jahrhunderte der Barbarei, der Wildheit
und der Finſterniß — ein weder erfreuliches noch ſehr intereſſantes Zeit-
alter“ — über die unglückliche Menſchheit hereinbrachen, bis darauf end-
lich durch die Volksmänner der amerikaniſchen und der franzöſiſchen Re-
volution das Dunkel gelichtet ward und der gebietende Zeitgeiſt zu ſeinem
Rechte kam.

Die naive Selbſtverliebtheit des philoſophiſchen Jahrhunderts lebte
hier wieder auf, nur daß ſie jetzt ein politiſches Gewand anlegte. Durch
Rottecks Weltgeſchichte wurde das republikaniſche Staatsideal zum erſten
male den deutſchen Mittelklaſſen gepredigt. Die Begeiſterung für die junge
Republik des Weſtens hatte ſich zur Zeit des amerikaniſchen Unabhängig-
keitskrieges doch nur auf die engen Kreiſe der gebildeten Jugend beſchränkt
und war dann während der Stürme der napoleoniſchen Tage ganz in
Vergeſſenheit gerathen. Jetzt lenkte Rotteck die Blicke der Verſtimmten
wieder abendwärts. „Im Weſten, rief er aus, in der jugendlichen neuen
Welt erbaut ſich das natürliche, das vernünftige Recht ſein erleſenes Reich.“
Zwar fügte er als ein geſetzliebender Staatsbürger beſchwichtigend hinzu:
„nicht eben die republikaniſche Form iſt’s, die wir die Sonne dieſes Tages
nennen, nein, nur der republikaniſche Geiſt.“ Indeß blieb den Leſern
doch der Eindruck, daß die Republik der allein vernünftige Staat, „der
Freiſtaat“ ſchlechthin ſei: beide Ausdrücke brauchte man bereits als gleich-
bedeutend. Dieſe Lehre fand um ſo leichter Anklang, da Jedermann ſchon
auf der Schulbank die Philologenfabel von der wunderbaren Freiheit der
Republiken des Alterthums gelernt hatte.

Ebenſo verführeriſch erſchien den Leſern die parteiiſch gefärbte Dar-
ſtellung der jüngſten Vergangenheit. Wie wunderbar mächtig waltete doch
die ſagenbildende Kraft des Volksgeiſtes noch in dieſem bildungsſtolzen
Jahrhundert! Das Bild der ſelbſterlebten allerneueſten Ereigniſſe ver-
ſchob und verwirrte ſich in dem Gedächtniß der Völker, ſofort nach dem
Friedensſchluſſe. Wie die Franzoſen alleſammt glaubten, ſie ſeien nur der
zehnfachen Uebermacht erlegen, ſo entſtand auch unter den deutſchen Un-
zufriedenen alsbald eine ganze Welt wunderlicher Parteimärchen. Rotteck
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[102/0116] II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre. meine Mittelmäßigkeit emporragt, ſo unverblümt ausgeſprochen. Sehr nach- drücklich wies der volksthümliche Hiſtoriker Alexander den Großen zurecht, weil dieſer „Menſch von Staub und Erde zerſchmetterte Völker zum Fuß- geſtell ſeines Ruhmes machte“; den Helden der Kreuzzüge hielt er die zornige Frage entgegen: „mit welchem Rechte wurde Paläſtina erobert?“ Der ganze Verlauf der Weltgeſchichte zeigte ihm in entſetzlicher Eintönig- keit ſtets das nämliche traurige Schauſpiel: wie die allezeit unſchuldigen Völker die Jahrtauſende hindurch immer wieder durch blutige Tyrannen mißhandelt und zu gemeinſchädlichen Kriegen verleitet wurden, wie dann gar mit dem Mittelalter „zehn Jahrhunderte der Barbarei, der Wildheit und der Finſterniß — ein weder erfreuliches noch ſehr intereſſantes Zeit- alter“ — über die unglückliche Menſchheit hereinbrachen, bis darauf end- lich durch die Volksmänner der amerikaniſchen und der franzöſiſchen Re- volution das Dunkel gelichtet ward und der gebietende Zeitgeiſt zu ſeinem Rechte kam. Die naive Selbſtverliebtheit des philoſophiſchen Jahrhunderts lebte hier wieder auf, nur daß ſie jetzt ein politiſches Gewand anlegte. Durch Rottecks Weltgeſchichte wurde das republikaniſche Staatsideal zum erſten male den deutſchen Mittelklaſſen gepredigt. Die Begeiſterung für die junge Republik des Weſtens hatte ſich zur Zeit des amerikaniſchen Unabhängig- keitskrieges doch nur auf die engen Kreiſe der gebildeten Jugend beſchränkt und war dann während der Stürme der napoleoniſchen Tage ganz in Vergeſſenheit gerathen. Jetzt lenkte Rotteck die Blicke der Verſtimmten wieder abendwärts. „Im Weſten, rief er aus, in der jugendlichen neuen Welt erbaut ſich das natürliche, das vernünftige Recht ſein erleſenes Reich.“ Zwar fügte er als ein geſetzliebender Staatsbürger beſchwichtigend hinzu: „nicht eben die republikaniſche Form iſt’s, die wir die Sonne dieſes Tages nennen, nein, nur der republikaniſche Geiſt.“ Indeß blieb den Leſern doch der Eindruck, daß die Republik der allein vernünftige Staat, „der Freiſtaat“ ſchlechthin ſei: beide Ausdrücke brauchte man bereits als gleich- bedeutend. Dieſe Lehre fand um ſo leichter Anklang, da Jedermann ſchon auf der Schulbank die Philologenfabel von der wunderbaren Freiheit der Republiken des Alterthums gelernt hatte. Ebenſo verführeriſch erſchien den Leſern die parteiiſch gefärbte Dar- ſtellung der jüngſten Vergangenheit. Wie wunderbar mächtig waltete doch die ſagenbildende Kraft des Volksgeiſtes noch in dieſem bildungsſtolzen Jahrhundert! Das Bild der ſelbſterlebten allerneueſten Ereigniſſe ver- ſchob und verwirrte ſich in dem Gedächtniß der Völker, ſofort nach dem Friedensſchluſſe. Wie die Franzoſen alleſammt glaubten, ſie ſeien nur der zehnfachen Uebermacht erlegen, ſo entſtand auch unter den deutſchen Un- zufriedenen alsbald eine ganze Welt wunderlicher Parteimärchen. Rotteck ſprach allen Liberalen des Südens aus der Seele, wenn er zuverſichtlich behauptete, von ſämmtlichen europäiſchen Mächten hätten allein die beiden

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 102. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/116>, abgerufen am 28.11.2024.