Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.II. 3. Geistige Strömungen der ersten Friedensjahre. seinem "Wort über den preußischen Adel" (1818), wie viele Söhne des ge-schmähten Junkerthums im Lager und im Rath die Größe Preußens mit- begründet hatten. Allgemeine Entrüstung empfing ihn, weil man ihn nicht widerlegen konnte. In manchen gelehrten Kreisen trat der kindische Adelshaß so auffällig hervor, daß die Schüler selbst darauf rechneten: als der junge Karl v. Holtei in Breslau seine Prüfungsarbeit zu schreiben hatte und sich nicht ganz sattelfest fühlte, ließ er weislich das "von" aus der Unter- schrift hinweg und beobachtete dann ergötzt, wie die Lehrer die Köpfe zu- sammensteckten und einander dies köstliche Probstück jugendlichen Bürger- muthes mit befriedigtem Lächeln vorwiesen. Die besonnenen Worte, welche Perthes in seinen Briefen "über den Adel" dem ritterlichen Schwärmer Fouque entgegenhielt, genügten der verstimmten öffentlichen Meinung jetzt ebenso wenig, wie früher schon die Schriften des bürgerfreundlichen, aber conservativen Rehberg. Es steht nicht anders, das deutsche Bürgerthum wurde durch seine Von solchen Anschauungen erfüllt schrieb Rotteck im Jahre 1819 zur II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre. ſeinem „Wort über den preußiſchen Adel“ (1818), wie viele Söhne des ge-ſchmähten Junkerthums im Lager und im Rath die Größe Preußens mit- begründet hatten. Allgemeine Entrüſtung empfing ihn, weil man ihn nicht widerlegen konnte. In manchen gelehrten Kreiſen trat der kindiſche Adelshaß ſo auffällig hervor, daß die Schüler ſelbſt darauf rechneten: als der junge Karl v. Holtei in Breslau ſeine Prüfungsarbeit zu ſchreiben hatte und ſich nicht ganz ſattelfeſt fühlte, ließ er weislich das „von“ aus der Unter- ſchrift hinweg und beobachtete dann ergötzt, wie die Lehrer die Köpfe zu- ſammenſteckten und einander dies köſtliche Probſtück jugendlichen Bürger- muthes mit befriedigtem Lächeln vorwieſen. Die beſonnenen Worte, welche Perthes in ſeinen Briefen „über den Adel“ dem ritterlichen Schwärmer Fouqué entgegenhielt, genügten der verſtimmten öffentlichen Meinung jetzt ebenſo wenig, wie früher ſchon die Schriften des bürgerfreundlichen, aber conſervativen Rehberg. Es ſteht nicht anders, das deutſche Bürgerthum wurde durch ſeine Von ſolchen Anſchauungen erfüllt ſchrieb Rotteck im Jahre 1819 zur <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0122" n="108"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">II.</hi> 3. 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Von dem gemeinen deutſchen<lb/> Staatsrechte war in der Anarchie des deutſchen Bundes wenig mehr übrig,<lb/> mit der Betrachtung eines der neununddreißig ſouveränen Einzelſtaaten<lb/> mochte ſich Niemand begnügen, alſo verfielen alle politiſchen Schriftſteller<lb/> unwillkürlich in die Abſtraktionen des ſogenannten allgemeinen conſtitutio-<lb/> nellen Staatsrechts. So dreiſt wie Rotteck trat doch Keiner die hiſtoriſche<lb/> Welt mit Füßen. Der aufgeklärte Mann unterſchied ein dreifaches Recht:<lb/> das vergangene, das heute geltende und „das Recht, das gelten ſollte“;<lb/> das letztere ward ohne Federleſen als „das edelſte, ja im Grunde das<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [108/0122]
II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.
ſeinem „Wort über den preußiſchen Adel“ (1818), wie viele Söhne des ge-
ſchmähten Junkerthums im Lager und im Rath die Größe Preußens mit-
begründet hatten. Allgemeine Entrüſtung empfing ihn, weil man ihn nicht
widerlegen konnte. In manchen gelehrten Kreiſen trat der kindiſche Adelshaß
ſo auffällig hervor, daß die Schüler ſelbſt darauf rechneten: als der junge
Karl v. Holtei in Breslau ſeine Prüfungsarbeit zu ſchreiben hatte und
ſich nicht ganz ſattelfeſt fühlte, ließ er weislich das „von“ aus der Unter-
ſchrift hinweg und beobachtete dann ergötzt, wie die Lehrer die Köpfe zu-
ſammenſteckten und einander dies köſtliche Probſtück jugendlichen Bürger-
muthes mit befriedigtem Lächeln vorwieſen. Die beſonnenen Worte, welche
Perthes in ſeinen Briefen „über den Adel“ dem ritterlichen Schwärmer
Fouqué entgegenhielt, genügten der verſtimmten öffentlichen Meinung jetzt
ebenſo wenig, wie früher ſchon die Schriften des bürgerfreundlichen, aber
conſervativen Rehberg.
Es ſteht nicht anders, das deutſche Bürgerthum wurde durch ſeine
großen literariſchen Erfolge zu einer ähnlichen Selbſtüberhebung verleitet
wie einſt der franzöſiſche Dritte Stand, nur daß ſich bei uns der bürgerliche
Dünkel noch ganz auf den Boden der Doktrin beſchränkte. Leichten Herzens
ſtellten liberale Zeitungen die Frage: wo ſei denn das Unglück, wenn etwa
der geſammte Adel durch einen allgemeinen Bankrott ſeinen Grundbeſitz ver-
löre und durch neue Eigenthümer verdrängt würde? Für die ſittliche Kraft
einer unabhängigen, mit der Landesgeſchichte feſt verwachſenen Ariſtokratie
hatte der Rationalismus kein Verſtändniß. Voß und Rotteck ſprachen
dieſe radikalen Geſinnungen am Aufrichtigſten aus. Bewußt oder unbe-
wußt verbarg ſich dahinter der particulariſtiſche Groll gegen Preußen;
denn kaum hatte dieſer Staat durch ſein Volksheer das Vaterland befreit,
ſo ward er in Süddeutſchland ſchon wieder als das claſſiſche Land des
„Junkerthums und des Corporalſtocks“ verrufen.
Von ſolchen Anſchauungen erfüllt ſchrieb Rotteck im Jahre 1819 zur
Eröffnung des badiſchen Landtags ſeine „Ideen über Landſtände“, das
wiſſenſchaftliche Programm des neuen Liberalismus. Aus der Natur und
Geſchichte des gegebenen Staates die Forderungen für die Zukunft abzu-
leiten lag den Liberalen um ſo ferner, da ihre Bildung noch vollſtändig von
der Philoſophie beherrſcht war und jeder Publiciſt ſich ſtolz als ein Volks-
tribun des geſammten Deutſchlands fühlte. Von dem gemeinen deutſchen
Staatsrechte war in der Anarchie des deutſchen Bundes wenig mehr übrig,
mit der Betrachtung eines der neununddreißig ſouveränen Einzelſtaaten
mochte ſich Niemand begnügen, alſo verfielen alle politiſchen Schriftſteller
unwillkürlich in die Abſtraktionen des ſogenannten allgemeinen conſtitutio-
nellen Staatsrechts. So dreiſt wie Rotteck trat doch Keiner die hiſtoriſche
Welt mit Füßen. Der aufgeklärte Mann unterſchied ein dreifaches Recht:
das vergangene, das heute geltende und „das Recht, das gelten ſollte“;
das letztere ward ohne Federleſen als „das edelſte, ja im Grunde das
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