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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.

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II. 3. Geistige Strömungen der ersten Friedensjahre.
neue Deutschthum erhob: wie die Jacobiner einst die Menschheit so spiegeln
diese verschworenen Volksverführer die Teutschheit vor um uns der Eide ver-
gessen zu machen und den tollen Gedanken Einer deutschen Regierung zu
verwirklichen! Gerade gegen den bescheidensten und maßvollsten der teuto-
nischen Redner, gegen Arndt richtete Schmalz seine gehässigsten Schmähun-
gen. Arndt hatte in dem köstlichen Katechismus für den deutschen Land-
wehrmann die biblische Redewendung gebraucht: schonet der Wehrlosen
und der Weiber und Kinder brauchet christlich und menschlich! Daraus
schloß Schmalz, diese Ruchlosen hätten "Mord, Plünderung, Nothzucht,
letztere gar klärlich gepredigt". Ohne Zweifel, selbst seine Gegner gaben
das zu, handelte der unselige Mann in gutem Glauben.

Zum ersten male seit drei Jahrhunderten war über das stille Nord-
deutschland eine wirkliche Volksbewegung dahingebraust; der Anblick aller
der elementarischen Kräfte, die in solchen Zeiten des Sturmes sich ent-
fesseln, hatte manches schwache Gemüth betäubt und verwirrt. Wie in
England zur Zeit Karls II. tausende ehrlicher Leute von dem Dasein der
eingebildeten Papistenverschwörung überzeugt waren, so griff jetzt in Deutsch-
land ein finsterer Wahn gleich einer verheerenden Seuche um sich; nicht
blos schlechte Gesellen glaubten an die geheime Wühlerei demagogischer
Bünde. Noch verletzender als der offenbare Unsinn berührten die bos-
haften Halbwahrheiten der Schmalzischen Schrift. Dem literarischen Selbst-
gefühle hielt er entgegen: die Masse des Volkes habe von den Schriften
der Publicisten nie ein Wort erfahren. Aus jener schönen Anspruchslosig-
keit des preußischen Volks, die das Ungeheure that als verstände sich's von
selber, zog der Denunciant den Schluß, eine ungewöhnliche Begeisterung
habe sich nirgends gezeigt, die Preußen seien zu den Fahnen geeilt wie beim
Brande die Nachbarn zum Löschen. Wenn Arndts Schrift über "Preu-
ßens rheinische Mark" sagte: "Preußen muß allenthalben sein und Preußens
Deutschland allenthalben," und den Staat der Hohenzollern das einzige
deutsche Land nannte, das Deutschlands Nichtigkeit zur Herrlichkeit er-
heben könne -- so genügten dem Ankläger solche unbestimmte Weissagungen
um die beabsichtigte Entthronung aller deutschen Kleinfürsten zu erweisen.

Die besten Männer der Nation fühlten sich in den Tiefen der Seele
empört, da sie das Andenken der schönsten Zeit der neuen deutschen Ge-
schichte so schmählich besudelt sahen. Eine Fluth von Gegenschriften über-
schwemmte den Büchermarkt, der ärgerliche Handel hielt während der letzten
Monate des Jahres 1815 fast die gesammte gebildete deutsche Welt in
Athem. Auch das Ausland mischte sich ein; die Times unterstand sich,
den unruhigen Preußen das gehorsame Hannover als ein Musterbild vor-
zuhalten. Niebuhr und Schleiermacher wiesen den armseligen Ankläger
zurück, Jener mit tiefem Ernst, Dieser mit schonungslosem Spott. In
anderen Gegenschriften zeigte sich freilich die verblendete Selbstüberhebung
des jungen Liberalismus. Ludwig Wieland, der Sohn des Dichters, er-

II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.
neue Deutſchthum erhob: wie die Jacobiner einſt die Menſchheit ſo ſpiegeln
dieſe verſchworenen Volksverführer die Teutſchheit vor um uns der Eide ver-
geſſen zu machen und den tollen Gedanken Einer deutſchen Regierung zu
verwirklichen! Gerade gegen den beſcheidenſten und maßvollſten der teuto-
niſchen Redner, gegen Arndt richtete Schmalz ſeine gehäſſigſten Schmähun-
gen. Arndt hatte in dem köſtlichen Katechismus für den deutſchen Land-
wehrmann die bibliſche Redewendung gebraucht: ſchonet der Wehrloſen
und der Weiber und Kinder brauchet chriſtlich und menſchlich! Daraus
ſchloß Schmalz, dieſe Ruchloſen hätten „Mord, Plünderung, Nothzucht,
letztere gar klärlich gepredigt“. Ohne Zweifel, ſelbſt ſeine Gegner gaben
das zu, handelte der unſelige Mann in gutem Glauben.

Zum erſten male ſeit drei Jahrhunderten war über das ſtille Nord-
deutſchland eine wirkliche Volksbewegung dahingebrauſt; der Anblick aller
der elementariſchen Kräfte, die in ſolchen Zeiten des Sturmes ſich ent-
feſſeln, hatte manches ſchwache Gemüth betäubt und verwirrt. Wie in
England zur Zeit Karls II. tauſende ehrlicher Leute von dem Daſein der
eingebildeten Papiſtenverſchwörung überzeugt waren, ſo griff jetzt in Deutſch-
land ein finſterer Wahn gleich einer verheerenden Seuche um ſich; nicht
blos ſchlechte Geſellen glaubten an die geheime Wühlerei demagogiſcher
Bünde. Noch verletzender als der offenbare Unſinn berührten die bos-
haften Halbwahrheiten der Schmalziſchen Schrift. Dem literariſchen Selbſt-
gefühle hielt er entgegen: die Maſſe des Volkes habe von den Schriften
der Publiciſten nie ein Wort erfahren. Aus jener ſchönen Anſpruchsloſig-
keit des preußiſchen Volks, die das Ungeheure that als verſtände ſich’s von
ſelber, zog der Denunciant den Schluß, eine ungewöhnliche Begeiſterung
habe ſich nirgends gezeigt, die Preußen ſeien zu den Fahnen geeilt wie beim
Brande die Nachbarn zum Löſchen. Wenn Arndts Schrift über „Preu-
ßens rheiniſche Mark“ ſagte: „Preußen muß allenthalben ſein und Preußens
Deutſchland allenthalben,“ und den Staat der Hohenzollern das einzige
deutſche Land nannte, das Deutſchlands Nichtigkeit zur Herrlichkeit er-
heben könne — ſo genügten dem Ankläger ſolche unbeſtimmte Weiſſagungen
um die beabſichtigte Entthronung aller deutſchen Kleinfürſten zu erweiſen.

Die beſten Männer der Nation fühlten ſich in den Tiefen der Seele
empört, da ſie das Andenken der ſchönſten Zeit der neuen deutſchen Ge-
ſchichte ſo ſchmählich beſudelt ſahen. Eine Fluth von Gegenſchriften über-
ſchwemmte den Büchermarkt, der ärgerliche Handel hielt während der letzten
Monate des Jahres 1815 faſt die geſammte gebildete deutſche Welt in
Athem. Auch das Ausland miſchte ſich ein; die Times unterſtand ſich,
den unruhigen Preußen das gehorſame Hannover als ein Muſterbild vor-
zuhalten. Niebuhr und Schleiermacher wieſen den armſeligen Ankläger
zurück, Jener mit tiefem Ernſt, Dieſer mit ſchonungsloſem Spott. In
anderen Gegenſchriften zeigte ſich freilich die verblendete Selbſtüberhebung
des jungen Liberalismus. Ludwig Wieland, der Sohn des Dichters, er-

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[116/0130] II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre. neue Deutſchthum erhob: wie die Jacobiner einſt die Menſchheit ſo ſpiegeln dieſe verſchworenen Volksverführer die Teutſchheit vor um uns der Eide ver- geſſen zu machen und den tollen Gedanken Einer deutſchen Regierung zu verwirklichen! Gerade gegen den beſcheidenſten und maßvollſten der teuto- niſchen Redner, gegen Arndt richtete Schmalz ſeine gehäſſigſten Schmähun- gen. Arndt hatte in dem köſtlichen Katechismus für den deutſchen Land- wehrmann die bibliſche Redewendung gebraucht: ſchonet der Wehrloſen und der Weiber und Kinder brauchet chriſtlich und menſchlich! Daraus ſchloß Schmalz, dieſe Ruchloſen hätten „Mord, Plünderung, Nothzucht, letztere gar klärlich gepredigt“. Ohne Zweifel, ſelbſt ſeine Gegner gaben das zu, handelte der unſelige Mann in gutem Glauben. Zum erſten male ſeit drei Jahrhunderten war über das ſtille Nord- deutſchland eine wirkliche Volksbewegung dahingebrauſt; der Anblick aller der elementariſchen Kräfte, die in ſolchen Zeiten des Sturmes ſich ent- feſſeln, hatte manches ſchwache Gemüth betäubt und verwirrt. Wie in England zur Zeit Karls II. tauſende ehrlicher Leute von dem Daſein der eingebildeten Papiſtenverſchwörung überzeugt waren, ſo griff jetzt in Deutſch- land ein finſterer Wahn gleich einer verheerenden Seuche um ſich; nicht blos ſchlechte Geſellen glaubten an die geheime Wühlerei demagogiſcher Bünde. Noch verletzender als der offenbare Unſinn berührten die bos- haften Halbwahrheiten der Schmalziſchen Schrift. Dem literariſchen Selbſt- gefühle hielt er entgegen: die Maſſe des Volkes habe von den Schriften der Publiciſten nie ein Wort erfahren. Aus jener ſchönen Anſpruchsloſig- keit des preußiſchen Volks, die das Ungeheure that als verſtände ſich’s von ſelber, zog der Denunciant den Schluß, eine ungewöhnliche Begeiſterung habe ſich nirgends gezeigt, die Preußen ſeien zu den Fahnen geeilt wie beim Brande die Nachbarn zum Löſchen. Wenn Arndts Schrift über „Preu- ßens rheiniſche Mark“ ſagte: „Preußen muß allenthalben ſein und Preußens Deutſchland allenthalben,“ und den Staat der Hohenzollern das einzige deutſche Land nannte, das Deutſchlands Nichtigkeit zur Herrlichkeit er- heben könne — ſo genügten dem Ankläger ſolche unbeſtimmte Weiſſagungen um die beabſichtigte Entthronung aller deutſchen Kleinfürſten zu erweiſen. Die beſten Männer der Nation fühlten ſich in den Tiefen der Seele empört, da ſie das Andenken der ſchönſten Zeit der neuen deutſchen Ge- ſchichte ſo ſchmählich beſudelt ſahen. Eine Fluth von Gegenſchriften über- ſchwemmte den Büchermarkt, der ärgerliche Handel hielt während der letzten Monate des Jahres 1815 faſt die geſammte gebildete deutſche Welt in Athem. Auch das Ausland miſchte ſich ein; die Times unterſtand ſich, den unruhigen Preußen das gehorſame Hannover als ein Muſterbild vor- zuhalten. Niebuhr und Schleiermacher wieſen den armſeligen Ankläger zurück, Jener mit tiefem Ernſt, Dieſer mit ſchonungsloſem Spott. In anderen Gegenſchriften zeigte ſich freilich die verblendete Selbſtüberhebung des jungen Liberalismus. Ludwig Wieland, der Sohn des Dichters, er-

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 116. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/130>, abgerufen am 30.11.2024.