Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.Das Deficit. ein Kampf durchgefochten, ernster, folgenreicher als manche vielbewunderteParlamentsverhandlung jener Tage. Auch die Leidenschaft und der redne- rische Reiz parlamentarischer Debatten fehlten ihm nicht; wie erstaunte Gneisenau, als er die kunstvolle und doch streng sachliche Beredsamkeit Humboldts, Maassens, Eichhorns, Ferbers kennen lernte und das allge- meine Vorurtheil der Zeit, das den schüchternen Deutschen die Gabe der freien Rede absprach, so schlagend widerlegt sah. Gleich nach dem Frieden hatte der König den Finanzminister aufgefordert, einen umfassenden Steuer- reformplan vorzulegen; die neuen Unterthanen, so schrieb er, sollen es fühlen, daß sie mir angehören. Sobald man der Aufgabe näher trat, zeigte sich schnell, daß nur eine billigere Vertheilung, nicht eine Erleich- terung der Steuerlast möglich war. Der außerordentliche Aufwand des Staates für Kriegszwecke betrug, wie sich späterhin herausstellte, 206 Mill. Thlr. für die Jahre 1806--15, in den nächsten vier Jahren kamen noch weitere 81 Mill. hinzu. Die Staatsschuld war schon im Jahre 1812 auf 132 Mill. gestiegen und seitdem durch den Befreiungskrieg und die 45 Mill. fremder Schulden, die man mit den neuen Provinzen übernehmen mußte, bis auf 217 Mill. (1818) angewachsen. Der Credit lag so tief darnieder, daß Hardenberg sich im Jahre 1817 glücklich schätzen mußte, eine fünfprocentige Anleihe in England zum Kurse von kaum 72 abzuschließen; zur selben Zeit standen die vierprocentigen Staatsschuldscheine an der Berliner Börse auf 71--73, ein Jahr darauf noch niedriger, bis auf 65. Und welch ein Wagniß, diesem erschöpften Volke, das nach deutscher Art fiscalischen Druck stets ungeduldiger trug als polizeilichen Zwang, jetzt inmitten der allge- meinen Verarmung neue Lasten aufzulegen. Der Kaufwerth der großen Landgüter stand in den alten Provinzen kaum mehr halb so hoch als vor dem Jahre 1806, in einzelnen Landestheilen war er auf ein Viertel herab- gesunken. Als der König im Juni 1816 den für die Kriegsjahre gewährten Indult endlich aufhob, mußte er gleichwohl den verschuldeten Grundbesitzern in den östlichen Provinzen noch bis zum Jahre 1819, in Altpreußen sogar bis 1822, einige außerordentliche Zahlungserleichterungen bewilligen. Das Aergste blieb doch, daß Niemand die Lage des Staatshaushalts *) Motz, Denkschrift über die Vereinfachung der Verwaltung. Erfurt 29. Juni 1820.
Das Deficit. ein Kampf durchgefochten, ernſter, folgenreicher als manche vielbewunderteParlamentsverhandlung jener Tage. Auch die Leidenſchaft und der redne- riſche Reiz parlamentariſcher Debatten fehlten ihm nicht; wie erſtaunte Gneiſenau, als er die kunſtvolle und doch ſtreng ſachliche Beredſamkeit Humboldts, Maaſſens, Eichhorns, Ferbers kennen lernte und das allge- meine Vorurtheil der Zeit, das den ſchüchternen Deutſchen die Gabe der freien Rede abſprach, ſo ſchlagend widerlegt ſah. Gleich nach dem Frieden hatte der König den Finanzminiſter aufgefordert, einen umfaſſenden Steuer- reformplan vorzulegen; die neuen Unterthanen, ſo ſchrieb er, ſollen es fühlen, daß ſie mir angehören. Sobald man der Aufgabe näher trat, zeigte ſich ſchnell, daß nur eine billigere Vertheilung, nicht eine Erleich- terung der Steuerlaſt möglich war. Der außerordentliche Aufwand des Staates für Kriegszwecke betrug, wie ſich ſpäterhin herausſtellte, 206 Mill. Thlr. für die Jahre 1806—15, in den nächſten vier Jahren kamen noch weitere 81 Mill. hinzu. Die Staatsſchuld war ſchon im Jahre 1812 auf 132 Mill. geſtiegen und ſeitdem durch den Befreiungskrieg und die 45 Mill. fremder Schulden, die man mit den neuen Provinzen übernehmen mußte, bis auf 217 Mill. (1818) angewachſen. Der Credit lag ſo tief darnieder, daß Hardenberg ſich im Jahre 1817 glücklich ſchätzen mußte, eine fünfprocentige Anleihe in England zum Kurſe von kaum 72 abzuſchließen; zur ſelben Zeit ſtanden die vierprocentigen Staatsſchuldſcheine an der Berliner Börſe auf 71—73, ein Jahr darauf noch niedriger, bis auf 65. Und welch ein Wagniß, dieſem erſchöpften Volke, das nach deutſcher Art fiscaliſchen Druck ſtets ungeduldiger trug als polizeilichen Zwang, jetzt inmitten der allge- meinen Verarmung neue Laſten aufzulegen. Der Kaufwerth der großen Landgüter ſtand in den alten Provinzen kaum mehr halb ſo hoch als vor dem Jahre 1806, in einzelnen Landestheilen war er auf ein Viertel herab- geſunken. Als der König im Juni 1816 den für die Kriegsjahre gewährten Indult endlich aufhob, mußte er gleichwohl den verſchuldeten Grundbeſitzern in den öſtlichen Provinzen noch bis zum Jahre 1819, in Altpreußen ſogar bis 1822, einige außerordentliche Zahlungserleichterungen bewilligen. Das Aergſte blieb doch, daß Niemand die Lage des Staatshaushalts *) Motz, Denkſchrift über die Vereinfachung der Verwaltung. Erfurt 29. Juni 1820.
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Das Deficit.
ein Kampf durchgefochten, ernſter, folgenreicher als manche vielbewunderte
Parlamentsverhandlung jener Tage. Auch die Leidenſchaft und der redne-
riſche Reiz parlamentariſcher Debatten fehlten ihm nicht; wie erſtaunte
Gneiſenau, als er die kunſtvolle und doch ſtreng ſachliche Beredſamkeit
Humboldts, Maaſſens, Eichhorns, Ferbers kennen lernte und das allge-
meine Vorurtheil der Zeit, das den ſchüchternen Deutſchen die Gabe der
freien Rede abſprach, ſo ſchlagend widerlegt ſah. Gleich nach dem Frieden
hatte der König den Finanzminiſter aufgefordert, einen umfaſſenden Steuer-
reformplan vorzulegen; die neuen Unterthanen, ſo ſchrieb er, ſollen es
fühlen, daß ſie mir angehören. Sobald man der Aufgabe näher trat,
zeigte ſich ſchnell, daß nur eine billigere Vertheilung, nicht eine Erleich-
terung der Steuerlaſt möglich war. Der außerordentliche Aufwand des
Staates für Kriegszwecke betrug, wie ſich ſpäterhin herausſtellte, 206 Mill.
Thlr. für die Jahre 1806—15, in den nächſten vier Jahren kamen noch
weitere 81 Mill. hinzu. Die Staatsſchuld war ſchon im Jahre 1812 auf
132 Mill. geſtiegen und ſeitdem durch den Befreiungskrieg und die 45 Mill.
fremder Schulden, die man mit den neuen Provinzen übernehmen mußte,
bis auf 217 Mill. (1818) angewachſen. Der Credit lag ſo tief darnieder, daß
Hardenberg ſich im Jahre 1817 glücklich ſchätzen mußte, eine fünfprocentige
Anleihe in England zum Kurſe von kaum 72 abzuſchließen; zur ſelben
Zeit ſtanden die vierprocentigen Staatsſchuldſcheine an der Berliner Börſe
auf 71—73, ein Jahr darauf noch niedriger, bis auf 65. Und welch ein
Wagniß, dieſem erſchöpften Volke, das nach deutſcher Art fiscaliſchen Druck
ſtets ungeduldiger trug als polizeilichen Zwang, jetzt inmitten der allge-
meinen Verarmung neue Laſten aufzulegen. Der Kaufwerth der großen
Landgüter ſtand in den alten Provinzen kaum mehr halb ſo hoch als vor
dem Jahre 1806, in einzelnen Landestheilen war er auf ein Viertel herab-
geſunken. Als der König im Juni 1816 den für die Kriegsjahre gewährten
Indult endlich aufhob, mußte er gleichwohl den verſchuldeten Grundbeſitzern
in den öſtlichen Provinzen noch bis zum Jahre 1819, in Altpreußen ſogar
bis 1822, einige außerordentliche Zahlungserleichterungen bewilligen.
Das Aergſte blieb doch, daß Niemand die Lage des Staatshaushalts
überſah. Die Maſſen der Rückſtände, der Kriegsleiſtungen, der mannich-
fachen mit den neuen Provinzen übernommenen Verpflichtungen entzogen
ſich noch jeder Berechnung; noch drei Jahre ſpäter lagen allein bei der
Regierung des kleinen Bezirks Erfurt 2141 unbezahlte Rechnungen aus
der Kriegszeit. *) Graf Bülow erklärte ſich daher außer Stande, dem
Staatsrathe eine ins Einzelne gehende Veranſchlagung zu übergeben und
ſchätzte, ohne nähere Berechnung, das Deficit für das Jahr 1817 auf
1,9 Mill. Thlr. Die an das peinlich genaue altpreußiſche Rechnungsweſen
gewöhnten Commiſſionsmitglieder wollten der unwillkommenen Mittheilung
*) Motz, Denkſchrift über die Vereinfachung der Verwaltung. Erfurt 29. Juni 1820.
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