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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.

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II. 3. Geistige Strömungen der ersten Friedensjahre.
dumpfen Schlummer der Kaiserzeit seine geistige Arbeit wieder auf. Das
Buch der Frau von Stael über Deutschland, das die napoleonischen
Censoren als eine Beleidigung des nationalen Stolzes zurückgewiesen hat-
ten, kam jetzt in Jedermanns Hände, warb überall Anhänger für die
deutschen Ideen, die man hier in Bausch und Bogen als Romantik be-
zeichnete. Die Herrschaft der sensualistischen Philosophie brach zusam-
men vor der Kritik der Doktrinäre; ein dichter Kreis bedeutender Ta-
lente, Mignet, Guizot, die Thierrys eröffneten den Franzosen das Ver-
ständniß der historischen Welt. Das Zeitalter Ludwigs XIV., das selbst
den radikalen Denkern des achtzehnten Jahrhunderts noch als die Epoche
classischer Formenschönheit gegolten hatte, begann sein Ansehen zu ver-
lieren, und bald erhob sich eine neue Dichterschule, welche Frankreich
von dem Banne der akademischen Regeln befreite, also daß Victor Hugo
von seinem Volke mit einiger Wahrheit sagen konnte: die Romantik ist
in der Literatur, was der Liberalismus in der Politik. Noch stärker und
unmittelbarer war der Gedankenaustausch zwischen Deutschland und Eng-
land; die Deutschen zahlten jetzt den Briten heim, was sie einst von
Shakespeare und Sterne empfangen. Walter Scott, der fruchtbarste und
beliebteste Dichter des Zeitalters, ging bei Bürger und Goethe in die
Schule und schöpfte aus dem tiefen Borne der Sagen und Volkslieder,
welchen die Deutschen der Welt erschlossen hatten; durch seine historischen
Romane wurden die breiten Massen der europäischen Lesewelt erst für
die romantischen Ideale gewonnen. Auch einige Italiener, Manzoni vor
Allen, lenkten in die Bahn der neuen Dichtung ein; zur unbestrittenen
Herrschaft freilich konnte die romantische Poesie in diesem halb-antiken
Volke ebenso wenig gelangen, wie einst die nordische Kunstform der Gothik.

Ueberall erwachten die Geister. In Deutschland selbst erschien der
Reichthum dieser fruchtbaren Epoche minder auffällig, als in den Nachbar-
landen; denn die classische Zeit unserer Dichtung war kaum erst vorüber,
die große Mehrzahl der jungen Poeten nahm sich neben den Heroen jener
großen Tage wie ein Geschlecht von Epigonen aus. Um so mächtiger und
fruchtbarer entfaltete sich die schöpferische Kraft des deutschen Genius auf
dem Gebiete der Wissenschaft. Fast gleichzeitig ließen Savigny, die Grimms,
Boeckh, Lachmann, Bopp, Diez, Ritter ihre grundlegenden Schriften er-
scheinen, während Niebuhr, die Humboldts, Eichhorn, Creuzer, Gottfried
Hermann auf ihren eingeschlagenen Wegen rüstig weiterschritten. Unauf-
haltsam fluthete der Strom neuer Gedanken dahin. Es war ein Gedränge
von reichen Talenten wie einst, da Klopstock den jungen Tag der deutschen
Dichtung heraufführte. Und wie vormals die Bahnbrecher unserer Poesie,
so erschien auch dies neue Gelehrtengeschlecht ganz durchglüht von un-
schuldiger jugendlicher Begeisterung, von einem lauteren Ehrgeiz, der auf
der Welt nichts suchte als die Seligkeit der Erkenntniß und die Mehrung
deutschen Ruhmes durch die Thaten der freien Forschung.

II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.
dumpfen Schlummer der Kaiſerzeit ſeine geiſtige Arbeit wieder auf. Das
Buch der Frau von Staël über Deutſchland, das die napoleoniſchen
Cenſoren als eine Beleidigung des nationalen Stolzes zurückgewieſen hat-
ten, kam jetzt in Jedermanns Hände, warb überall Anhänger für die
deutſchen Ideen, die man hier in Bauſch und Bogen als Romantik be-
zeichnete. Die Herrſchaft der ſenſualiſtiſchen Philoſophie brach zuſam-
men vor der Kritik der Doktrinäre; ein dichter Kreis bedeutender Ta-
lente, Mignet, Guizot, die Thierrys eröffneten den Franzoſen das Ver-
ſtändniß der hiſtoriſchen Welt. Das Zeitalter Ludwigs XIV., das ſelbſt
den radikalen Denkern des achtzehnten Jahrhunderts noch als die Epoche
claſſiſcher Formenſchönheit gegolten hatte, begann ſein Anſehen zu ver-
lieren, und bald erhob ſich eine neue Dichterſchule, welche Frankreich
von dem Banne der akademiſchen Regeln befreite, alſo daß Victor Hugo
von ſeinem Volke mit einiger Wahrheit ſagen konnte: die Romantik iſt
in der Literatur, was der Liberalismus in der Politik. Noch ſtärker und
unmittelbarer war der Gedankenaustauſch zwiſchen Deutſchland und Eng-
land; die Deutſchen zahlten jetzt den Briten heim, was ſie einſt von
Shakeſpeare und Sterne empfangen. Walter Scott, der fruchtbarſte und
beliebteſte Dichter des Zeitalters, ging bei Bürger und Goethe in die
Schule und ſchöpfte aus dem tiefen Borne der Sagen und Volkslieder,
welchen die Deutſchen der Welt erſchloſſen hatten; durch ſeine hiſtoriſchen
Romane wurden die breiten Maſſen der europäiſchen Leſewelt erſt für
die romantiſchen Ideale gewonnen. Auch einige Italiener, Manzoni vor
Allen, lenkten in die Bahn der neuen Dichtung ein; zur unbeſtrittenen
Herrſchaft freilich konnte die romantiſche Poeſie in dieſem halb-antiken
Volke ebenſo wenig gelangen, wie einſt die nordiſche Kunſtform der Gothik.

Ueberall erwachten die Geiſter. In Deutſchland ſelbſt erſchien der
Reichthum dieſer fruchtbaren Epoche minder auffällig, als in den Nachbar-
landen; denn die claſſiſche Zeit unſerer Dichtung war kaum erſt vorüber,
die große Mehrzahl der jungen Poeten nahm ſich neben den Heroen jener
großen Tage wie ein Geſchlecht von Epigonen aus. Um ſo mächtiger und
fruchtbarer entfaltete ſich die ſchöpferiſche Kraft des deutſchen Genius auf
dem Gebiete der Wiſſenſchaft. Faſt gleichzeitig ließen Savigny, die Grimms,
Boeckh, Lachmann, Bopp, Diez, Ritter ihre grundlegenden Schriften er-
ſcheinen, während Niebuhr, die Humboldts, Eichhorn, Creuzer, Gottfried
Hermann auf ihren eingeſchlagenen Wegen rüſtig weiterſchritten. Unauf-
haltſam fluthete der Strom neuer Gedanken dahin. Es war ein Gedränge
von reichen Talenten wie einſt, da Klopſtock den jungen Tag der deutſchen
Dichtung heraufführte. Und wie vormals die Bahnbrecher unſerer Poeſie,
ſo erſchien auch dies neue Gelehrtengeſchlecht ganz durchglüht von un-
ſchuldiger jugendlicher Begeiſterung, von einem lauteren Ehrgeiz, der auf
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[8/0022] II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre. dumpfen Schlummer der Kaiſerzeit ſeine geiſtige Arbeit wieder auf. Das Buch der Frau von Staël über Deutſchland, das die napoleoniſchen Cenſoren als eine Beleidigung des nationalen Stolzes zurückgewieſen hat- ten, kam jetzt in Jedermanns Hände, warb überall Anhänger für die deutſchen Ideen, die man hier in Bauſch und Bogen als Romantik be- zeichnete. Die Herrſchaft der ſenſualiſtiſchen Philoſophie brach zuſam- men vor der Kritik der Doktrinäre; ein dichter Kreis bedeutender Ta- lente, Mignet, Guizot, die Thierrys eröffneten den Franzoſen das Ver- ſtändniß der hiſtoriſchen Welt. Das Zeitalter Ludwigs XIV., das ſelbſt den radikalen Denkern des achtzehnten Jahrhunderts noch als die Epoche claſſiſcher Formenſchönheit gegolten hatte, begann ſein Anſehen zu ver- lieren, und bald erhob ſich eine neue Dichterſchule, welche Frankreich von dem Banne der akademiſchen Regeln befreite, alſo daß Victor Hugo von ſeinem Volke mit einiger Wahrheit ſagen konnte: die Romantik iſt in der Literatur, was der Liberalismus in der Politik. Noch ſtärker und unmittelbarer war der Gedankenaustauſch zwiſchen Deutſchland und Eng- land; die Deutſchen zahlten jetzt den Briten heim, was ſie einſt von Shakeſpeare und Sterne empfangen. Walter Scott, der fruchtbarſte und beliebteſte Dichter des Zeitalters, ging bei Bürger und Goethe in die Schule und ſchöpfte aus dem tiefen Borne der Sagen und Volkslieder, welchen die Deutſchen der Welt erſchloſſen hatten; durch ſeine hiſtoriſchen Romane wurden die breiten Maſſen der europäiſchen Leſewelt erſt für die romantiſchen Ideale gewonnen. Auch einige Italiener, Manzoni vor Allen, lenkten in die Bahn der neuen Dichtung ein; zur unbeſtrittenen Herrſchaft freilich konnte die romantiſche Poeſie in dieſem halb-antiken Volke ebenſo wenig gelangen, wie einſt die nordiſche Kunſtform der Gothik. Ueberall erwachten die Geiſter. In Deutſchland ſelbſt erſchien der Reichthum dieſer fruchtbaren Epoche minder auffällig, als in den Nachbar- landen; denn die claſſiſche Zeit unſerer Dichtung war kaum erſt vorüber, die große Mehrzahl der jungen Poeten nahm ſich neben den Heroen jener großen Tage wie ein Geſchlecht von Epigonen aus. Um ſo mächtiger und fruchtbarer entfaltete ſich die ſchöpferiſche Kraft des deutſchen Genius auf dem Gebiete der Wiſſenſchaft. Faſt gleichzeitig ließen Savigny, die Grimms, Boeckh, Lachmann, Bopp, Diez, Ritter ihre grundlegenden Schriften er- ſcheinen, während Niebuhr, die Humboldts, Eichhorn, Creuzer, Gottfried Hermann auf ihren eingeſchlagenen Wegen rüſtig weiterſchritten. Unauf- haltſam fluthete der Strom neuer Gedanken dahin. Es war ein Gedränge von reichen Talenten wie einſt, da Klopſtock den jungen Tag der deutſchen Dichtung heraufführte. Und wie vormals die Bahnbrecher unſerer Poeſie, ſo erſchien auch dies neue Gelehrtengeſchlecht ganz durchglüht von un- ſchuldiger jugendlicher Begeiſterung, von einem lauteren Ehrgeiz, der auf der Welt nichts ſuchte als die Seligkeit der Erkenntniß und die Mehrung deutſchen Ruhmes durch die Thaten der freien Forſchung.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 8. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/22>, abgerufen am 21.11.2024.