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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.

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II. 5. Die Wiederherstellung des preußischen Staates.
Provinzial-Landwehrcorps unter der Aufsicht der Provinzialstände. Mit
verdächtigem Eifer griff namentlich der polnische Adel diesen Gedanken auf.
"Ohne Nationalität ist die Landwehr unausführbar" -- so hieß es in
wiederholten Eingaben des Herrn v. Bojanowsky und anderer Grundherren
Posens; gewähre der König dem Großherzogthum eine selbständige Land-
wehr, so würden die polnischen Edelleute freudig zu den Fahnen eilen.*)

Als man mit der Ausführung des Wehrgesetzes begann, zeigte sich
wider Erwarten am Rhein der geringste Widerstand: die kleinen Leute
dort begrüßten die kurze Dienstzeit als eine Erleichterung nach der harten
napoleonischen Conscription, auch die höheren Stände ertrugen die Wehr-
pflicht ohne Murren, weil sie der Idee der allgemeinen Rechtsgleichheit
entsprach. Um so lauter lärmten die vormals bevorrechteten Klassen im
Osten: die cantonfreien großen Städte, der stolze Adel von Neuvorpommern
und Sachsen. Dreimal baten die Stadtverordneten von Berlin trotzig um
Wiederherstellung der alten Militärfreiheit ihrer Commune, bis der König
drohte die Namen der Unterzeichner in den Zeitungen zu veröffentlichen;
und als im Sommer 1817 die Breslauer Landwehr den Fahneneid schwören
sollte, da brachen gar Straßenunruhen aus, an denen freilich das Ungeschick
einzelner Beamten und die altberüchtigte Rauflust des Breslauer Pöbels
mehr Antheil hatten als die Widersetzlichkeit der Wehrmänner. Nur die
Macht der absoluten Krone konnte sich durch dies Gestrüpp des Wider-
spruchs einen Weg bahnen und die Grundlagen der neuen Heeresver-
fassung für Deutschland retten; ein allgemeiner preußischer Landtag, in
solchem Augenblicke berufen, hätte ohne Zweifel sofort den Kampf gegen die
allgemeine Wehrpflicht begonnen.

Beim Fortschreiten des Werks ergaben sich indeß ernste technische
Schwierigkeiten, welche alle Zweifel und Bedenken des Auslandes zu be-
stätigen schienen. Schon die Anschaffung der Waffenvorräthe für die Land-
wehr konnte bei dem trostlosen Zustande der Finanzen nur langsam ge-
lingen. Für das erste Aufgebot hatte Boyen in beständigem Kampfe mit
dem Finanzminister endlich die nöthigen Mittel gewonnen, so daß im
December 1819 an dem vorgeschriebenen Waffenbestande nur noch 8415
Gewehre fehlten; viele Kreise statteten ihre Wehrmänner freiwillig mit
Seitengewehren und Uhlanen-Czapkas aus. Aber für das zweite Aufge-
bot war noch fast gar nichts geschehen, ihm fehlten von 174,080 Gewehren
noch 135,559.**)

Dieselbe Noth verschuldete auch, daß die Stärke des stehenden Heeres
von vornherein zu niedrig bemessen wurde. Das Wehrgesetz hatte verspro-
chen, die Zahl der Linientruppen werde sich nach den jedesmaligen Staats-
verhältnissen richten. Die ergänzende neue Landwehrordnung vom 21. Nov.

*) Klewiz, Bericht aus Posen 24. Sept. 1817.
**) Waffenrapport der Landwehr vom December 1819.

II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.
Provinzial-Landwehrcorps unter der Aufſicht der Provinzialſtände. Mit
verdächtigem Eifer griff namentlich der polniſche Adel dieſen Gedanken auf.
„Ohne Nationalität iſt die Landwehr unausführbar“ — ſo hieß es in
wiederholten Eingaben des Herrn v. Bojanowsky und anderer Grundherren
Poſens; gewähre der König dem Großherzogthum eine ſelbſtändige Land-
wehr, ſo würden die polniſchen Edelleute freudig zu den Fahnen eilen.*)

Als man mit der Ausführung des Wehrgeſetzes begann, zeigte ſich
wider Erwarten am Rhein der geringſte Widerſtand: die kleinen Leute
dort begrüßten die kurze Dienſtzeit als eine Erleichterung nach der harten
napoleoniſchen Conſcription, auch die höheren Stände ertrugen die Wehr-
pflicht ohne Murren, weil ſie der Idee der allgemeinen Rechtsgleichheit
entſprach. Um ſo lauter lärmten die vormals bevorrechteten Klaſſen im
Oſten: die cantonfreien großen Städte, der ſtolze Adel von Neuvorpommern
und Sachſen. Dreimal baten die Stadtverordneten von Berlin trotzig um
Wiederherſtellung der alten Militärfreiheit ihrer Commune, bis der König
drohte die Namen der Unterzeichner in den Zeitungen zu veröffentlichen;
und als im Sommer 1817 die Breslauer Landwehr den Fahneneid ſchwören
ſollte, da brachen gar Straßenunruhen aus, an denen freilich das Ungeſchick
einzelner Beamten und die altberüchtigte Raufluſt des Breslauer Pöbels
mehr Antheil hatten als die Widerſetzlichkeit der Wehrmänner. Nur die
Macht der abſoluten Krone konnte ſich durch dies Geſtrüpp des Wider-
ſpruchs einen Weg bahnen und die Grundlagen der neuen Heeresver-
faſſung für Deutſchland retten; ein allgemeiner preußiſcher Landtag, in
ſolchem Augenblicke berufen, hätte ohne Zweifel ſofort den Kampf gegen die
allgemeine Wehrpflicht begonnen.

Beim Fortſchreiten des Werks ergaben ſich indeß ernſte techniſche
Schwierigkeiten, welche alle Zweifel und Bedenken des Auslandes zu be-
ſtätigen ſchienen. Schon die Anſchaffung der Waffenvorräthe für die Land-
wehr konnte bei dem troſtloſen Zuſtande der Finanzen nur langſam ge-
lingen. Für das erſte Aufgebot hatte Boyen in beſtändigem Kampfe mit
dem Finanzminiſter endlich die nöthigen Mittel gewonnen, ſo daß im
December 1819 an dem vorgeſchriebenen Waffenbeſtande nur noch 8415
Gewehre fehlten; viele Kreiſe ſtatteten ihre Wehrmänner freiwillig mit
Seitengewehren und Uhlanen-Czapkas aus. Aber für das zweite Aufge-
bot war noch faſt gar nichts geſchehen, ihm fehlten von 174,080 Gewehren
noch 135,559.**)

Dieſelbe Noth verſchuldete auch, daß die Stärke des ſtehenden Heeres
von vornherein zu niedrig bemeſſen wurde. Das Wehrgeſetz hatte verſpro-
chen, die Zahl der Linientruppen werde ſich nach den jedesmaligen Staats-
verhältniſſen richten. Die ergänzende neue Landwehrordnung vom 21. Nov.

*) Klewiz, Bericht aus Poſen 24. Sept. 1817.
**) Waffenrapport der Landwehr vom December 1819.
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[226/0240] II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates. Provinzial-Landwehrcorps unter der Aufſicht der Provinzialſtände. Mit verdächtigem Eifer griff namentlich der polniſche Adel dieſen Gedanken auf. „Ohne Nationalität iſt die Landwehr unausführbar“ — ſo hieß es in wiederholten Eingaben des Herrn v. Bojanowsky und anderer Grundherren Poſens; gewähre der König dem Großherzogthum eine ſelbſtändige Land- wehr, ſo würden die polniſchen Edelleute freudig zu den Fahnen eilen. *) Als man mit der Ausführung des Wehrgeſetzes begann, zeigte ſich wider Erwarten am Rhein der geringſte Widerſtand: die kleinen Leute dort begrüßten die kurze Dienſtzeit als eine Erleichterung nach der harten napoleoniſchen Conſcription, auch die höheren Stände ertrugen die Wehr- pflicht ohne Murren, weil ſie der Idee der allgemeinen Rechtsgleichheit entſprach. Um ſo lauter lärmten die vormals bevorrechteten Klaſſen im Oſten: die cantonfreien großen Städte, der ſtolze Adel von Neuvorpommern und Sachſen. Dreimal baten die Stadtverordneten von Berlin trotzig um Wiederherſtellung der alten Militärfreiheit ihrer Commune, bis der König drohte die Namen der Unterzeichner in den Zeitungen zu veröffentlichen; und als im Sommer 1817 die Breslauer Landwehr den Fahneneid ſchwören ſollte, da brachen gar Straßenunruhen aus, an denen freilich das Ungeſchick einzelner Beamten und die altberüchtigte Raufluſt des Breslauer Pöbels mehr Antheil hatten als die Widerſetzlichkeit der Wehrmänner. Nur die Macht der abſoluten Krone konnte ſich durch dies Geſtrüpp des Wider- ſpruchs einen Weg bahnen und die Grundlagen der neuen Heeresver- faſſung für Deutſchland retten; ein allgemeiner preußiſcher Landtag, in ſolchem Augenblicke berufen, hätte ohne Zweifel ſofort den Kampf gegen die allgemeine Wehrpflicht begonnen. Beim Fortſchreiten des Werks ergaben ſich indeß ernſte techniſche Schwierigkeiten, welche alle Zweifel und Bedenken des Auslandes zu be- ſtätigen ſchienen. Schon die Anſchaffung der Waffenvorräthe für die Land- wehr konnte bei dem troſtloſen Zuſtande der Finanzen nur langſam ge- lingen. Für das erſte Aufgebot hatte Boyen in beſtändigem Kampfe mit dem Finanzminiſter endlich die nöthigen Mittel gewonnen, ſo daß im December 1819 an dem vorgeſchriebenen Waffenbeſtande nur noch 8415 Gewehre fehlten; viele Kreiſe ſtatteten ihre Wehrmänner freiwillig mit Seitengewehren und Uhlanen-Czapkas aus. Aber für das zweite Aufge- bot war noch faſt gar nichts geſchehen, ihm fehlten von 174,080 Gewehren noch 135,559. **) Dieſelbe Noth verſchuldete auch, daß die Stärke des ſtehenden Heeres von vornherein zu niedrig bemeſſen wurde. Das Wehrgeſetz hatte verſpro- chen, die Zahl der Linientruppen werde ſich nach den jedesmaligen Staats- verhältniſſen richten. Die ergänzende neue Landwehrordnung vom 21. Nov. *) Klewiz, Bericht aus Poſen 24. Sept. 1817. **) Waffenrapport der Landwehr vom December 1819.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 226. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/240>, abgerufen am 24.11.2024.