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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.

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II. 6. Süddeutsche Verfassungskämpfe.
Leibeigenschaftsgefälle aufgehoben und die Grundherren dafür entschädigt
worden, eine Denkmünze erinnerte noch an diese befreiende That des
Hauses Nassau; und jetzt trat der Herzog, der willenlos seinem herrischen
Minister folgte, plötzlich mit dem Verlangen hervor: die Landeskasse solle
ihm 140,000 Fl. jährlich bezahlen für die längst aufgehobenen Leibeigen-
schaftsgefälle des Kammerguts, das er sich soeben erst durch einen Macht-
spruch angeeignet hatte! Der Freiherr vom Stein, der von seinem Schlosse
Nassau an der Lahn dies Treiben aus der Nähe betrachten konnte, fand
kaum Worte genug um seine Verachtung auszudrücken: "die Zeit wird
kommen, wo dieser Frevel bestraft wird und die Vorsehung ein strenges Ge-
richt über die Frevler hält; ich habe daran nicht den mindesten Zweifel."

Im März 1818 wurde der Landtag endlich einberufen, und er be-
gann sogleich mit einem Auftritt, der die ganze Armseligkeit dieses Be-
amtenthums an den Tag brachte: mit der Ausschließung Steins. Als
preußischer Unterthan konnte der Freiherr den Eid, welcher den Mit-
gliedern der ersten Kammer abverlangt wurde, nicht ohne Vorbehalt
leisten; die Regierung aber rührte keine Hand um durch ein geringfügiges
Zugeständniß dies Formbedenken zu beseitigen, sie ließ es geschehen, daß
der erste Mann des Landes aus der Kammer ausschied. Was hätte er
auch hier leisten können, in dem widerlichen Gezänk um die Domänen
und den unersättlichen Geldbeutel des Landesvaters? Die Stände folgten
bald dem Beispiel der Altwürttemberger und verbissen sich in einen un-
fruchtbaren Rechtsstreit; wie jene setzten sie Unrecht gegen Unrecht, indem
sie alle Domänen für Staatsgut erklären wollten. So währte es noch
fast zwanzig Jahre, bis der Landtag dem Herzog einen Theil seiner Geld-
forderung bewilligte; die Rechtsfrage aber ist niemals, so lange dies Herzog-
thum bestand, vollständig erledigt worden. Inzwischen regierte Marschall
nach seiner alten Weise wohlgemuth weiter und entschied Alles was ihm
beliebte durch Verordnungen; bis zum Jahre 1848 wurden dem Landtage
nur sechs einigermaßen wichtige Gesetze vorgelegt. Gleichwohl blickte der
Nassauer im Hochgefühle seiner constitutionellen Freiheit mitleidig auf die
preußische Knechtschaft hernieder. --

Später als die übrigen süddeutschen Territorien gelangte Hessen-
Darmstadt zum Abschluß seiner Verfassung, das künstlichste unter den
Staatsgebilden des Rheinbunds. Das buntgemischte Nassauer Land bildete
immerhin ein zusammenhängendes Gebiet; die Landschaften aber, welche
jetzt den Namen des Großherzogthums Hessen und bei Rhein empfingen,
lagen in zwei größeren und einer nur wenigen Eingeweihten bekannten
Anzahl kleiner Stücke zerstreut vom württembergischen Neckarthale bis
hinein ins westphälische Gebirge. Zumal in der Frankfurter Gegend,
wo das Großherzogthum mit vier anderen Staaten zusammenstieß, ent-
faltete sich eine reiche Mannichfaltigkeit abenteuerlicher Grenzlinien, welche
der Bundesstadt die Gunst aller Strolche Mitteldeutschlands verschaffte:

II. 6. Süddeutſche Verfaſſungskämpfe.
Leibeigenſchaftsgefälle aufgehoben und die Grundherren dafür entſchädigt
worden, eine Denkmünze erinnerte noch an dieſe befreiende That des
Hauſes Naſſau; und jetzt trat der Herzog, der willenlos ſeinem herriſchen
Miniſter folgte, plötzlich mit dem Verlangen hervor: die Landeskaſſe ſolle
ihm 140,000 Fl. jährlich bezahlen für die längſt aufgehobenen Leibeigen-
ſchaftsgefälle des Kammerguts, das er ſich ſoeben erſt durch einen Macht-
ſpruch angeeignet hatte! Der Freiherr vom Stein, der von ſeinem Schloſſe
Naſſau an der Lahn dies Treiben aus der Nähe betrachten konnte, fand
kaum Worte genug um ſeine Verachtung auszudrücken: „die Zeit wird
kommen, wo dieſer Frevel beſtraft wird und die Vorſehung ein ſtrenges Ge-
richt über die Frevler hält; ich habe daran nicht den mindeſten Zweifel.“

Im März 1818 wurde der Landtag endlich einberufen, und er be-
gann ſogleich mit einem Auftritt, der die ganze Armſeligkeit dieſes Be-
amtenthums an den Tag brachte: mit der Ausſchließung Steins. Als
preußiſcher Unterthan konnte der Freiherr den Eid, welcher den Mit-
gliedern der erſten Kammer abverlangt wurde, nicht ohne Vorbehalt
leiſten; die Regierung aber rührte keine Hand um durch ein geringfügiges
Zugeſtändniß dies Formbedenken zu beſeitigen, ſie ließ es geſchehen, daß
der erſte Mann des Landes aus der Kammer ausſchied. Was hätte er
auch hier leiſten können, in dem widerlichen Gezänk um die Domänen
und den unerſättlichen Geldbeutel des Landesvaters? Die Stände folgten
bald dem Beiſpiel der Altwürttemberger und verbiſſen ſich in einen un-
fruchtbaren Rechtsſtreit; wie jene ſetzten ſie Unrecht gegen Unrecht, indem
ſie alle Domänen für Staatsgut erklären wollten. So währte es noch
faſt zwanzig Jahre, bis der Landtag dem Herzog einen Theil ſeiner Geld-
forderung bewilligte; die Rechtsfrage aber iſt niemals, ſo lange dies Herzog-
thum beſtand, vollſtändig erledigt worden. Inzwiſchen regierte Marſchall
nach ſeiner alten Weiſe wohlgemuth weiter und entſchied Alles was ihm
beliebte durch Verordnungen; bis zum Jahre 1848 wurden dem Landtage
nur ſechs einigermaßen wichtige Geſetze vorgelegt. Gleichwohl blickte der
Naſſauer im Hochgefühle ſeiner conſtitutionellen Freiheit mitleidig auf die
preußiſche Knechtſchaft hernieder. —

Später als die übrigen ſüddeutſchen Territorien gelangte Heſſen-
Darmſtadt zum Abſchluß ſeiner Verfaſſung, das künſtlichſte unter den
Staatsgebilden des Rheinbunds. Das buntgemiſchte Naſſauer Land bildete
immerhin ein zuſammenhängendes Gebiet; die Landſchaften aber, welche
jetzt den Namen des Großherzogthums Heſſen und bei Rhein empfingen,
lagen in zwei größeren und einer nur wenigen Eingeweihten bekannten
Anzahl kleiner Stücke zerſtreut vom württembergiſchen Neckarthale bis
hinein ins weſtphäliſche Gebirge. Zumal in der Frankfurter Gegend,
wo das Großherzogthum mit vier anderen Staaten zuſammenſtieß, ent-
faltete ſich eine reiche Mannichfaltigkeit abenteuerlicher Grenzlinien, welche
der Bundesſtadt die Gunſt aller Strolche Mitteldeutſchlands verſchaffte:

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[378/0392] II. 6. Süddeutſche Verfaſſungskämpfe. Leibeigenſchaftsgefälle aufgehoben und die Grundherren dafür entſchädigt worden, eine Denkmünze erinnerte noch an dieſe befreiende That des Hauſes Naſſau; und jetzt trat der Herzog, der willenlos ſeinem herriſchen Miniſter folgte, plötzlich mit dem Verlangen hervor: die Landeskaſſe ſolle ihm 140,000 Fl. jährlich bezahlen für die längſt aufgehobenen Leibeigen- ſchaftsgefälle des Kammerguts, das er ſich ſoeben erſt durch einen Macht- ſpruch angeeignet hatte! Der Freiherr vom Stein, der von ſeinem Schloſſe Naſſau an der Lahn dies Treiben aus der Nähe betrachten konnte, fand kaum Worte genug um ſeine Verachtung auszudrücken: „die Zeit wird kommen, wo dieſer Frevel beſtraft wird und die Vorſehung ein ſtrenges Ge- richt über die Frevler hält; ich habe daran nicht den mindeſten Zweifel.“ Im März 1818 wurde der Landtag endlich einberufen, und er be- gann ſogleich mit einem Auftritt, der die ganze Armſeligkeit dieſes Be- amtenthums an den Tag brachte: mit der Ausſchließung Steins. Als preußiſcher Unterthan konnte der Freiherr den Eid, welcher den Mit- gliedern der erſten Kammer abverlangt wurde, nicht ohne Vorbehalt leiſten; die Regierung aber rührte keine Hand um durch ein geringfügiges Zugeſtändniß dies Formbedenken zu beſeitigen, ſie ließ es geſchehen, daß der erſte Mann des Landes aus der Kammer ausſchied. Was hätte er auch hier leiſten können, in dem widerlichen Gezänk um die Domänen und den unerſättlichen Geldbeutel des Landesvaters? Die Stände folgten bald dem Beiſpiel der Altwürttemberger und verbiſſen ſich in einen un- fruchtbaren Rechtsſtreit; wie jene ſetzten ſie Unrecht gegen Unrecht, indem ſie alle Domänen für Staatsgut erklären wollten. So währte es noch faſt zwanzig Jahre, bis der Landtag dem Herzog einen Theil ſeiner Geld- forderung bewilligte; die Rechtsfrage aber iſt niemals, ſo lange dies Herzog- thum beſtand, vollſtändig erledigt worden. Inzwiſchen regierte Marſchall nach ſeiner alten Weiſe wohlgemuth weiter und entſchied Alles was ihm beliebte durch Verordnungen; bis zum Jahre 1848 wurden dem Landtage nur ſechs einigermaßen wichtige Geſetze vorgelegt. Gleichwohl blickte der Naſſauer im Hochgefühle ſeiner conſtitutionellen Freiheit mitleidig auf die preußiſche Knechtſchaft hernieder. — Später als die übrigen ſüddeutſchen Territorien gelangte Heſſen- Darmſtadt zum Abſchluß ſeiner Verfaſſung, das künſtlichſte unter den Staatsgebilden des Rheinbunds. Das buntgemiſchte Naſſauer Land bildete immerhin ein zuſammenhängendes Gebiet; die Landſchaften aber, welche jetzt den Namen des Großherzogthums Heſſen und bei Rhein empfingen, lagen in zwei größeren und einer nur wenigen Eingeweihten bekannten Anzahl kleiner Stücke zerſtreut vom württembergiſchen Neckarthale bis hinein ins weſtphäliſche Gebirge. Zumal in der Frankfurter Gegend, wo das Großherzogthum mit vier anderen Staaten zuſammenſtieß, ent- faltete ſich eine reiche Mannichfaltigkeit abenteuerlicher Grenzlinien, welche der Bundesſtadt die Gunſt aller Strolche Mitteldeutſchlands verſchaffte:

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 378. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/392>, abgerufen am 22.11.2024.