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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.

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II. 7. Die Burschenschaft.
Max die Augen schloß, war Kurfürst Friedrich der Weise das Haupt
unseres Fürstenstandes, der Führer der Reformpartei im Reiche, und es
lag in seiner Hand, der Nation ein deutsches, ein evangelisches Kaiser-
thum zu schaffen; er aber wies die Krone zurück, denn "die Raben wollen
einen Geier haben". Seinen beiden Nachfolgern bot eine seltene Gunst
des Glückes wieder und wieder die Gelegenheit das Versäumte nachzu-
holen. Auf jedem Reichstage blickte das Volk erwartungsvoll nach dem
Pfauenfederhelmbusch der Ernestiner. Bei dem Protest von Speyer, bei
der Uebergabe der Augsburger Confession, überall wo es nur gilt ein
Zeugniß abzulegen für das Wort Gottes, da stehen sie "wohl auf dem
Plan" und bewähren ihren ehrenfesten Wahlspruch: "gradaus giebt einen
guten Renner." In ihrem Lande bildet sich die erste evangelische Landes-
kirche, unzertrennlich verwächst ihr Name mit allen großen Erinnerungen
des Protestantismus. Doch über die passiven Tugenden der Standhaf-
tigkeit und Treue reicht ihre Begabung nicht hinaus. Der einzige Ent-
schluß, der retten kann, der Entschluß zum offenen Kampfe wider die
spanische Fremdherrschaft wird in gewissenhafter Bedachtsamkeit und träger
Thatenscheu verschoben und verschoben, bis endlich die beispiellose poli-
tische Unfähigkeit des phlegmatischen Zauderers Johann Friedrich der über-
legenen Staatskunst der Habsburger und der Albertinischen Vettern kläg-
lich erliegt.

Kaum ein Menschenalter nach jener kleinmüthigen Entsagung Kur-
fürst Friedrichs bekommen seine Enkel selber die scharfen Fänge des his-
panischen Geiers zu spüren; der Kurhut mitsammt den alten wettinischen
Stammlanden geht an die Albertiner verloren, und die Vormacht der deut-
schen Protestanten trägt aus dem schmalkaldischen Kriege statt der Lorbeeren
des Helden nur die Märtyrerkrone des Bekenners davon. Ein unheim-
licher Anblick, wie die gedemüthigte glorreiche Dynastie nunmehr, nach
einem schwächlichen Versuche der Wiedererhebung, sich so gelassen in die
neuen kümmerlichen Verhältnisse findet und, jedes politischen Gedankens
baar, ganz befangen in kleinbürgerlichen Hausvatersorgen, die geretteten
Trümmer ihrer alten Macht durch eine endlose Reihe von Theilungen und
Mutschirungen so lange zerstückelt, bis sie schließlich auf die unterste Stufe
des deutschen Fürstenstandes hinabsinkt. Auch die in Thüringen abge-
fundenen Nebenlinien der Albertiner verfallen der gleichen Verblendung.
Immer neue Linien entstehen und verschwinden wieder, die thüringischen
Lande sind in ewiger Bewegung wie die walzenden Grundstücke einer
Dorfflur; in anderthalb Jahrhunderten wechselt die Herrschaft Römhild
fünfmal ihren Herrn, mit jeder neuen Theilung verwirren und verfitzen
sich die Grenzen, in Ruhla scheidet ein Bach mitten in der Dorfstraße
weimarisches und gothaisches Gebiet, und der Jenenser Student kann auf
einer kurzen Nachmittagswanderung leicht mit der Polizei von drei oder
vier Landesherren in Händel gerathen.

II. 7. Die Burſchenſchaft.
Max die Augen ſchloß, war Kurfürſt Friedrich der Weiſe das Haupt
unſeres Fürſtenſtandes, der Führer der Reformpartei im Reiche, und es
lag in ſeiner Hand, der Nation ein deutſches, ein evangeliſches Kaiſer-
thum zu ſchaffen; er aber wies die Krone zurück, denn „die Raben wollen
einen Geier haben“. Seinen beiden Nachfolgern bot eine ſeltene Gunſt
des Glückes wieder und wieder die Gelegenheit das Verſäumte nachzu-
holen. Auf jedem Reichstage blickte das Volk erwartungsvoll nach dem
Pfauenfederhelmbuſch der Erneſtiner. Bei dem Proteſt von Speyer, bei
der Uebergabe der Augsburger Confeſſion, überall wo es nur gilt ein
Zeugniß abzulegen für das Wort Gottes, da ſtehen ſie „wohl auf dem
Plan“ und bewähren ihren ehrenfeſten Wahlſpruch: „gradaus giebt einen
guten Renner.“ In ihrem Lande bildet ſich die erſte evangeliſche Landes-
kirche, unzertrennlich verwächſt ihr Name mit allen großen Erinnerungen
des Proteſtantismus. Doch über die paſſiven Tugenden der Standhaf-
tigkeit und Treue reicht ihre Begabung nicht hinaus. Der einzige Ent-
ſchluß, der retten kann, der Entſchluß zum offenen Kampfe wider die
ſpaniſche Fremdherrſchaft wird in gewiſſenhafter Bedachtſamkeit und träger
Thatenſcheu verſchoben und verſchoben, bis endlich die beiſpielloſe poli-
tiſche Unfähigkeit des phlegmatiſchen Zauderers Johann Friedrich der über-
legenen Staatskunſt der Habsburger und der Albertiniſchen Vettern kläg-
lich erliegt.

Kaum ein Menſchenalter nach jener kleinmüthigen Entſagung Kur-
fürſt Friedrichs bekommen ſeine Enkel ſelber die ſcharfen Fänge des his-
paniſchen Geiers zu ſpüren; der Kurhut mitſammt den alten wettiniſchen
Stammlanden geht an die Albertiner verloren, und die Vormacht der deut-
ſchen Proteſtanten trägt aus dem ſchmalkaldiſchen Kriege ſtatt der Lorbeeren
des Helden nur die Märtyrerkrone des Bekenners davon. Ein unheim-
licher Anblick, wie die gedemüthigte glorreiche Dynaſtie nunmehr, nach
einem ſchwächlichen Verſuche der Wiedererhebung, ſich ſo gelaſſen in die
neuen kümmerlichen Verhältniſſe findet und, jedes politiſchen Gedankens
baar, ganz befangen in kleinbürgerlichen Hausvaterſorgen, die geretteten
Trümmer ihrer alten Macht durch eine endloſe Reihe von Theilungen und
Mutſchirungen ſo lange zerſtückelt, bis ſie ſchließlich auf die unterſte Stufe
des deutſchen Fürſtenſtandes hinabſinkt. Auch die in Thüringen abge-
fundenen Nebenlinien der Albertiner verfallen der gleichen Verblendung.
Immer neue Linien entſtehen und verſchwinden wieder, die thüringiſchen
Lande ſind in ewiger Bewegung wie die walzenden Grundſtücke einer
Dorfflur; in anderthalb Jahrhunderten wechſelt die Herrſchaft Römhild
fünfmal ihren Herrn, mit jeder neuen Theilung verwirren und verfitzen
ſich die Grenzen, in Ruhla ſcheidet ein Bach mitten in der Dorfſtraße
weimariſches und gothaiſches Gebiet, und der Jenenſer Student kann auf
einer kurzen Nachmittagswanderung leicht mit der Polizei von drei oder
vier Landesherren in Händel gerathen.

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[396/0410] II. 7. Die Burſchenſchaft. Max die Augen ſchloß, war Kurfürſt Friedrich der Weiſe das Haupt unſeres Fürſtenſtandes, der Führer der Reformpartei im Reiche, und es lag in ſeiner Hand, der Nation ein deutſches, ein evangeliſches Kaiſer- thum zu ſchaffen; er aber wies die Krone zurück, denn „die Raben wollen einen Geier haben“. Seinen beiden Nachfolgern bot eine ſeltene Gunſt des Glückes wieder und wieder die Gelegenheit das Verſäumte nachzu- holen. Auf jedem Reichstage blickte das Volk erwartungsvoll nach dem Pfauenfederhelmbuſch der Erneſtiner. Bei dem Proteſt von Speyer, bei der Uebergabe der Augsburger Confeſſion, überall wo es nur gilt ein Zeugniß abzulegen für das Wort Gottes, da ſtehen ſie „wohl auf dem Plan“ und bewähren ihren ehrenfeſten Wahlſpruch: „gradaus giebt einen guten Renner.“ In ihrem Lande bildet ſich die erſte evangeliſche Landes- kirche, unzertrennlich verwächſt ihr Name mit allen großen Erinnerungen des Proteſtantismus. Doch über die paſſiven Tugenden der Standhaf- tigkeit und Treue reicht ihre Begabung nicht hinaus. Der einzige Ent- ſchluß, der retten kann, der Entſchluß zum offenen Kampfe wider die ſpaniſche Fremdherrſchaft wird in gewiſſenhafter Bedachtſamkeit und träger Thatenſcheu verſchoben und verſchoben, bis endlich die beiſpielloſe poli- tiſche Unfähigkeit des phlegmatiſchen Zauderers Johann Friedrich der über- legenen Staatskunſt der Habsburger und der Albertiniſchen Vettern kläg- lich erliegt. Kaum ein Menſchenalter nach jener kleinmüthigen Entſagung Kur- fürſt Friedrichs bekommen ſeine Enkel ſelber die ſcharfen Fänge des his- paniſchen Geiers zu ſpüren; der Kurhut mitſammt den alten wettiniſchen Stammlanden geht an die Albertiner verloren, und die Vormacht der deut- ſchen Proteſtanten trägt aus dem ſchmalkaldiſchen Kriege ſtatt der Lorbeeren des Helden nur die Märtyrerkrone des Bekenners davon. Ein unheim- licher Anblick, wie die gedemüthigte glorreiche Dynaſtie nunmehr, nach einem ſchwächlichen Verſuche der Wiedererhebung, ſich ſo gelaſſen in die neuen kümmerlichen Verhältniſſe findet und, jedes politiſchen Gedankens baar, ganz befangen in kleinbürgerlichen Hausvaterſorgen, die geretteten Trümmer ihrer alten Macht durch eine endloſe Reihe von Theilungen und Mutſchirungen ſo lange zerſtückelt, bis ſie ſchließlich auf die unterſte Stufe des deutſchen Fürſtenſtandes hinabſinkt. Auch die in Thüringen abge- fundenen Nebenlinien der Albertiner verfallen der gleichen Verblendung. Immer neue Linien entſtehen und verſchwinden wieder, die thüringiſchen Lande ſind in ewiger Bewegung wie die walzenden Grundſtücke einer Dorfflur; in anderthalb Jahrhunderten wechſelt die Herrſchaft Römhild fünfmal ihren Herrn, mit jeder neuen Theilung verwirren und verfitzen ſich die Grenzen, in Ruhla ſcheidet ein Bach mitten in der Dorfſtraße weimariſches und gothaiſches Gebiet, und der Jenenſer Student kann auf einer kurzen Nachmittagswanderung leicht mit der Polizei von drei oder vier Landesherren in Händel gerathen.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 396. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/410>, abgerufen am 22.11.2024.