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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.

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II. 7. Die Burschenschaft.
Reiz, welcher der hagebüchenen Grobheit des Berliner Turnplatzes gänzlich
fehlte. Wie manchem jungen Niederdeutschen ist auf den Burschenfahrten
zum Fuchsthurm und zur Leuchtenburg die Poesie des deutschen Berg-
landes zum ersten male aufgegangen. Wie dankbar und froh begeistert
empfingen die Jenenser Studenten einst im Theater zu Weimar die
Dramen Schillers aus erster Hand. Unter der Fremdherrschaft zeigte
die Universität ihre deutsche Gesinnung so unerschrocken, daß Napoleon
einmal nahe daran war, dies verhaßte Nest der Ideologen und Radoteurs
verbrennen zu lassen.

Es konnte nicht fehlen, daß diese vaterländische Begeisterung nur noch
heißer aufflammte, als jetzt die jungen Krieger in die Hörsäle zurückkehrten,
Mancher mit dem eisernen Kreuze geschmückt, fast Alle noch wie berauscht
von dem Heldenzorne des großen Kampfes, voll glühenden Hasses gegen "die
äußeren und inneren Unterdrücker des Vaterlandes" -- weitaus die beste
Studenten-Generation seit langen Jahren, aber leider schon zu ernst für
die harmlose Träumerei und die überschwängliche Freundschaft, welche dem
Studentenleben seinen eigenthümlichen Zauber geben. Die dringend nöthige
Reform der verwilderten akademischen Sitten konnte nur von einem
Geschlechte ausgehen, das so viel reifer war als der Durchschnitt der Stu-
denten vordem; und doch hatte diese ritterliche Jugend in zwei schweren
Kriegen schon zu viel erlebt um sich wieder in die bescheidene Rolle des
Schülers finden zu können; die Gefahr hochmüthiger Ueberhebung, die
ohnehin in der Zeit lag, war für sie fast unentrinnbar. Aehnliche Re-
gungen christlich-germanischer Schwärmerei waren schon einmal auf den
Universitäten aufgetaucht, in den Tagen des literarischen Sturmes und
Dranges, als die jungen Poeten des Hainbundes für Klopstocks Messias
und die Helden des Teutoburger Waldes sich begeisterten und den Sänger
des Polsters, Wieland feierlich im Bilde verbrannten. Was damals nur
engere Kreise bewegte, war jetzt ein Gemeingut von Tausenden.

Wie verächtlich mußte das verrottete Verbindungswesen der Univer-
sitäten dem abgehärteten, sittenstrengen neuen Geschlechte erscheinen. Von
der Barbarei der alten Renommisten war nur zu Vieles noch übrig,
obwohl die Humanität der neuen literarischen Bildung auch die akade-
mischen Sitten etwas verfeinert hatte. Die Völlerei und die Unzucht
zeigten sich oft mit einer Frechheit, die uns heute schon unmöglich scheint,
das Hazardspiel ward überall, selbst auf offner Straße getrieben, und die
unausrottbare deutsche Rauflust ging so weit über alles erlaubte Maß
hinaus, daß die 350 Mann starke Jenenser Studentenschaft im Sommer
1815 in einer einzigen Woche 147 Duelle ausfocht. Die frischen volks-
thümlichen Trink- und Wanderlieder der sangeslustigen alten Zeiten waren
fast verschollen; man sang zumeist schmutzige Zoten oder die weinerlichen
Ergüsse einer platten Sentimentalität, die einer längst überwundenen
literarischen Epoche angehörte. Mit den Rosenkreutzern und den anderen

II. 7. Die Burſchenſchaft.
Reiz, welcher der hagebüchenen Grobheit des Berliner Turnplatzes gänzlich
fehlte. Wie manchem jungen Niederdeutſchen iſt auf den Burſchenfahrten
zum Fuchsthurm und zur Leuchtenburg die Poeſie des deutſchen Berg-
landes zum erſten male aufgegangen. Wie dankbar und froh begeiſtert
empfingen die Jenenſer Studenten einſt im Theater zu Weimar die
Dramen Schillers aus erſter Hand. Unter der Fremdherrſchaft zeigte
die Univerſität ihre deutſche Geſinnung ſo unerſchrocken, daß Napoleon
einmal nahe daran war, dies verhaßte Neſt der Ideologen und Radoteurs
verbrennen zu laſſen.

Es konnte nicht fehlen, daß dieſe vaterländiſche Begeiſterung nur noch
heißer aufflammte, als jetzt die jungen Krieger in die Hörſäle zurückkehrten,
Mancher mit dem eiſernen Kreuze geſchmückt, faſt Alle noch wie berauſcht
von dem Heldenzorne des großen Kampfes, voll glühenden Haſſes gegen „die
äußeren und inneren Unterdrücker des Vaterlandes“ — weitaus die beſte
Studenten-Generation ſeit langen Jahren, aber leider ſchon zu ernſt für
die harmloſe Träumerei und die überſchwängliche Freundſchaft, welche dem
Studentenleben ſeinen eigenthümlichen Zauber geben. Die dringend nöthige
Reform der verwilderten akademiſchen Sitten konnte nur von einem
Geſchlechte ausgehen, das ſo viel reifer war als der Durchſchnitt der Stu-
denten vordem; und doch hatte dieſe ritterliche Jugend in zwei ſchweren
Kriegen ſchon zu viel erlebt um ſich wieder in die beſcheidene Rolle des
Schülers finden zu können; die Gefahr hochmüthiger Ueberhebung, die
ohnehin in der Zeit lag, war für ſie faſt unentrinnbar. Aehnliche Re-
gungen chriſtlich-germaniſcher Schwärmerei waren ſchon einmal auf den
Univerſitäten aufgetaucht, in den Tagen des literariſchen Sturmes und
Dranges, als die jungen Poeten des Hainbundes für Klopſtocks Meſſias
und die Helden des Teutoburger Waldes ſich begeiſterten und den Sänger
des Polſters, Wieland feierlich im Bilde verbrannten. Was damals nur
engere Kreiſe bewegte, war jetzt ein Gemeingut von Tauſenden.

Wie verächtlich mußte das verrottete Verbindungsweſen der Univer-
ſitäten dem abgehärteten, ſittenſtrengen neuen Geſchlechte erſcheinen. Von
der Barbarei der alten Renommiſten war nur zu Vieles noch übrig,
obwohl die Humanität der neuen literariſchen Bildung auch die akade-
miſchen Sitten etwas verfeinert hatte. Die Völlerei und die Unzucht
zeigten ſich oft mit einer Frechheit, die uns heute ſchon unmöglich ſcheint,
das Hazardſpiel ward überall, ſelbſt auf offner Straße getrieben, und die
unausrottbare deutſche Raufluſt ging ſo weit über alles erlaubte Maß
hinaus, daß die 350 Mann ſtarke Jenenſer Studentenſchaft im Sommer
1815 in einer einzigen Woche 147 Duelle ausfocht. Die friſchen volks-
thümlichen Trink- und Wanderlieder der ſangesluſtigen alten Zeiten waren
faſt verſchollen; man ſang zumeiſt ſchmutzige Zoten oder die weinerlichen
Ergüſſe einer platten Sentimentalität, die einer längſt überwundenen
literariſchen Epoche angehörte. Mit den Roſenkreutzern und den anderen

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[412/0426] II. 7. Die Burſchenſchaft. Reiz, welcher der hagebüchenen Grobheit des Berliner Turnplatzes gänzlich fehlte. Wie manchem jungen Niederdeutſchen iſt auf den Burſchenfahrten zum Fuchsthurm und zur Leuchtenburg die Poeſie des deutſchen Berg- landes zum erſten male aufgegangen. Wie dankbar und froh begeiſtert empfingen die Jenenſer Studenten einſt im Theater zu Weimar die Dramen Schillers aus erſter Hand. Unter der Fremdherrſchaft zeigte die Univerſität ihre deutſche Geſinnung ſo unerſchrocken, daß Napoleon einmal nahe daran war, dies verhaßte Neſt der Ideologen und Radoteurs verbrennen zu laſſen. Es konnte nicht fehlen, daß dieſe vaterländiſche Begeiſterung nur noch heißer aufflammte, als jetzt die jungen Krieger in die Hörſäle zurückkehrten, Mancher mit dem eiſernen Kreuze geſchmückt, faſt Alle noch wie berauſcht von dem Heldenzorne des großen Kampfes, voll glühenden Haſſes gegen „die äußeren und inneren Unterdrücker des Vaterlandes“ — weitaus die beſte Studenten-Generation ſeit langen Jahren, aber leider ſchon zu ernſt für die harmloſe Träumerei und die überſchwängliche Freundſchaft, welche dem Studentenleben ſeinen eigenthümlichen Zauber geben. Die dringend nöthige Reform der verwilderten akademiſchen Sitten konnte nur von einem Geſchlechte ausgehen, das ſo viel reifer war als der Durchſchnitt der Stu- denten vordem; und doch hatte dieſe ritterliche Jugend in zwei ſchweren Kriegen ſchon zu viel erlebt um ſich wieder in die beſcheidene Rolle des Schülers finden zu können; die Gefahr hochmüthiger Ueberhebung, die ohnehin in der Zeit lag, war für ſie faſt unentrinnbar. Aehnliche Re- gungen chriſtlich-germaniſcher Schwärmerei waren ſchon einmal auf den Univerſitäten aufgetaucht, in den Tagen des literariſchen Sturmes und Dranges, als die jungen Poeten des Hainbundes für Klopſtocks Meſſias und die Helden des Teutoburger Waldes ſich begeiſterten und den Sänger des Polſters, Wieland feierlich im Bilde verbrannten. Was damals nur engere Kreiſe bewegte, war jetzt ein Gemeingut von Tauſenden. Wie verächtlich mußte das verrottete Verbindungsweſen der Univer- ſitäten dem abgehärteten, ſittenſtrengen neuen Geſchlechte erſcheinen. Von der Barbarei der alten Renommiſten war nur zu Vieles noch übrig, obwohl die Humanität der neuen literariſchen Bildung auch die akade- miſchen Sitten etwas verfeinert hatte. Die Völlerei und die Unzucht zeigten ſich oft mit einer Frechheit, die uns heute ſchon unmöglich ſcheint, das Hazardſpiel ward überall, ſelbſt auf offner Straße getrieben, und die unausrottbare deutſche Raufluſt ging ſo weit über alles erlaubte Maß hinaus, daß die 350 Mann ſtarke Jenenſer Studentenſchaft im Sommer 1815 in einer einzigen Woche 147 Duelle ausfocht. Die friſchen volks- thümlichen Trink- und Wanderlieder der ſangesluſtigen alten Zeiten waren faſt verſchollen; man ſang zumeiſt ſchmutzige Zoten oder die weinerlichen Ergüſſe einer platten Sentimentalität, die einer längſt überwundenen literariſchen Epoche angehörte. Mit den Roſenkreutzern und den anderen

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 412. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/426>, abgerufen am 22.11.2024.