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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.

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Rühs und Saul Ascher.
Feldzuge, daß bei Belle Alliance allein 55 jüdische Offiziere gefallen seien,
während die preußische Armee dort insgesammt nur 24 Offiziere verloren
hatte. Ein Dritter, der es offenbar wohl meinte, richtete ein "Freund-
liches Wort an die Christen" und meinte gemüthlich: die eigensinnigen
jüdischen Köpfe würden doch nicht von ihren alten Bräuchen lassen; am
Klügsten also, wenn die Christen um der Eintracht willen ihren Sonntag
auf den Sabbath verlegten. Der jüdische Lehrer Heß in Frankfurt er-
klärte alle seine christlichen Gegner einfach für Phantasten oder für Werk-
zeuge eines gemeinen Eigennutzes.*)

Einem solchen Hochmuth gegenüber konnten auch in dem anderen
Lager ungerechte und gehässige Worte nicht ausbleiben; indeß bewahrte
die große Mehrzahl der christlichen Schriften eine würdige Haltung. Die
Ideen Lessings hatten doch in der Stille ihren Weg gemacht; so grausam
wie einst Fichte wollte jetzt kein Deutscher mehr über die Juden schreiben.
Die Verständigeren gingen fast alle von dem Grundsatze aus, daß der Aufent-
halt im Lande allein noch keinen Anspruch auf das Bürgerrecht gebe; sie
wollten den Israeliten wohl die Gleichheit auf dem Gebiete des Privat-
rechts zugestehen, aber nicht -- oder doch jetzt noch nicht -- das volle
Maß der staatsbürgerlichen Rechte. Und so hart diese Meinung den ge-
bildeten Juden erscheinen mußte, die Masse ihres Stammes befand sich
damals unbestreitbar noch in einem verwahrlosten Zustande, der die
vollständige Emancipation nicht rathsam erscheinen ließ; richtete doch
Einer von ihnen selber an die deutschen Fürsten die wehmüthige Bitte,
durch Verbesserung des jüdischen Schulwesens "meine Nation aus der
geistigen Trübheit zu erheben".**) Das preußische Gesetz von 1812, das
den Juden, mit Ausnahme der Zulassung zu den Staatsämtern, alle
staatsbürgerlichen Rechte gewährte, ging über die engherzigen Vorschriften
der meisten anderen deutschen Gesetze weit hinaus und bezeichnete unge-
fähr das Maß dessen, was die Liberalen jener Zeit vorläufig für erreich-
bar hielten; Hardenberg selbst, der Gönner Koreffs, der sich der Juden
überall gütig annahm, wollte diese Grenze durchaus nicht überschreiten.

In diesem Sinne etwa sprach sich der Historiker Rühs aus, der den
Reigen der antijüdischen Schriften eröffnete; ihm folgten Fries und Luden.
Aber auch das radikale Oppositionsblatt schloß sich der Ansicht dieser christ-
lich-germanischen Gelehrten an, desgleichen Paulus, der Führer des Ratio-
nalismus, und Klüber, der weltlich liberale Publicist. Unter den nam-

*) Saul Ascher, Germanomanie, Berlin 1815, Seite 67. Bemerkungen zu den
Schriften der Prof. Rühs und Fries über die Juden, Fraukfurt 1816, Seite 4. Ein
freundliches Wort an die Christen von einem Juden, o. O. 1816. M. Heß, Freimüthige
Prüfung der Schrift von Rühs, Frankfurt 1816.
**) Patriotischer Aufruf eines treuen Israeliten an die Fürsten Deutschlands, Bü-
dingen 1816.
27*

Rühs und Saul Aſcher.
Feldzuge, daß bei Belle Alliance allein 55 jüdiſche Offiziere gefallen ſeien,
während die preußiſche Armee dort insgeſammt nur 24 Offiziere verloren
hatte. Ein Dritter, der es offenbar wohl meinte, richtete ein „Freund-
liches Wort an die Chriſten“ und meinte gemüthlich: die eigenſinnigen
jüdiſchen Köpfe würden doch nicht von ihren alten Bräuchen laſſen; am
Klügſten alſo, wenn die Chriſten um der Eintracht willen ihren Sonntag
auf den Sabbath verlegten. Der jüdiſche Lehrer Heß in Frankfurt er-
klärte alle ſeine chriſtlichen Gegner einfach für Phantaſten oder für Werk-
zeuge eines gemeinen Eigennutzes.*)

Einem ſolchen Hochmuth gegenüber konnten auch in dem anderen
Lager ungerechte und gehäſſige Worte nicht ausbleiben; indeß bewahrte
die große Mehrzahl der chriſtlichen Schriften eine würdige Haltung. Die
Ideen Leſſings hatten doch in der Stille ihren Weg gemacht; ſo grauſam
wie einſt Fichte wollte jetzt kein Deutſcher mehr über die Juden ſchreiben.
Die Verſtändigeren gingen faſt alle von dem Grundſatze aus, daß der Aufent-
halt im Lande allein noch keinen Anſpruch auf das Bürgerrecht gebe; ſie
wollten den Israeliten wohl die Gleichheit auf dem Gebiete des Privat-
rechts zugeſtehen, aber nicht — oder doch jetzt noch nicht — das volle
Maß der ſtaatsbürgerlichen Rechte. Und ſo hart dieſe Meinung den ge-
bildeten Juden erſcheinen mußte, die Maſſe ihres Stammes befand ſich
damals unbeſtreitbar noch in einem verwahrloſten Zuſtande, der die
vollſtändige Emancipation nicht rathſam erſcheinen ließ; richtete doch
Einer von ihnen ſelber an die deutſchen Fürſten die wehmüthige Bitte,
durch Verbeſſerung des jüdiſchen Schulweſens „meine Nation aus der
geiſtigen Trübheit zu erheben“.**) Das preußiſche Geſetz von 1812, das
den Juden, mit Ausnahme der Zulaſſung zu den Staatsämtern, alle
ſtaatsbürgerlichen Rechte gewährte, ging über die engherzigen Vorſchriften
der meiſten anderen deutſchen Geſetze weit hinaus und bezeichnete unge-
fähr das Maß deſſen, was die Liberalen jener Zeit vorläufig für erreich-
bar hielten; Hardenberg ſelbſt, der Gönner Koreffs, der ſich der Juden
überall gütig annahm, wollte dieſe Grenze durchaus nicht überſchreiten.

In dieſem Sinne etwa ſprach ſich der Hiſtoriker Rühs aus, der den
Reigen der antijüdiſchen Schriften eröffnete; ihm folgten Fries und Luden.
Aber auch das radikale Oppoſitionsblatt ſchloß ſich der Anſicht dieſer chriſt-
lich-germaniſchen Gelehrten an, desgleichen Paulus, der Führer des Ratio-
nalismus, und Klüber, der weltlich liberale Publiciſt. Unter den nam-

*) Saul Aſcher, Germanomanie, Berlin 1815, Seite 67. Bemerkungen zu den
Schriften der Prof. Rühs und Fries über die Juden, Fraukfurt 1816, Seite 4. Ein
freundliches Wort an die Chriſten von einem Juden, o. O. 1816. M. Heß, Freimüthige
Prüfung der Schrift von Rühs, Frankfurt 1816.
**) Patriotiſcher Aufruf eines treuen Israeliten an die Fürſten Deutſchlands, Bü-
dingen 1816.
27*
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[419/0433] Rühs und Saul Aſcher. Feldzuge, daß bei Belle Alliance allein 55 jüdiſche Offiziere gefallen ſeien, während die preußiſche Armee dort insgeſammt nur 24 Offiziere verloren hatte. Ein Dritter, der es offenbar wohl meinte, richtete ein „Freund- liches Wort an die Chriſten“ und meinte gemüthlich: die eigenſinnigen jüdiſchen Köpfe würden doch nicht von ihren alten Bräuchen laſſen; am Klügſten alſo, wenn die Chriſten um der Eintracht willen ihren Sonntag auf den Sabbath verlegten. Der jüdiſche Lehrer Heß in Frankfurt er- klärte alle ſeine chriſtlichen Gegner einfach für Phantaſten oder für Werk- zeuge eines gemeinen Eigennutzes. *) Einem ſolchen Hochmuth gegenüber konnten auch in dem anderen Lager ungerechte und gehäſſige Worte nicht ausbleiben; indeß bewahrte die große Mehrzahl der chriſtlichen Schriften eine würdige Haltung. Die Ideen Leſſings hatten doch in der Stille ihren Weg gemacht; ſo grauſam wie einſt Fichte wollte jetzt kein Deutſcher mehr über die Juden ſchreiben. Die Verſtändigeren gingen faſt alle von dem Grundſatze aus, daß der Aufent- halt im Lande allein noch keinen Anſpruch auf das Bürgerrecht gebe; ſie wollten den Israeliten wohl die Gleichheit auf dem Gebiete des Privat- rechts zugeſtehen, aber nicht — oder doch jetzt noch nicht — das volle Maß der ſtaatsbürgerlichen Rechte. Und ſo hart dieſe Meinung den ge- bildeten Juden erſcheinen mußte, die Maſſe ihres Stammes befand ſich damals unbeſtreitbar noch in einem verwahrloſten Zuſtande, der die vollſtändige Emancipation nicht rathſam erſcheinen ließ; richtete doch Einer von ihnen ſelber an die deutſchen Fürſten die wehmüthige Bitte, durch Verbeſſerung des jüdiſchen Schulweſens „meine Nation aus der geiſtigen Trübheit zu erheben“. **) Das preußiſche Geſetz von 1812, das den Juden, mit Ausnahme der Zulaſſung zu den Staatsämtern, alle ſtaatsbürgerlichen Rechte gewährte, ging über die engherzigen Vorſchriften der meiſten anderen deutſchen Geſetze weit hinaus und bezeichnete unge- fähr das Maß deſſen, was die Liberalen jener Zeit vorläufig für erreich- bar hielten; Hardenberg ſelbſt, der Gönner Koreffs, der ſich der Juden überall gütig annahm, wollte dieſe Grenze durchaus nicht überſchreiten. In dieſem Sinne etwa ſprach ſich der Hiſtoriker Rühs aus, der den Reigen der antijüdiſchen Schriften eröffnete; ihm folgten Fries und Luden. Aber auch das radikale Oppoſitionsblatt ſchloß ſich der Anſicht dieſer chriſt- lich-germaniſchen Gelehrten an, desgleichen Paulus, der Führer des Ratio- nalismus, und Klüber, der weltlich liberale Publiciſt. Unter den nam- *) Saul Aſcher, Germanomanie, Berlin 1815, Seite 67. Bemerkungen zu den Schriften der Prof. Rühs und Fries über die Juden, Fraukfurt 1816, Seite 4. Ein freundliches Wort an die Chriſten von einem Juden, o. O. 1816. M. Heß, Freimüthige Prüfung der Schrift von Rühs, Frankfurt 1816. **) Patriotiſcher Aufruf eines treuen Israeliten an die Fürſten Deutſchlands, Bü- dingen 1816. 27*

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 419. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/433>, abgerufen am 22.11.2024.