Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.II. 8. Der Aachener Congreß. kam Alexander diesen Anträgen entgegen; die Neigungen seines edlenHerzens gingen wieder wie so oft schon mit den Interessen der russischen Politik einträchtig Hand in Hand. Wenn der von Pozzo die Borgo völlig beherrschte Tuilerienhof in den hohen Rath Europas eintrat, so gebot der Czar in Wahrheit über zwei Stimmen und brauchte nur noch einen der drei anderen Höfe zu gewinnen, dann war ihm die Mehrheit, die Führerschaft im Welttheil gesichert. Eben deshalb erregten die Wünsche Richelieus in Wien, in Berlin und London ernste Bedenken, Metternich erklärte sie im ersten Schrecken für gänzlich unannehmbar.*) Die drei Höfe sahen dem Congresse mit lebhafter Besorgniß entgegen; sie wollten mindestens Pozzo selbst von dem Congresse fern halten und beschlossen daher in der Pariser Gesandtenconferenz, mit drei Stimmen gegen die eine Rußlands, daß die vier Gesandten während der Aachener Bera- thungen in Paris bleiben sollten. -- Da zeigte sich plötzlich in der Politik des Czaren eine auffällige, den *) Krusemarks Bericht, 20. Juni 1818.
II. 8. Der Aachener Congreß. kam Alexander dieſen Anträgen entgegen; die Neigungen ſeines edlenHerzens gingen wieder wie ſo oft ſchon mit den Intereſſen der ruſſiſchen Politik einträchtig Hand in Hand. Wenn der von Pozzo die Borgo völlig beherrſchte Tuilerienhof in den hohen Rath Europas eintrat, ſo gebot der Czar in Wahrheit über zwei Stimmen und brauchte nur noch einen der drei anderen Höfe zu gewinnen, dann war ihm die Mehrheit, die Führerſchaft im Welttheil geſichert. Eben deshalb erregten die Wünſche Richelieus in Wien, in Berlin und London ernſte Bedenken, Metternich erklärte ſie im erſten Schrecken für gänzlich unannehmbar.*) Die drei Höfe ſahen dem Congreſſe mit lebhafter Beſorgniß entgegen; ſie wollten mindeſtens Pozzo ſelbſt von dem Congreſſe fern halten und beſchloſſen daher in der Pariſer Geſandtenconferenz, mit drei Stimmen gegen die eine Rußlands, daß die vier Geſandten während der Aachener Bera- thungen in Paris bleiben ſollten. — Da zeigte ſich plötzlich in der Politik des Czaren eine auffällige, den *) Kruſemarks Bericht, 20. Juni 1818.
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II. 8. Der Aachener Congreß.
kam Alexander dieſen Anträgen entgegen; die Neigungen ſeines edlen
Herzens gingen wieder wie ſo oft ſchon mit den Intereſſen der ruſſiſchen
Politik einträchtig Hand in Hand. Wenn der von Pozzo die Borgo völlig
beherrſchte Tuilerienhof in den hohen Rath Europas eintrat, ſo gebot
der Czar in Wahrheit über zwei Stimmen und brauchte nur noch einen
der drei anderen Höfe zu gewinnen, dann war ihm die Mehrheit, die
Führerſchaft im Welttheil geſichert. Eben deshalb erregten die Wünſche
Richelieus in Wien, in Berlin und London ernſte Bedenken, Metternich
erklärte ſie im erſten Schrecken für gänzlich unannehmbar. *) Die drei
Höfe ſahen dem Congreſſe mit lebhafter Beſorgniß entgegen; ſie wollten
mindeſtens Pozzo ſelbſt von dem Congreſſe fern halten und beſchloſſen
daher in der Pariſer Geſandtenconferenz, mit drei Stimmen gegen die
eine Rußlands, daß die vier Geſandten während der Aachener Bera-
thungen in Paris bleiben ſollten. —
Da zeigte ſich plötzlich in der Politik des Czaren eine auffällige, den
fremden Mächten vorerſt noch räthſelhafte Aenderung. Noch ganz be-
rauſcht von ſeinen völkerbeglückenden Ideen war der erlauchte Vorkämpfer
des chriſtlichen Liberalismus ſoeben aus Polen zurückgekehrt; ſelbſt die
Verhandlungen des Warſchauer Reichstags, welche die unheilbare politiſche
Thorheit des polniſchen Adels ſogleich wieder an den Tag brachten, hatten
Alexanders frohe Zuverſicht nicht erſchüttert. Daheim erwartete ihn eine
neue Freude; ſeine zärtlich geliebte Schwägerin, Großfürſtin Charlotte, die
jetzt den Namen Alexandra Feodorowna führte, ſchenkte ihrem Gemahl im
April 1818 einen Sohn, den Thronerben des Hauſes Gottorp, Alexander II.
Einige Wochen nachher brach König Friedrich Wilhelm auf um ſein erſtes
Enkelkind zu begrüßen. Er freute ſich unterwegs an dem hellen Jubel
ſeiner treuen Oſtpreußen, die ihren König ſeit den ſchweren Königsberger
Zeiten zum erſten male wieder ſahen, und ward in Rußland mit orien-
taliſchem Prunk empfangen. Feſt folgte auf Feſt, die beiden Hauptſtädte
und die reichen Bojaren wetteiferten in Glanz und Pracht, in über-
ſchwänglichen Kundgebungen dynaſtiſcher Geſinnung. Und eben jetzt, mitten
im Rauſche der Freuden erhielt der Czar durch unanfechtbare geheime
Mittheilungen die Gewißheit, daß ſeine Gardeoffiziere während des Aufent-
halts in Frankreich nicht umſonſt von den verbotenen Früchten der revo-
lutionären Lehren gekoſtet hatten, daß an ſeinem eigenen Hofe ſchon ſeit
1816 einige demagogiſche Geheimbünde beſtanden, deren Anhang unauf-
haltſam wuchs. Es war der entſcheidende Augenblick ſeiner letzten Lebens-
jahre. Alſo er ſelbſt, der hochherzige Wohlthäter der Völker, den ſogar
die beſiegten Franzoſen als den Heiland des Welttheils feierten, ſah ſich
in ſeinem Hauſe von Rebellen und Verſchwörern umgeben, er wurde von
derſelben liberalen Partei, die ihn als ihren Beſchützer hätte ehren ſollen,
*) Kruſemarks Bericht, 20. Juni 1818.
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